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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Kritik

Was haben sie gewusst?

Hamburg

Meine Mutter wurde in Schlesien geboren. Das klingt für niederländische Ohren romantischer und harmloser als: Meine Mutter war Deutsche.

... schreibt Laura Starink in ihrem Buch, das 2013 unter dem Titel „Duitse wortels“ in den Niederlanden erschien und nun in der Übersetzung von Marianne Holberg und Waltraud Hüsmert vorliegt. Die Deutschen hatten den 2. Weltkrieg begonnen, hatten die „furchtbarsten Verbrechen auf dem Gewissen“ und, so meinte Laura Starink als Kind, müssten nun eben dafür büßen. Deutsche waren Feinde und überall verhasst. „Fiese Bemerkungen über Moffen“, wie Deutsche in den Niederlanden abwertend bezeichnet wurden, sowie Moffenwitze waren zu Starinks Schulzeit „noch große Mode“ und sie war insgeheim froh, dass wenigstens ihr Vater Niederländer war. Er hatte 1950 ihre Mutter Elinor in die Niederlande geholt und sie war bemüht gewesen, sich umgehend anzupassen und die neue Sprache so schnell und akzentlos wie möglich zu lernen, um nicht als Deutsche aufzufallen. Trotzdem sagten Lauras Freunde, sie könnten hören, dass ihre Mutter Deutsche sei. Über den Ursprung dieser Ablehnung alles Deutschen in den Niederlanden wurde im Hause Starink allerdings nicht geredet.

Bei uns zu Hause war der Krieg kein Gesprächsthema. Meine Mutter meinte, wir würden es doch nicht verstehen und auch mein Vater fing nie davon. Von ihrer Geschichte wusste ich also nicht viel.

Starink begann Fragen zu stellen, wollte wissen, was ihre Verwandten im Zweiten Weltkrieg getan oder unterlassen hatten, ob sie Anhänger oder Gegner Hitlers gewesen waren und auch, ob sie von den deutschen Verbrechen gewusst hatten. Doch die Antworten blieben vage. Und so begann sie auf eigene Faust zu recherchieren, las sich in die Thematik ein (genannt werden u.a. Sebastian Haffners „Anmerkungen zu Hitler“ und Horst Bieneks „Reise in die Kindheit“), reiste mehrmals nach Polen, weil sie alles „mit eigenen Augen sehen“ wollte, besuchte die schlesischen Ursprungsorte ihrer Familie und informierte sich in zahlreichen Archiven. Das vorliegende Buch ist das Zeugnis dieser Recherchen, das Starink mit zahlreichen Schwarzweiß-Fotografien aus den Familienarchiven ergänzte. Es ist in erster Linie eine Familiengeschichte, wie es schon im Titel heißt, die exemplarisch Leben und Leiden einer einfachen, kinderreichen deutschen Lehrerfamilie im 20. Jahrhundert in Mikultschütz/Klausberg/Mikulczyce nachzeichnet, die in den historischen Verwerfungen einige Tote zu beklagen hatte, schließlich gezwungen war, die Heimat Schlesien zu verlassen und anderswo einen neuen Anfang zu versuchen, wo sie alles andere als willkommen war.

Doch das Buch leistet mehr, als bloß eine interessante private Geschichte zu erinnern. Wir erfahren darüber hinaus von der wechselvollen Geschichte Schlesiens, das jahrhundertelang zwischen Preußen, Russland, Polen, Böhmen und Österreich hin und her geschoben wurde und heute Teil Polens ist. Wir lesen von Propaganda und inszenierten Grenzzwischenfällen, die als Alibi für Hitlers Eroberungspläne im Osten herhalten sollten, bis schließlich am 1.9.1939 die deutsche Wehrmacht in Polen und auch in Klausberg einmarschierte. Starink thematisiert die Verantwortung der katholischen Kirche anhand der Positionen von Papst Pius XI., der, wenn auch verhüllt, in seiner Enzyklika „Mit brennender Sorge“ Stellung gegen die Irrlehren der Nazis nahm sowie Christentum und Rassismus für unvereinbar erklärte, doch Anfang 1939 starb, und seinem Nachfolger Pius XII., für den der Faschismus ein kleineres Übel als der Kommunismus war. Starink erzählt von der Pflicht der Zugehörigkeit zu den nationalsozialistischen Jugendorganisationen und jener ihrer Mutter zum katholischen Quickborn, einem pazifistischen Jugendbund. Wir erfahren vom Alltag des paramilitärischen Reichsarbeitsdienstes, der ab 1935 unter dem Motto „Arbeit für dein Volk adelt dich selbst“ alle jungen Menschen zwischen 18 und 25 verpflichtete, zumindest ein halbes Jahr lang nützliche Arbeit für den Staat zu leisten. Und wir lesen vom Einmarsch der Roten Armee in Schlesien Anfang 1945, von Kriegsverbrechen, Deportationen, Zwangsarbeitslagern und Vergeltungsmaßnahmen, etwa der Vertreibung der Sudetendeutschen und jener der Deutschen aus Schlesien. Darüber hinaus gibt das Buch auch Zeugnisse der Mitmenschlichkeit, wenn etwa Elinors verwaisten Geschwistern neben allgegenwärtigen Widerwärtigkeiten jahrelang auch nachbarschaftliche Hilfe in Schlesien zuteil wird.

Laura Starinks Mutter (1924-2008) war 15 Jahre alt, als der 2. Weltkrieg begann. Sie machte ihr Abitur und wurde danach für mehr als ein Jahr zum Reichsarbeitsdienst verpflichtet. Als sie 1944 an Tuberkulose erkrankte, schickte man sie mitten im Krieg zur Kur in die Schweizer Berge. Dazu schreibt ihre Tochter:

Ich hatte es immer irgendwie peinlich gefunden, dass meine Mutter gegen Ende des Krieges, als in ganz Europa das Chaos herrschte, zur Kur in die Berge gefahren war. Es ist eine der Ungereimtheiten, von denen die Geschichte voll ist. Offenkundig war es sogar 1944 noch möglich, dass ein deutsches Mädchen aus einer normalen Lehrerfamilie auf Fürsprache eines Lungenarztes in Hindenburg einen Platz in einem Davoser Sanatorium bekam. Meine Mutter erklärte es sich damit, dass sie sich die Tuberkulose im Staatsdienst geholt hatte und der Staat deshalb auch ihren Sanatoriumsaufenthalt bezahlte. Ein Schein von Normalität in Zeiten des Krieges.

Durch eine glückliche Fügung erhielt die nach dem Kriegsende „unerwünschte Ausländerin“ in der Schweiz ein Stipendium, konnte in Fribourg als einzige Deutsche das Studium der Kunstgeschichte aufnehmen und 1950 auch abschließen. Von den prekären Verhältnissen, in denen ihre jüngeren 5 Geschwister in Schlesien lebten, und dem Tod ihrer Eltern erfuhr sie aus Briefen. Erst 1950 verließen diese ihre Heimat und ließen sich in Kervenheim unweit der niederländischen Grenze nieder. Elinor zog im gleichen Jahr in die Niederlande, heiratete und schenkte fünf Kindern das Leben, die nicht zweisprachig aufwuchsen. Doch ihre Mutter sang ihnen deutsche und slawische Lieder vor, die für sie genauso Heimat bedeuteten wie Familie und gemeinsame Kindheitserinnerungen.

1994 reist die „halbe Deutsche“ Laura Starink gemeinsam mit ihrer Mutter auf eine ernüchternde Reise nach Mikultschütz/Klausberg/Mikulczyce, das sich als hässliches, verfallenes Bergarbeiterstädtchen entpuppte. Die Reise führte sie auch nach Auschwitz, das nur sechzig Kilometer von Elinors ursprünglicher Heimat entfernt liegt.

Meine Mutter wollte nicht hier sein. Ich spürte Scham bei ihr und Abscheu. Aber auch eine Art Widerstand: Es ist nicht meine Schuld. Das habe ich nicht auf dem Gewissen. Das lasse ich mir nicht aufhalsen.

Heute stimmt Starink ihren Onkeln und Tanten zu, denn, so sagt sie, sie hätte ihrer Mutter die Reise nach Auschwitz nicht antun dürfen und habe damit als Nachgeborene selbstgerecht eine Grenze überschritten. Was hätte Elinor als junger Mensch tun können?

Meine Mutter und ihre Geschwister gehören zu der deutschen Generation, die keine Schuld am Krieg hat und dennoch von ihm gezeichnet ist. Sie waren zu jung, um verantwortlich zu sein, tragen die Bürde aber ihr ganzes Leben mit sich. Sie wurden aus ihrem Zuhause vertrieben, durften sich jedoch nicht beklagen, also hielten sie den Mund und packten an. Sie erlernten Berufe und gründeten Familien. Unter den Krieg hatten sie einen Schlussstrich gezogen.

Laura Starink
Meine Mutter aus Mikultschütz
Eine deutsche Familiengeschichte
Aus dem Niederländischen von Marianne Holberg und Waltraud Hüsmert
weissbooks
2015 · 334 Seiten · 24,90 Euro
ISBN:
978-3-940888-17-4

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