Ein ganz persönliches Rokoko
Man hat zuweilen das Gefühl, neben der um bestimmte Verlage und Lesereihen versammelten, deutschsprachigen Lyrikszene versucht eine andere, eher verdeckt agierende Lyrikszene Fuß zu fassen. Schon in meiner Rezension zu Kristina Stanczewskis Liegt das Land noch blind wie Zucker wurde ich das Gefühl nicht los, dass manche Lyriker*innen einfach durchs Raster fallen, obgleich sie sprachlich enormes leisten.
Zugegeben: Judith Hennemanns Band Bauplan für etwas anderes ist ein sehr durchwachsenes Werk. Das liegt weniger an den Gedichten selber als vielmehr an der Tendenz, einen Lyrikband auf mehr als 100 Seiten anschwellen lassen zu wollen. Im Falle von Hennemann hätte man ruhig die Hälfte der Gedichte abdrucken können – und was für eine Hälfte das geworden wäre!
Die Autorin fährt mit einer Routine auf, die beeindruckend ist. Sehr sorgsam sind diese Gedichte gearbeitet, obwohl ihnen vieles vom eigenen Ballast im Weg steht. Bedeutungsschwanger würden manche behaupten, womit sie nicht so Unrecht hätten. Doch Hennemann findet immer wieder einen Ausweg aus dem Dickicht des daten-überfluteten Bildgewusels eines 21. Jahrhunderts:
„das keybord lässt den schwarm vögel vorbei
wir nehmen auf wolkenbänken platz dazwischen
zwängt sich zu spät gekommen breithüftiger bass
ein ohr in spanien das andere in new orleans
(und in den 70ern by the way) dazwischen 1euro-
jobbende engel. SETHI verzeichnet gesang (feind
selig) man sammelt sich barfuß auf tafelbergen
fußkalte synthies kärchern den keller gezupfte
strahlen blenden statt pyrotechnikern sonnen
brand, eine letzte kippe im markierten bereich“ (moshpit im kornkreis)
Was an dieser Bilderflut fasziniert ist der fahrende Rhythmus, der innerhalb der knappen Form sehr gut aufgeht. Manchmal aber verrennt sich die Autorin: Gedichte wie root cause analysis strotzen nur vor überbordenden Sprachbildern, die jedoch nicht wirklich hängebleiben, sondern im lyrisch generierten Wortwust untergehen. Ob der Text hier versucht, Algorithmen und Datenmengen zu simulieren, sei dahingestellt – es gelingt ihm nur am Rande. Auch die Auswahl der Themen in diesem Band ist von einer Bandbreite gespickt, die einem den Kopf verdreht. Bauplan ist hier nichts, vielmehr gleicht es einem Durch- und Nebeneinander, das der Brillanz mancher Gedichte einfach nicht gerecht wird. Eindeutig wird dies im Zyklus Der Albino unter den Nächten, in den die Autorin einfach zu viel reinpackt. Hier gilt einfach: weniger ist tatsächlich mehr.
Ersichtlich wird dies im sehr schmalen Zyklus Rekonstruktion eines Flugkörpers. Die vier ähnlich gebauten Gedichte umkreisen drei verschiedene Erdenzeitalter mit ihrer jeweiligen Ausprägung von fliegendem bzw. kriechendem Geschöpf. Leise und eindrücklich vollzieht sich die Verwandlung vom kriechenden Tiktaalik über beinahe fliegende Theropoden bis hin zur unbemannten, spähenden Talarion-Drohne. Das abschließende Gedicht dieses Zyklus IV Thanatos spiegelt meisterhaft den Abgrund wider, der sich zwischen Flugkörper und Fliegendem auftut:
„Zwischen Soldat und Zielobjekt liegen tausend
Kilometer und ein Rest Kaffee. Unter der Ober-
flächenspannung bewegt er sich kaum.
Das Flattern der Hände, ihre Schatten
auf der Tastatur.Auswählen, anklicken, senden.
Darüber eine Neonröhre, sirrende Insekten.“ (IV Thanatos)
Es ärgert einen förmlich, dass solche Gedichte unter vielen anderen begraben werden. Ein erfahrener Lektor hätte dem Band eine Entschlackungskur verpasst! Deshalb ärgert man sich auch doppelt, dass Autor*innen wie Hennemann oder Stanczewski nicht unter die Fittiche von guten Lyrikverlagen geraten. Verdient hätten sie es, zumal beide Autorinnen es auch schaffen, gesellschaftspolitisch äußerst relevante Themen in eine entschlackte, hochpoetische, handwerklich einwandfreie Sprache zu verpacken, ohne dabei in Plattitüden zu verfallen.
Auf kein Gedicht in Hennemanns Band fällt voriges Urteil treffender aus als auf das Langgedicht Nothalt für einen Gitarrenlauf, ein dichtes Panorama an Eindrücken und Bildern, denen eine direkte und zugleich sehr sinnliche Sprache entgegengestellt wird. Da das Gedicht sehr lang ist und für einen Ausschnitt zu schade, plädiere ich für Nothalt für einen Gitarrenlauf als Gedicht des Tages auf Fixpoetry, damit die Diskussion über die Lyrik aus der vermeintlich zweiten Reihe auch mal in die Gänge kommt.
Fixpoetry 2017
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben