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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Das Zwitschern glücklicher Maschinen

Hamburg

Nach der Lektüre von „Venusia“ wird so manch einer seine Yucca-Palme, seine Zierkakteen oder Tomatenstauden mit anderen Augen betrachten. Denn in Mark von Schlegells Zukunftsdystopie gibt es nicht nur „fühlende Pflanzen“, die ins menschliche Bewusstsein eindringen können – zudem ist von einer „Allianz aus Gemüse, Obst, Beeren, Pilzen und Blumen“ die Rede, die bereits seit Jahrhunderten das Schicksal der Menschheitsgeschichte maßgeblich beeinflusst. Dies ist jedoch nur die Speerspitze irrwitziger Einfälle, mit denen von Schlegell aufwartet.

Der psychedelische Roman spielt Ende des 23. Jahrhunderts, in einer kleinen, vom Rest des Universums abgeschnittenen Kolonie auf jenem Planeten, der Wissenschaftlern lange als unbewohnbar galt – der Venus. Gehirnscans und sprechende Schienenbusse sind an der Tagesordnung, ebenso schwebende Buchläden, die sich auch gerne mal um die eigene Achse falten. Begegnet einem jemand auf der Straße, ist selten klar, ob es sich um ein Hologramm, einen Androiden oder ein Wesen aus Fleisch und Blut handelt. Oder auf welcher Ebene man sich überhaupt gerade befindet. Mittels sogenannter „Morituri-Helme“ ist es möglich, in die „Neuroscape“ (oder „N-Scape“) einzudringen – eine Art kollektives Unterbewusstsein, das einen wilden Ritt durch sämtliche Zeiten und Dimensionen erlaubt.

Automatisch denkt man an die alternativen Realitäten eines Philip K. Dick; aber auch Versatzstücke aus Orwells „1984“ und den „Matrix“-Filmen scheinen auf. In literarisch-philosophischer Hinsicht steht der Roman aktuellen gesellschaftskritischen Dystopien wie Dietmar Daths „Venus siegt“ oder Leif Randts „Planet Magnon“ in nichts nach. Doch auch wenn „Venusia“ ganz klar eine Hommage an diverse SF-Klassiker ist, haucht von Schlegell seiner fiktiven Welt einen ganz eigenen Atem ein. Was nicht zuletzt an seiner düster-poetischen Sprache liegt, die Simon Elson hervorragend ins Deutsche übertrug. „Venusias sieben wie schlanke Pilze in die Höhe ragende Kupfertürme knisterten und entzündeten die blauhaarige Dämmerung des T-Morgens“, lesen wir im Prolog. Erst später wird klar, dass derlei erhabene Schönheit der ziemlich prosaischen Aufgabe dient, alle zwölf Terra-Stunden ein Loch in die venusianische Wolkendecke zu schießen, um die Illusion eines Erdentages zu erzeugen. Überhaupt wird auf Venusia alles dafür getan, die Bewohner nicht dem Wahnsinn des ewigen Zwielichts anheimfallen zu lassen. So ernähren sie sich ausschließlich von psychoaktiven Blumen, die ihnen beim „Futter“-Ritual am Strand verabreicht werden, und deren Verzehr ein wohliges Gemeinschaftsgefühl erzeugt. Letztendlich jedoch kann nichts über die mentalen Abgründe hinwegtäuschen, denen die Venusianer tagtäglich ausgesetzt sind. „Wir hängen nur an einem seidenen Faden über wilden Klüften interplanetarischen Todes“, wie der Antiquar Rogers Collectibles lakonisch zusammenfasst.

Wer sich dem „Futter“ verweigert, wie Collectibles, wird paradoxerweise als „Süchtiger“ bezeichnet und beginnt unter massiven Entzugserscheinungen zu leiden: Schlaflosigkeit, Gedächtnisausfälle, Echsen-Halluzinationen. Doch ist die Abstinenz zugleich Einfallstor für etwas, das der Blumenkonsum unterdrücken soll: die Erinnerung. Und somit auch das Wissen um die eigene Herkunft und die Entstehungsgeschichte der Kolonie.

Das eigentlich Grandiose an „Venusia“ sind mit Sicherheit – abgesehen von seiner surrealen Szenerie – die faszinierenden Gedankenexperimente, die sich aus den Fragen rund um Erinnerungslosigkeit, den psychischen Folgeschäden und den Möglichkeiten der N-Scape ergeben. Story und Charaktere erscheinen da eher nebensächlich. Dennoch sollen die Hauptdarsteller zumindest kurz Erwähnung finden: Da wäre zum einen der Antiquar Rogers Collectibles, der im Laufe der Geschichte versuchen wird, die wertvolle Erd-Ausgabe eines Frühwerkes des Venusia-Gründers zu verkaufen – soweit der (zugegebenermaßen dünne) rote Faden des Romans. Ihm zur Seite stehen die Neuroskopie- und Morituri-Kennerin Doktor Sylvia Yang, die rasende Reporterin Martha Dobbs, die stets von einem fliegenden Auge begleitet wird, sowie der kleinwüchsige M-Agent Niftus Norrington. Und natürlich besagte fühlende Topfpflanze namens FRED, die zwar von der Regierung zu Bespitzelungszwecken eingesetzt wird, aber auch einen eigenen Willen besitzt. Ferner wären da der holografische Show-Master Larry Held, der Regierungschef Jorx Crittendon, von dem lange Zeit unklar bleibt, ob er auf der Seite der Guten oder der Bösen kämpft, und ein ultimativer Widersacher, der nur „der grüne Mann“ genannt wird. Sie alle werden nach und nach in den N-Scape hinein geschleudert, wo sie sich in verschiedensten Erscheinungsformen von einer Zeit- und Raumebene in die nächste jagen.

Schon bald ist die Realität so löchrig wie ein Schweizer Käse. Von Schlegell ist definitiv ein Meister darin, seinen Leser_innen gehörig die Gehirnwindungen zu verdrehen – so ergeben sich aus den Möglichkeiten der N-Scape interessante philosophische Betrachtungen über das Aufeinandertreffen mehrerer individueller Bewusstsein und was sich daraus für die „objektive“ Realität ergibt. Oder anders ausgedrückt:

„Die Raumzeit springt in alternative Zeitachsen, die durch die gegenseitige Penetration von neuroskopisch reflektierten Gedankenströmen aufgestellt werden.“ (So erklärt Doktor Yang an einer Stelle den „Melton-Effekt“.)

Dabei ist die virtuelle Traum-/Erinnerungsebene nicht immer nur lustig und bunt, sondern bisweilen auch derart eklig, gewalttätig und pornografisch, dass düstere Drogenfantasien à la „Naked Lunch“ nicht weit entfernt scheinen. Aber nun ja – so sehen unsere seelischen Abgründe eben (auch) aus.

Ein bisschen schade nur, dass der Autor selbst in einem derart vertrackten Möglichkeitsraum wie der N-Scape das altbekannte Schema Good Guys vs. Bad Guy bewahrt hat, die einander unermüdlich durchs Raum-Zeit-Kontinuum jagen. Muss denn gleich das Schicksal der gesamten Menschheit vom Gelingen ihrer Mission abhängen? Von Roland Emmerich wird „Venusia“ ohnehin nicht verfilmt werden (außer vielleicht, man flößt ihm eine Menge LSD ein)!

Auch verliert man im letzten Drittel bei der wilden Hetzjagd durch die Multiverse schon mal den Überblick. Ständig verändern sich die Allianzen; die Protagonisten spalten sich in mehrere Versionen ihrer selbst auf, sterben und erstehen wieder auf. Irgendwann hat man das Gefühl, dass von Schlegell nur noch mit SF-Versatzstücken um sich wirft und der anfangs so präsente Hintersinn in all der Schaumschlägerei ein wenig verloren geht. „Weite Teile des Buches wurden als Raserei eines Mannes bezeichnet, der allein zu schnell zu lange und zu weit durch den Raum geflogen war“, heißt es an einer Stelle über das antiquarische Werk, das Collectibles mit sich herumträgt. Ähnliches ließe sich über „Venusia“ behaupten: eine poetische, bewusstseinserweiternde Erfahrung, die jedoch gegen Ende an ihrem überbordenden Einfallsreichtum erstickt.

Der Roman ist bestens geeignet, um sich mit ihm an einem kalten, ungemütlichen Wochenende in der Wohnung einzuschließen und in eine ganz eigene, verrückt-luzide Welt einzutauchen. Vorsicht ist bei derart konzentrierter Dosis allerdings geboten, nicht auf von Schlegells Trip hängenzubleiben! Am Schluss wird nämlich suggeriert, dass der Verfasser des Romans selbst eine fühlende Pflanze sein könnte … Oder hat mir das eben mein Basilikum ins Ohr geflüstert?

Mark von Schlegell
Venusia
Übersetzung:
Simon Elson
Matthes & Seitz
2016 · 19,90 Euro
ISBN:
978-3-95757-144-1

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