Nie mehr Zufall
„Der Tag ist nur die halbe Wahrheit“ – das macht die Nacht nicht automatisch zur besseren Hälfte. „Nie mehr Nacht“ heißt der neue Roman von Mirko Bonné, und natürlich liegt die ganze Wahrheit weder hier noch dort verborgen. Stattdessen muss man schon hinab in die Grautöne tauchen, Übergänge sichten, aus der Zeit heraustreten, eine Morphologie des Verschwindens entwerfen. Und in gewisser Weise macht Bonnés Roman auch genau das: er ist eine literarische Studie der „Übergangsschatten“, einbegriffen der Zufälle, die uns Tag und Nacht zerpflügen. Denn Zufälle gibt es ja mehr als genug; bei Bonné kommen sie sogar mit einer so schönen Regelmäßigkeit vor, dass man glauben soll, sie seien die „Sprache der Welt“.
Und der Zufall will es so: Markus Lee, abgebrochenes HfBK-Studium und Zeichner von Beruf, wird von einem Art-Magazin in die Normandie geschickt, um vor Ort Brücken für die Spezialausgabe zum D-Day zu zeichnen. Jesse Lee, sechzehn, Sohn seiner verstorbenen Schwester Ira, soll ihn dabei begleiten. Was Jesse nicht weiß: „Marky Mark“ hat seiner Schwester nicht nur geschwisterlich nachgehangen – „ein einzelner Mensch mit zwei Gesichtern“ –, nein, er hat sogar als Teeny mit ihr geschlafen, und kommt nun über ihren Tod – Selbstmord: Garage – nicht hinweg. Jetzt also Nordfrankreich, jetzt also Herbst, jetzt also intime Zweisamkeit; aber schon die Hinfahrt zieht sich so träge durchs Land, dass bereits der Streit um die Musik im Auto bei Markus in einem mittleren Nervenzusammenbruch endet. „Quälend schleppten sich die Minuten dahin“ – und genauso quälend schlüsselt Bonné jede einzelne Regung seines Protagonisten auf dieser Fahrt durchs „Nirgendwo“ auf, um wirklich ja nichts dem Zufall zu überlassen: „Jesse hatte recht. Zerfräsen, Zerschneiden, Nirvanas sägender Krach, passte sehr wohl hierher“. Würde man nicht zugleich ahnen, dass Jesse nicht von ungefähr Markus’ eigener Sohn sein könnte, man hielte die Beziehung bereits an dieser Stelle des Romans für auserzählt.
Was also mühsam als Roadmovie startet, entpuppt sich bald schon als konstruierter Erzählvorwand für eine ganz andere Geschichte: Denn angekommen in dem leerstehenden Hotel, das von einer befreundeten Familie über Winter in Stand gehalten wird, beschließt Marky Mark mit seinem Leben abzurechnen, die Vorräte des Weinkellers auszutrinken, sich ins Verschwinden zu zeichnen, obwohl es dazu recht besehen keinen Anlass gibt; alle kümmern sich rührend um ihn. Es hilft nichts: Er will leichter werden, an immer weniger denken müssen, niemand mehr sein. Konkret bedeutet das: Papiere entsorgen, EC-Karte wegschmeißen, Auto verkaufen, Vögel beobachten, Brücken vergessen und schließlich mit dem Zeichnen selbst aufhören. Noch die Übergangschatten haben zu deutliche Konturen. Bis aber auch diese sich endgültig aufgelöst haben, müssen Herbst und Winter vergehen, fährt Jesse zurück nach Deutschland und taucht eine Frau namens Lilith Muller auf, die – potz Blitz – seiner toten Schwester zum Verwechseln ähnlich sieht. Erst dann ist auch Marky Mark am Ende seiner Kräfte, und überrascht ist man nicht, wenn auch dieses Ende in einer Art Garage oder Werkstatt oder Geräteschuppe zelebriert wird: „In meinem Leben kam ich nicht mehr vor, lebte aber zugleich in einer Welt, in der es nichts als Selbstversunkenheit gab und deren einziger Bewohner Markus Lee hieß“.
All das muss von Bonné peu à peu erzählt werden, all das verschlingt Seite um Seite die Aufmerksamkeit, die man jemandem mit echten Nordseedepressionen ohne weiteres zu schenken bereit wäre. Dabei gibt es eingehende Passagen, lyrisch und zauberhaft: „Das Haus sollte wegfliegen. Es sollte aus lauter großen grauen Zugvögeln bestehen, die alle wie sie aussahen und davonflatterten“. Passagen auch, die unvermittelt eine kleine Poetologie aus dem Ärmel schütteln und dabei zugleich den erzählerischen Abgrund aufzeigen, an dem sich Bonné schon die ganze Zeit entlang gehangelt hatte. Über den Grünen Heinrich, der für den Roman so etwas wie ein Soundtrack ist, heißt es: „Bei Kellers Buch konnte ich mir ausmalen, dass es nur existierte, weil ich darin las“. Was bleibt also, wenn alles verschwindet? – Das eigene Ich, das noch die konturlosen Schatten zum Reden bringt, indem es beginnt, die Welt auf sich zu beziehen, von sich aus zu denken. Der Neffe, die Brücken, die Kindheit, die tote Schwester – Projektionsflächen eines egomanen Selbst? Erzählerisch hat der Roman dieser krankhaften Selbstbezüglichkeit leider nichts hinzuzufügen – noch hinten den einfachsten Gesten erblickt man die konstruktive Absicht des Erzählers, den leblosen Willen zur Pointe. Sodass auch von der unerhörten Tragik, die einer Geschwisterliebe innewohnt, bei Bonné am Ende nicht mehr übrig bleibt als die elegische Selbstbestaunung eines Verschwindenden, das Grau in Grau der Normandie. Wenn der Zufall die Sprache der Welt ist, sollte man nicht anfangen, daraus Romane zu bauen.
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