Nützliche Schulstunde
Es war in den Endsechzigern, als der später ehrenbetitelte „Sir Vival“ Rüdiger Nehberg das Thema Überleben in der Wildnis aus den USA nach Europa importierte und Pfadfinderbegeisterung anheizte, indem er über Feuermachen ohne Streichhölzer und Ernährung ohne Mutti und Konserven schrieb. In den Neunzigern erschien eine Heftreihe namens „Einfälle statt Abfälle“ und lehrte die Willigen die Tricks der Fahrradreparatur oder des Solarbrennerbaus mit marginalen Mitteln.
In dieser Tradition steht Lewis Dartnells „Handbuch für den Neustart der Welt“. Aber es ist nicht nur als ein, sondern als „das Handbuch“ deklariert, und der Untertitel verspricht „Alles, was man wissen muss, wenn nichts mehr geht“. Denn Ausgangspunkt ist nicht eine vorübergehende Absenz von der Zivilisation, sondern nichts Geringeres als die Apokalypse.
In der Tat bietet der in London beheimatete, für die britische Raumfahrtagentur arbeitende Astrobiologe Dartnell ein erstaunliches Kompendium für den Fall, dass man als Überlebender der absoluten Katastrophe erstmal dumm dasteht. Es ist ein umfassender Überblick über die dann schnell schwindenden Bedingungen sowie die wesentlichen Techniken, auf denen unsere derzeitige Zivilisation beruht und aus denen sich diese Zivilisation auch wieder herrichten lässt: So geht es um essbare Pflanzen und ihre Bodenwirkung, um Gewinnung von Trinkwasser, das Spinnen von Garn zur Kleidungsherstellung, chemische Grundlagen etwa der Reinigungsmittelherstellung oder Verbrennung, um Motoren, Kommunikationsmittel und Messgeräte für Zeit oder Temperaturen uvm. Diese „Samenkörner des Wissens“ sollen ein schnelles Rebooten des jetzigen Status Quo ermöglichen. Und es macht Spaß, unsere Welt so heruntergeschält zu bekommen auf einige grundlegende, nahezu haptische Erkenntnisse. Das Ganze wirkt wie die lebensbezogene Experimentierstunde in Physik oder Chemie, die wir uns alle gewünscht hätten.
Weshalb allerdings die Apokalypse der Ausgang der Explikationen ist, erklärt Dartnell nicht. Aber es ist schon auffällig, dass sich Männer gern das terrestrische Totaldesaster ausmalen, ob am Regiepult sitzend oder wissenschaftlich mit außerirdischem Leben befasst. Dabei dürfte sich der allmähliche (ökologische) Untergang unserer Welt wohl eher Schritt für Schritt und in sich häufenden Einzelszenarien wie den verheerenden Tsunamis der letzten Jahre vollziehen.
Es geht Dartnell auch nicht – im Gegensatz zu Nehberg – um ökologisches Bewusstsein bzw. um einen Neustart unter etwas vorsichtigeren Voraussetzungen als jenen, die geradewegs ins Desaster zu führen scheinen, sondern ausdrücklich um die Restrukturierung des heute bestehenden Systems, mitsamt seiner motorenbetriebenen Fortbewegung. Wenn dies keine Satire sein soll, offenbart sich hier und in weiteren Zusammenhängen des Autors eigenartiges Verständnis eines Neustarts. So bezeichnet Dartnell bspw. die Industrialisierung Japans als „eindrucksvollsten Innovationssprung in der Geschichte“. Widersprüchlich und seltsam isoliert wirken dann Sätze wie der wenig später folgende: „.. die nächste Zivilisation wird wohl aus reiner Notwendigkeit zu einer nachhaltigen Entwicklung gezwungen sein: einem 'grünen' Rebooten.“
Überhaupt spricht hier der Techniker: zwar genialische Auffassung und leichthändige Vermittlung der Basiskenntnisse unserer technischen Welt, aber völliges Fehlen soziokultureller Inhalte. Eine Fußnote verdeutlicht das hehre Weltverständnis der Astrobiologen: „Auch wenn imposante Denkmäler, die bildende Kunst, die Musik und andere kulturelle Erzeugnisse [sic!] die sichtbarsten Manifestationen einer Gesellschaft sein mögen, bilden Dinge wie landwirtschaftliche Produktivität, Abwasseraufbereitung und chemische Synthese doch das Grundgerüst der Zivilisation.“
Weit gefehlt, Herr Dartnell! Ich hätte Sie mit Ihrem immensen Praxiswissen nach der Apokalypse zwar sehr gern an meiner Seite, aber gleich nach dem ersten Schluck genießbaren Trinkwassers würden wir uns mal unterhalten müssen über die grundlegende Bedeutung von Sozial- und Kommunikationsverhalten, die Sinnhaftig- oder Sinnlosigkeit allein zweckgebundener Lehr- und Lernstoffe und ganz basal über die essenziellen Möglichkeiten, die das menschliche Reflexionsvermögen bietet. Sonst könnten uns ganz flott die Grundlagen fehlen, uns zum Beispiel auf einen gemeinschaftlichen Umgang mit den Folgen der Apokalypse zu verständigen.
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Kommentare
Scheint ein interessantes
Scheint ein interessantes Buch zu sein. Aber ich bin eher auf der Seite des Autors, als der Rezensentin. Sollte es zu einer Apokalypse kommen hätte ich lieber einen Handwerker, als einen Dichter an meiner Seite.
das Ende von allem
Auch ich halte einen wahren Handwerker als Mädchen für alles nach einer Katastrophe für sinnvoller, als was Intellektuelles oder Schöngeistiges. Wer aber Technik oder Handwerk nicht als Kulturleistungen erkennen kann, dem wird sich auch sonst nicht viel offenbaren bzw. enthüllen - und der kriegt daher auch eine Apokalypse nicht mit.
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