Doku-Band, Barbaren
In Rolf Bossarts Nachwort zu dem umfangreichen und dichten Dokumentationsband um Milo Raus „Europa Trilogie“, der im Verbrecherverlag erschienen ist, steht der Absatz:
Der naheliegende Bezug zur klassischen Tragödie, auf den schon verschiedentlich hingewiesen wurde, ergibt sich nicht aus der Lehre der Katharsis durch Mitgefühl, die Aristoteles ja erst nach dem Untergang der Tragödie entwickelt hat, sondern aus dem, was die reale Wirkung auf das zeitgenössische, antike Publikum gewesen sein mag: Der Schauder vor dem eigenen Schicksal angesichts des Schicksals des Helden. Der Akzent liegt auf dem sanften Schock, den die Einsicht auslöst, es könnte das, was wir auf der Bühne sehen, nicht vollständig in einer Reihe individueller Handlungen oder den Folgen politischer Akte aufgehen, sondern mitbestimmt sein durch gemeinsames Menschenschicksal – um darüber Herr zu werden, folglich weder individuelle Autonomie- noch kollektive Autarkiestrategien ausreichen.
Dieser Absatz leistet für uns zweierlei: Mit ihm ist die Funktionsweise jener Theatertrilogie aus „The Civil Wars“, „The Dark Ages“ und „Empire“ recht gut beschrieben, die Milo Rau und sein Team in den letzten drei Jahren weniger nur produziert als vielmehr auf die diversen Bühnen gestemmt hat. Aber mit ihm ist auch der Hinweis auf die Stelle gegeben, an der die Iteration des institutionellen Theaters problematisch wird, in Bezug auf welche die „Europa Trilogie“ einzig gedacht werden kann.
Der Reihe nach: Die Stücke der Europa Trilogie, wie sie in dem vorliegenden Band auf Deutsch und Englisch widergegeben werden (unter dem Vorbehalt, dass sich zwischen Druckfahnenkorrektur und der Aufführung des letzten Stückes, „Empire“, wohl das eine oder andere Detail geändert haben wird), montieren Anekdoten und Lebensgeschichten, die von den tatsächlich auftretenden Schauspielern in ihren jeweiligen Muttersprachen erzählt werden (mit Untertiteln in der Sprache des jeweiligen Publikums). Es handelt sich durchgängig um Geschichten über Leute an den heiß umkämpften Rändern der europäischen Wohlstandsinsel, von ganz unterschiedlichen Flucht- und Migrationsbewegungen zwischen Nord und Süd, Ost und West, von Alltagen in ihrer Zerbrechlichkeit. Was in der Europa Trilogie nicht passiert, ist, dass diese Geschichten dann als Szenen nachgespielt würden: Es bleibt bis auf ganz wenige, klimaktisch angeordnete Momente bei nebeneinandergestellten, ineinander montierten Monologen. Die Stücke haben so den Charakter von live aufgeführten Dokumentarfilmen, und den Arbeitsprozess, der nötig gewesen sein muss, um dieses Ergebnis zu erzielen, müssen wir uns vorstellen als ein nachträgliches Montieren und Festschreiben von zuerst mündlich Erzähltem.
Der Effekt, den dieses Verfahren hat, ist der von Bossart beschriebene; wenn wir ihn nochmal anders ausformulieren als er, offensichtlicher bezogen aufs politische Tagesgeschehen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, könnten wir sagen: Die Europa Trilogie inszeniert das unwiderstehliche Insistieren, dass es sich bei den im Mittelmeer ersaufenden, unter syrischen Ruinen erstickenden, als Gastarbeiter in Westdeutschland unsichtbar gemachten oder sonstwie marginalisierten Angehörigen des von Europa aus gesehen „Anderen“ um Subjekte handelt, in dem selben Sinne wie Ich und Du und Müllers Kuh Subjekte sind; dass auch „uns“ „das“ passieren kann. Das klingt nicht nach viel, ist es aber; da geht es nicht um emotionale Betroffenheit, sondern um das Gebaren der Staatsbürger und Kulturinsassen.
Dass die Europa Trilogie mit der Barbar-und-Bürger-Gegenüberstellung und ihrem Einflechten in alltagssprachliche Erzählungen komplexe Kontinuitätsdiskurse zwischen der Antike und dem z.B. heutigen Europa aufmacht; dass in Raus Montagen bestimmte theatrale Motive immer wiederkehren, über die man gescheite Abhandlungen schreiben könnte – all das ist geschenkt. Es ist schön, aber darum geht es nicht. Worum es geht, ist vielmehr das wiederholte Einhämmern dessen, was in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte steht, aber eben nicht als moralische Forderung, sondern als schlechthinnige Beschreibung eines Ist-Zustands:
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.
… und damit wären wir bei der angekündigten Stelle, an der Milo Raus Unterfangen problematisch ist: „Wir“, also das Abo-Publikum im Stadttheater und beim Kunstfestival, die (mehrheitlich wohl doch eher) Akademiker, die sich über Neuerscheinungen im Verbrecherverlag informieren usw. – „Wir“ also wissen das zwar auch nicht besser als alle anderen, dass „die dort drüben“ ganz wirklich, echt jetzt, Leute im engsten Sinn des Wortes sind; aber wenn du das gerade „Uns“ in gerade dieser ästhetisch anspruchsvollen Weise erzählst, finden „wir“ tausend Ausflüchte ins Meta und ins Historische, statt uns mit der Sache selber zu beschäftigen; finden z.B. die Entwicklung des Medea-Stoffs durch die Jahrhunderte interessanter als die einzelne irgendwo gestrandete Mutter-mit-Kindern-zwischen-den-sogenannten-Kulturen … Und diejenigen Leute, denen alles das gerade auf die Art von Milo Rau besonders wirkungsvoll zu vermitteln wäre – die Brigade der baldigen Erstwähler von der Realschule; die kulturell leidlich Interessierten, aber mit Über-die-Runden-kommen allzu Ausgelasteten, die sogenannten „normalen Leute“ – die kommen nicht in diese Sorte Theater, wie Rau sie betreibt (aufwändig, und damit weit im Vorhinein zu finanzieren, und damit abhängig von Festivals und den Hochkulturbetrieb, über den sich allerhand sagen ließe, das Bourdieu schon besser und genauer gesagt haben würde).
Langer Rede kurzer Sinn: (a) Super Buch; (b) großartiges, schmerzhaftes Theater; dabei aber (c) doofes Hochkultursoziotop, durch welches (a) und (b) am Entfalten der vollen Wirkung leider gehemmt werden.
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