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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Wittgensteins Krieg

Hamburg

Die Reihe Fröhliche Wissenschaft des Verlages Matthes und Seitz rückt so nach und nach an die Spitze meiner liebsten Lektüren. Kaum eine andere Schriftenreihe in den letzten Jahren, die mein Denken mehr abgelenkt und in Bewegung versetzt hätte. Der beste Text ist doch jener, der einen aus sicher geglaubten Positionen reißt.

Der Essay von Horst Peter Rauh Wittgensteins Mystik ist nicht gerade dazu angetan, mein Denken und mein Weltbild vollkommen umzukrempeln, aber er wirft doch Schlaglichter auf Momente, die ich bislang nicht gesehen habe, ja sogar aktiv missachtete. Und ich kann sagen, dass mich die Lektüre Wittgensteins begleitet, seit ich mich aus dem Dunstkreis der Adorno Anbetung herausgearbeitete habe und im Positivismus nicht mehr die Geißel der Menschheit sehe.

Man kann sich mit Philosophie rein textimmanent beschäftigen, auslegend, radikal auf die Texte selbst bezogen, ohne auf die Lebensumstände der Autoren weiter einzugehen. Lediglich sachlich wissenschaftlich Auseinandersetzungen reflektieren, die sich um den reinen Gehalt der Schrift drehen. Ein wenig scheint Wittgensteins frühe Philosophie genau das zu fordern. Aber gleichzeitig schreibt Wittgenstein Briefe, die diese Forderung unterlaufen.

Rauhs Buch habe ich gewissermaßen eingeschoben, es stand, wenn man so will, nicht auf meiner Agenda. Aber die derzeit mediale Präsenz des ersten Weltkrieges und die Reflexion über dieses Ereignis starten Gedankenketten, denen man sehr schwer Herr wird. Verdrängen hilft nicht und so scheint mir es am besten sich ihnen offensiv zu stellen.

Ein Moment, der mir verstärkt in den Fokus rückte war, dass sich viele Autoren, deren Texte ich zu meinem persönlichen Kanon zähle, im Jahre 1914 wider alle Vernunft sich freiwillig zum Kriegsdienst meldeten.

Unter ihnen eben auch Ludwig Wittgenstein, der den ganzen Krieg hindurch an verschiedenen Stellen seinen Kriegsdienst versah, den er als seine Pflicht auffasste. Was für mich noch immer unbegreiflich ist: dass er während seines Kriegsdienstes am Tractatus logico-philosophicus arbeitete, jenem eher kristallinen Gebilde, das die Philosophie des 20. Jahrhunderts entscheidend prägen sollte. Vielleicht ist es ja so, dass man große Teile der zeitgenössischen Philosophie als Produkte des ersten Weltkrieges betrachten muss.

Ich maße mir nicht an, den Tractatus verstanden zu haben, aber seine beeindruckende Kargheit verleitete mich immer wieder dazu, ihn zu lesen. Und jene Kargheit und kristalline Struktur ist es wohl auch, die es mir sofort einleuchten ließen, ihn im Kontext von Mystik zu rezipieren.

Einer der berühmtesten Sätze dieses Werkes und darüber hinaus ist jener, dass man über das schweigen solle, worüber man nicht sprechen könne. Dieser Satz, der den abschließenden Punkt bildet, den Punkt Sieben und gleichzeitig in der Hierarchie der Sätze des Tractatus den höchsten Punkt einnimmt, bildet gewissermaßen den Ausgang von Rauhs Beschäftigung mit Wittgensteins Ethik. Er formuliert die Grenze, die logisch nicht überquert werden kann.

Ethik ergebe sich aus dem, was sprachlich nicht gefasst werden kann, aus einem Bereich also jenseits der Sprache, jenen, über denen man schweigen müsse. Und hier liegt demnach auch der Link zur Mystik.

Die Sprache selbst – Kraft ihrer bloßen Existenz ein Wunder – verweist in ihrer Suche nach Sinn ununterbrochen auf ihre eigenen Grenzen.

Rauh umkreist das Thema im Durchgang durch Wittgensteins Schriften und spürt Korrespondenzen auf zu Novalis, Kierkegaard und Kafka. Korrespondenzen, die einem sich nicht unbedingt aufdrängen, wenn man den Philosophen nicht durch eine religiöse Brille liest, die aber bei der Lektüre des Buches von Rauh plötzlich sehr naheliegend sind. Vor allem weil er Religion, wie Wittgenstein  auch, nicht konfessionell dogmatisch begreift, sondern formal auffasst.

Was er (Wittgenstein) in sich selbst nicht finden konnte, entdeckte er in der Gestalt des „Vollkommenen“. Als solchen titulierte er den Messias, der für ihn auch Herr der Sprache war.

Für mich hochinteressant ist eine von Rauh angerissene Debatte darüber, ob es sich bei Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen um Fragmente oder um eine Collage von Kurztexten handelt. Was hier ein wenig nach gattungsspezifischer Krümelkackerei klingt, hat einen wenig banalen Hintergrund. Während die Collage Disparates in ein System zwingt, geht das Fragment von so etwas wie einem Vollständigen aus und legt eben auch eine Nähe zur Romantik und damit zu Novalis nahe. Der Aphorismus wäre Momentaufnahme, ein isoliertes Blitzlicht. „Fragmente dagegen sind nicht Selbstgenügsam.“ Zitiert Rauh Manfred Frank.

Dieses kurze Buch verleitet also zum Denken in die verschiedensten Richtungen und sicher an der einen oder anderen Stelle auch zur Abwehr, vor allem dort, wo es den religiösen Kontext zu weit ins Zentrum rückt. Lohnenswert ist die Lektüre allemal.

Horst Dieter Rauh
Wittgensteins Mystik der Grenze
2 Abbildungen
Matthes & Seitz
2014 · 95 Seiten · 12,80 Euro
ISBN:
978-3-88221-397-3

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