Abnormität und Delikatesse
Bestimmte Wörter ziehen Mina schon als Kind an, als sie das Lexikon ihrer Eltern aufschlägt: Wörter wie ORDNUNG, STRAFE, DISZIPLIN. Jahre später werden sie ihr, in Variationen und Rekombinationen, in der Abkürzung BDSM wiederbegegnen: Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism.
Leona Stahlmann, die mit „Der Defekt“ einen ungewöhnlichen Debütroman über die Selbstfindung einer jungen Sadomasochistin vorgelegt hat, mag den Sammelbegriff nicht sonderlich, wie sie bereits letzten Herbst in ihrem Spiegel-Online-Artikel „Warum Sadomasochismus als sexuelle Identität anerkannt sein sollte“ erklärte. „BDSM“ würde ihre spezielle Liebens- und Begehrensform auf eine „deprimierende Technizität“ reduzieren. Doch wer Identitätspolitik betreibt, muss sich irgendwie bezeichnen (lassen) – so ziemlich alle auf dem LGBTQI-Spektrum angesiedelten Gruppierungen können ein Lied davon singen. Und die Hamburger Autorin (Jahrgang 1988) hat es sich ausdrücklich zum Ziel gesetzt, nicht nur gängige SM-Klischees zu dekonstruieren, sondern überdies der Gay-Pride-Regenbogenflagge einen schwarzen Streifen hinzuzufügen.
Kleine Ironie am Rande: Stahlmanns SPON-Artikel wurde mit dem Stock Photo einer jungen, weißen, perfekt geschminkten Frau in Leder-Handfesseln und Lederhalsband illustriert, die devot zu einer Männerfaust aufschaut, die sie an der Leine hält – was so ziemlich alle SM-Stereotype aufruft, mit denen Stahlmann eigentlich aufräumen möchte.
Im erfreulichen Kontrast zu derlei „Shades of Grey“-Bildsprache steht nun ihr bei Kein & Aber erschienener Roman „Der Defekt“. Die Brennnesseln auf dem Cover verweisen auf Pflanzenkunde statt Erotik, und tatsächlich bietet das Buch mehr Nature Writing als Pornographie, mehr linguistische, philosophische und psychologische Betrachtungen als handfeste Sexszenen – was ein interessanter Ansatz ist, literarisch allerdings nicht durchweg funktioniert.
Mina wächst auf in einem kleinen Schwarzwalddorf, das sowohl im Kern als auch an seinen Rändern so strengen wie unausgesprochenen Regeln unterliegt. „Es gab Autos mit Ladefläche und Allradantrieb in gedeckten Farben“, konstatiert Stahlmann: „Es gab Kirchenfeste wie Taufen, Ostern, Weihnachten und Firmung“, überdies eine „Verlässlichkeit, mit der man freitags die Treppenhäuser kehrte und sonntags Frikadellen für die Woche vorbriet und seine Kinder erzog und Flecken auf Hälse machte“. Im Forst, der das Dorf umgibt, gelten ähnliche Gesetze: Das Wild hält sich an vorgegebene Besitzverhältnisse und Gebietsgrenzen, während die Wildschweine mittels Stromdrähten am Verlassen des Waldes gehindert werden. Eine strikte Ordnung, ohne Frage – aber nicht die, nach Mina sich sehnt. Erst als sie mit 16 den verschrobenen Sitzenbleiber Vetko kennenlernt, beginnt sie zu ahnen, dass auch ein völlig anderes Regelsystem möglich ist. Zwischen Faszination und Schrecken erkennt sie, dass sie nicht völlig allein auf der Welt ist mit ihrem speziellen Begehren, das Schmerz mit Lust, Zärtlichkeit mit Bestrafung, Liebe mit Unterwerfung assoziiert.
Die beiden treffen sich am See, auf abgeernteten Feldern, in einer leer stehenden Kapelle. Für die spielerische Erkundung ihrer Lust zweckentfremden sie „Bambusstäbe für englische Zuchtrosen“ aus dem elterlichen Garten, einen Seidenschal, dessen zarter Duft Mina an ihre verstorbene Oma erinnert, ein Messer, mit dem ihre Mutter ihr früher Äpfel für die Schulpause schnitt. Fernab von kommerzialisierten Fetisch-Utensilien und uniformierten Outfits kreiert Stahlmann eine facettenreiche Welt, in der Alltagsgegenstände, Kindheitserinnerungen und erwachende Sexualität auf mal zärtliche, mal verstörende Weise ineinander übergehen.
„Er wollte, dass sie ihre Umrisse verließ, formlos wurde und in die Lücke glitt, die er ihr zuwies“, heißt es an einer Stelle. „Mit jeder Narbe, jedem blauen Fleck kannst du die Zeit dehnen“, lässt Stahlmann Vetko sagen: „Es ist, als wäre man sein eigenes Polaroid.“ Feine, poetische Sätze, die das Wesen des Sadomasochismus in all seinen Nuancen einfangen, aus dem Mund eines 18-jährigen Schulschwänzers bisweilen jedoch befremdlich klingen.
Druckreife Abhandlungen, verpackt in unnatürliche Dialoge, sowie ein gewisser Hang zur Didaktik – Stahlmanns identitätspolitisches Anliegen klingt manchmal allzu deutlich durch – schmälern an einigen Stellen das Lesevergnügen. Allzu plakativ wirkt etwa der Gegensatz zwischen den im See planschenden Teenies, die Mina erscheinen wie „ein Werbeplakat in Pastelltönen ohne Schatten“, auf deren Folie sie ihre „eingebaute Selbstzerstörungsmechanik“ postuliert, den titelgebenden „Defekt“. Oder auch, im Rahmen des schwulen Coming-Outs eines Schulkameraden, die etwas zu simple Setzung einer queeren Community als große glückliche Familie, in der alle ihren Platz haben und einander umstandslos „erkennen“, während Mina über Sadomasochist_innen behauptet: „Bei mir schweigen sie und bleiben für sich.“ Als gäbe es neben der mainstreamkompatiblen Leder-und-Latex-Variante nicht eine zunehmend aufgefächerte und gut vernetzte BDSM-Community, der sich Stahlmanns junge Protagonistin durchaus hätte anschließen können.
Gewöhnungsbedürftig ist zudem Stahlmanns barock-überbordender Schreibstil, der auf den ersten Seiten erfrischend wirkt im Einheitsbrei nüchtern-präzise erzählter Befindlichkeitsprosa, im Lauf der Geschichte allerdings bisweilen allzu verschwurbelt daherkommt bzw. in düster-romantische Plattitüden umschlägt. Da ist die „überschwere Hitze“ des Sommers, „selbst die Nächte stickige schwarze Räume ohne Ausgang und Fenster“, die „ranzige Süße“ heruntergefallener Pflaumen, da „dunkelt“ der Wald ums Dorf herum, und „der Morgen blutet sich aus dem Nachtschlaf“. Was zunächst eine unterschwellig unheimliche, todesschwangere Atmosphäre heraufbeschwört (tatsächlich gibt es in „Der Defekt“ einige unzeitgemäße Tode zu verzeichnen), wirkt an anderen Stellen seltsam altmodisch, fast schon betulich („Der freie Nachmittag lag ihnen wohlig um die Schultern.“). Um zum Hineinwachsen der jugendlichen Protagonisten ins digitale Zeitalter zu passen, hätte der durchgängig anachronistische Stil zumindest die ein oder andere Brechung vertragen.
Diese Gleichförmigkeit erstaunt, zumal immer wieder vom Erwachen einer neuen Sprache die Rede ist, von subtilen Bedeutungsverschiebungen, die einen dunklen Bezug herstellen zwischen Körper und Welt, von langen Schatten, die plötzlich die Worte werfen. An einer Stelle etwa macht Mina sich Gedanken über die Manie des Menschen, jede Leerstelle füllen, jede Lücke bezeichnen zu wollen, mit Begriffen wie „Höhle“, „Lichtung“ oder „Tod“. Zu dieser gelungenen Meta-Reflektion hätte Stahlmanns Metaphern-Überfülle, ihr Hang zu Gemeinplätzen und Übererklärungen sich zumindest irgendwie verhalten müssen.
„Mut zur Lücke!“ hört man unwillkürlich die Protagonistin ihrer Schöpferin zurufen – dem Roman hätte es gut getan.
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