Was, wenn man Jahre wartet und nur eine Leiche kehrt zurück?
Es gibt von Mal zu Mal Momente und Bücher, die wie ein Understatement daherkommen, um im Nachhinein mehr als nur einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Sie gleichen kleinen Naturereignissen, von denen man später gerne unter vorgehaltener Hand erzählt, ja sogar mit Adjektiven wie „wichtig“ oder gar „wegweisend“ bestückt. Ein solches Beispiel, dem man in letzter Zeit immer öfter begegnet, ist John Williams Roman, Stoner.
Der Inhalt des Buches ist mau, und sogar hartgesottene Fans amerikanischen Realismus – und zu diesen zähle ich mich definitiv nicht – runzeln die Stirn vor so viel Ereignislosigkeit und Weinerlichkeit. Das war die eine Seite. Auf der anderen Seite wird jeder, der dieses Buch gelesen hat, nicht drum herum kommen können, die Finesse und das brillante Handwerk, mit denen dieses Buch geschrieben wurde, zu bewundern.
In ähnlicher Weise verhält es sich mit Kristina Stanczewskis Debütband, Liegt das Land noch blind wie Zucker, wobei hier weitab des weltliterarischen Kosmos operiert wird. Das absolute Gegenteil ist der Fall. Hier schreibt jemand sowohl über eine Zeit als auch über Menschen, die von unserer schnelllebigen Filterblasen-Modewort-Gesellschaft entweder vergessen oder überrollt wurden. Bevor ich jedoch dazu komme, dürfen einige, diesen Band betreffende Dinge nicht unerwähnt bleiben.
Dieser Band ist fast fahrlässig gemacht. Die nette Aufmachung des Buches täuscht über die grobe Vernachlässigung der Gedichte im Inneren hinweg. Und diese Gedichte hätten durchaus einer ausgiebigen Führsorge bedurft. Ein einschlägiges Lektorat und einige Kürzungen – sprich, ein anderer Verlag! – hätten aus diesem Band wahrscheinlich jenes Ereignis gemacht, durch das die Zeitungsfeuilletonisten und Literaturkritiker vielleicht ihr für die zeitgenössische Lyrik verlorenes Augenlicht wiederbekämen.
Sicherlich wird niemand bei der ersten Lektüre dieses Buches „wegweisend“ rufen oder gar den sprachlichen Duktus einer neuen, avancierten Lyrikszene finden. Nicht einmal über die Autorin lässt sich im Internet was finden. Lediglich die Hinweise auf dem in der Edition Muschelkalk erschienen Band lassen erahnen, woher die Autorin und ihre eindrücklichen Bilder tiefster innerer und äußerer Verwahrlosung herrühren. Im Grunde aber sind diese Hinweise auch nicht wichtig. Vielmehr sind sie ein Vorteil für alle Leserinnen und Leser, die sich seit jeher die Frage stellen, was eigentlich in den ärmeren Teilen und Schichten Deutschlands – und die gibt es, oh ja! – vor sich geht.
„Die Straßenlampen haben Mützen auf,
die Straßenschilder tragen Stola, denn
gestern Abend kam der Schnee immer
von vorn, egal, um welche Ecke
man in welche Straße bog. Es ist
ein prächtiger Dezembermorgen
mit dem Sonnenstand von Mitte März.Im Wartebereich meiner Tafel-
anlaufstelle läuft das Radio –
in den Nachrichten hat die Agenda
Zwanzig-zehn Geburtstag und wird hochgelobt,
als meine Nummer aufgerufen wird.
Sie haben heut von hinten ange-
fangen, und ich hundertsechsundsiebzig bin
schon nach einer halben Stunde dran.In Bäckerstiegen gleich am Eingang
stehen Schokohasen abgezählt
für jedes Kind, das hier gemeldet ist.
In meinem Tafel-Pass steht eine Eins,
kein Angehöriger, kein Mehrbedarf.
Vielleicht bekomme ich ein Sträußchen
Osterglocken ab – als Frauenbonus.“ (Kälteeinbruch)
Nicht nur der Inhalt dieses Gedichts fällt auf. Auch beim Handwerklichen zeigt die Autorin wahres Geschick, indem sie viele unscheinbar daherkommende Passagen durchrhythmisiert. Das bibbern in der Kälte und die Wärme im Inneren einer Tafelanlaufstelle werden dadurch nochmals unterstrichen, die zum Teil herzensbrechenden Bilder bekommen ihre Tiefe und Schärfe.
Der Inhalt dieser Gedichte jedoch vermag es, bis ins Mark zu erschüttern.
„Auf dem Nachhauseweg vom Nervenarzt
steig´ ich zwei U-Bahnhöfe früher aus
und lauf´ die Müllerstraße runter, weil
die Sonne scheint und ich doch üben soll,
den freien Himmel zu ertragen.Weil ich üben will, den freien Himmel
zu ertragen, denn ich bin ein Beute-
tier – kein Beutetier – mit Beutetierge-
danken und würde gern durch Tunnel
huschen, statt im grellen Licht zu schreiten.Ich muss am Jobcenter vorbei, vor dem
zwei Bauarbeiter Winterlöcher
eckig fräsen und mit Asphalt füllen.
Die Flicken sehen aus wie frische Gräber –
schnell, auf die and´re Straßenseite!Hinter dem Migräneauge pocht es.
Voller Wackersteine ist mein Magen.
Mein Finger mit der Haut wie Pergament-
papier fängt irrsinnig zu jucken an.
Schnell, auf die and´re Straßenseite!“ (Frühlingsspaziergang)
Es sind tiefe Wunden, die die Autorin hier beschreibt. Nicht nur persönliche, sondern auch gesellschaftliche Wunden. Das macht diesen Band vielleicht nicht wegweisend, aber ungemein wichtig, vor allem im Hinblick auf die Rufe vieler, man hätte sie mit ihrem Elend alleingelassen. Was dieses Elend ist bzw. was es für eine Gesellschaft bedeuten kann, vergessen zu werden, hat Kristina Stanczewski in ihrem Debütband eindrücklich festgehalten.
„Zu meinem Stricktreff, vierzehntägig
montags im Café Zimt + Zucker,
kommt eine Frau, die nicht allein sein kann,
weil sie verschwindet, wenn kein Mensch
sie ansieht, mit ihr redet, ihre
Existenz bestätigt – dann rutscht sie
durch die Ritzen.
Seit einem Jahr strickt sie an einem Schal,
den man durch einen Ring zieh´n könnte,
so fein das Shetland-Lace-Gewebe.
Seit einem Jahr wartet sie auf die
Heimkehr ihres Marios aus Kabul,
weil ein Sarg doch keine Heimkehr ist.“ (Doch, doch, sie sind Gefallene)
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