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Kritik

es helfe der Menschheit nicht.

Hamburg

Ob man von der Ausgabe 3/2015 der Zeitschrift Akzente beglückt, verwirrt oder gelangweilt werden wird, lässt sich recht einfach vorhersagen. Die Frage entscheidet sich damit, wie man zum Literaturbegriff der Mitherausgeberin der aktuellen Nummer steht - niemand Geringerem als Herta Müller.

Seit kürzlich Jo Lendle die Zeitschrift Akzente übernommen hat, gibt es für jede Ausgabe eine_n andere_n Mitherausgeber_in, der_die eigene literarische Sensibilität und Haltungen einbringt. Für die Nummer 3/2015 ist das Herta Müller. Ist damit alles Notwendige gesagt? - Ja. Ist damit auch genug gesagt? - Nein.

... Gehen wir es anders an. Der Titel bzw. das Thema der Ausgabe lautet "Es gibt Wörter, die machen mit mir, was sie wollen". Im kurzen Vorwort steht dazu:

"Wir haben Schriftsteller gebeten, aufzuschreiben, welche Wörter mit ihnen machen, was sie wollen. Es ist kein Wunder, dass Georges-Arthur Goldschmidt dabei auf ein Wort des Exils verfiel, das auch Oskar Pastior umtrieb: Heimweh. Wir haben Texte versammelt, die die maßlose Macht der Wörter vor Augen führen - Gedichte vor allem, denn wo träte das einzelne Wort mächtiger auf als im Gedicht?"

(Wer nun auf diese Frage automatisch antwortet: "im Gesetzestext beispielsweise, oder in der Werbung"; oder wer sich durch sie gar aufgefordert fühlt, dieses oder jenes "Maß" für die "Macht der Wörter" anzubieten, wird sich in dieser Akzente-Nummer wohl gewissermaßen unwillkommen fühlen.)

Vier der versammelten Texte sind mit freiem Auge als Reaktionen ihrer Verfasser auf diese Bitte der Akzente-Herausgeber zu erkennen. Ob auch die anderen so zu lesen sind, sagt uns das Vorwort leider nicht. Auf unser eigenes Textverständnis verwiesen, dürfen wir vermuten, dass sie es nicht sind, oder: Nur in diesem einfachen Sinn sind, als jedes Gedicht "Wörter" beschreibt, die "etwas mit [jemandem] machen" - und wenn wir den passenden Literaturbegriff mitbringen, dann ist dieses "etwas" auch von ihnen, den Wörtern, determiniert (dh: "was sie wollen").

In drei Abschnitten - "Abschied ist so ein Wort", "Auf jenen Inseln" und "Wie tönt der Frühling" - versammeln Lendle und Müller Texte von nicht nur, aber vorwiegend international berühmten Autoren - in der Reihenfolge ihres Auftretens: Georges-Arthur Goldschmidt, Liao Yiwu, Müller selbst, Elke Erb, Péter Nádas, Herberto Helder, Thomas Lehr, Louis MacNeice, Walle Sayer, Charles Simic, Naomi Shihab Nye, Judith Kuckart, Bengt Emil Johnson, Les Murray; den Abschluss macht Patrick Mondianos thematisch gut passende Nobelpreisrede über die "Kunst der Erinnerung". Wir haben angesichts dieser geballten Ladung mittel- bis ganz großer Namen genau zwei Möglichkeiten: Wir können diese Namen mit den Texten mitrezipieren - dann lesen wir weite Teile dieser Akzente als Nachricht, welche Positionen gerade in diesem oder jenem Segment objektiv gelten. Oder wir lesen die vorhandenen Texte ohne Ansehen der Namen an der Seitenoberkante, lassen uns von nichts leiten als dem angebotenen Motiv der sich verselbständigenden Wörter. Was finden wir, wenn wir Letzteres tun? -

Die Texte von Goldschmidt, Erb, Müller und Nadas sind, als die vier schon erwähnten direkten Reaktionen auf die Frage nach den "Wörtern, die tun, was sie wollen", gewissermaßen unsere Leitsterne. Sie haben gemeinsam, dass sich in ihnen der Mechanismus, Kraft dessen in ihnen die Wörter mit dem jeweiligen Text-Ich umspringen, einhellig, rasch und unkontroversiell mit "Erinnerung" bezeichnet findet. Erinnerung an Alltage; Schlagworte vergangener Alltagsträgheiten entfalten sich, ggf. in ein Heute hinein, und stehen - das ist der deutlich sich durchziehende Subtext - den Zumutungen der Macht-Welt, Politik-Welt, Polizei-Welt gegenüber. An diesem Subtext ist manches schwierig, diskussionsbedürftig - doch der Gestus der Entfaltung aus dem Anekdotischen und ins Anekdotische zurück, der Sog des So, und So, und So, erschwert uns, zu fassen zu bekommen, was uns jetzt eigentlich gestört hat.

Ähnliches gilt für das lange Gedicht "Mein Gefängnis. Mein Tempel." von Liao Yiwu - wobei ich nach zweimaligem Lesen "für mich", wie man schlecht-neudeutsch sagt, beschlossen habe, diesen Eindruck dem Kontext der vier erwähnten anderen Texte anzulasten - es hat Wucht und Weite. Dass es, quasi en passant, leider auch die prinzipielle Gleichsetzung von Dachau und Bautzen, von Hitler, Stalin, Honecker beinhaltet, was natürlich als Debattenbeitrag für sich überhaupt nicht geht, verbuche ich folgendermaßen: (a) "Über das Dogma der Kirche kannst du diskutieren - über ein Kirchenfresko nicht." (b) Wer weiss, welche (evtl. unbedingt zum Verständnis nötigen) sprachlichen oder kulturellen Zwischentöne zwischen dem Chinesischen und dem Deutschen notwendigerweise verloren gehen? (c) Ja, doch, durchaus: Wenn man, der "Aufgabenstellung" des vorliegenden Heftes folgend, an Fragen der Erinnerung bloß anhand dieses oder jenes "Wortes" geht, das "macht, was es will", und wenn man diese einzige Instanz (sagen wir: freie Assoziation) dann bruchlos ernst nimmt - dann kann sowas 'bei rauskommen.

War sonst noch was? - Ja. Bei Nadas steht der Satz -

Du spürst in ihr den orgiastischen Atem des Weltalls.

- und erinnert uns aufs Erfreulichste daran, dass "Klotzen statt Kleckern" auch in der Dichtung vor gar nicht allzu langer Zeit noch die vorherrschende Herangehensweise war. Der Text von Judith Kuckart, "Ich habe nicht verstanden", eine überraschend geradlinige Short Story, scheint von ganz anderswo in den Kontext dieser Akzente-Nummer hereinzuragen, und irritiert produktiv. Les Murrays Gedichte "Ich schrieb ein kleines Haiku" und "Die Dreißiger" verfangen bei mir. Ich werde mir den entsprechenden Band im Original besorgen.

Ist jetzt genug gesagt? - Ja. 'Alles Notwendige' leider nicht mehr.

Herta Müller (Hg.) · Jo Lendle (Hg.)
Akzente 3 / 2015
Es gibt Wörter, die machen mit mir, was sie wollen
Hanser
2015 · 96 Seiten · 9,60 Euro
ISBN:
978-3-446-24960-8

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