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Kritik

Entspannt euch!

Paul Lafargue fordert ein Recht auf Faulheit
Hamburg

Es hat schon etwas Ironisches, dass die Schrift Le droit à la paresse ausgerechnet in Ländern wie der Sowjetunion oder der DDR nicht erschienen ist oder sogar verboten war. Das allein lässt schon erahnen, wie viel subversives Potential in diesen 70 Seiten stecken muss. 1880 erstmals in Paris publiziert, stellt Das Recht auf Faulheit eine radikale, satirische, nicht selten polemische Kritik am kapitalistischen Arbeitsbegriff dar. Der Zwang zur Lohnarbeit sei in der Form des späten 19. Jahrhunderts nichts weiter als Sklaverei. Wer jetzt schon zu wissen glaubt, wohin Lafargue mit seinem Text will, wird überrascht. Denn seine Anklage richtet sich nicht allein gegen den von der Industrialisierung gepushten Kapitalismus, sondern auch gegen die sozialistische Arbeiterbewegung.

Ein wesentlicher Kritikpunkt Lafargues ist dabei das 1848 proklamierte Recht auf Arbeit, „dass die Arbeit in den Fabriken auf zwölf Stunden täglich beschränkte […]. Schande über das französische Proletariat! Nur Sklaven wären zu einer solchen Erniedrigung fähig gewesen.“ Ein Vergleich, der hier wörtlich zu verstehen ist, denn Lafargue bezieht sich vor allem auf die Antike, als klassische Lohnarbeit fast ausschließlich von Sklaven ausgeführt wurde. Die Tätigkeitsfelder der Bürger seien hingegen Politik und Philosophie gewesen. Im Zuge der Industrialisierung haben sich die Menschen jedoch vor den Karren kapitalistischer Produktion spannen lassen. So wurden die Leidenschaften der Arbeiter nach und nach erstickt und an ihre Stelle trat eine regelrechte „Arbeitssucht“ bzw. „Religion der Arbeit“. Dass romantische Idealbilder, wie das des „edlen Wilden“ in diesem Zuge nicht lange auf sich warten lassen, überrascht kaum. Doch Lafargue weist auch auf handfeste ökonomische und gesellschaftliche Risiken hin, wie etwa Überproduktion und Kolonialismus, die er in direktem Zusammenhang sieht.

Um die ausufernde Form der Produktion zu stoppen und den Menschen vor einem Schicksal als seelenlose Arbeits- und Konsummaschine zu bewahren, schlägt Lafargue den 3-Stunden-Arbeitstag vor. Er verhindere einen kannibalischen Kapitalismus und ließe den Menschen genügend Zeit zum Müßiggang. Anders  ausgedrückt: Lafargue fordert eine allgemeine Entschleunigung. Spätestens an diesem Punkt wird der Franzose für den heutigen Leser interessant. Diesen Aspekt hat auch der Philosoph Guillaume Paoli im Blick, wenn er fragt, was eigentlich aus der freigesetzten Zeit geworden ist, die wir durch Errungenschaften wie Waschmaschine und Geschirrspüler eingespart haben. Sein Essay Wider den Ernst des Lebens, der Lafargues Text als erweitertes Nachwort beigegeben ist, legt jedoch einen anderen Kernschwerpunkt.

Ähnlich wie Lafargue sieht auch Paoli ein enormes Suchtpotential in der Arbeit und meint damit nicht allein den klassischen Workaholic. „Durch stressige Situationen am Arbeitsplatz werden im Körper Stoffe wie Adrenalin, Morphine oder Endorphine produziert, die ähnliche Reize auslösen wie exogene Suchtstoffe. Wie bei jeder Sucht muss die Dosis ständig erhöht werden. Der Arbeitsabhängige verfängt sich in einer Spirale der Gewöhnung und des Mehrbedarfs. Am Ende des Weges mögen Muskel-Skelett-Erkrankungen, Herzinfarkt, Schlaganfall, Depression oder gar Arbeitstod bzw. Selbstmord stehen.“ Überspitzt ausgedrückt heißt das nichts anderes, als dass wir durch den bestehenden Zwang zur Lohnarbeit neben Alkohol und Kokain einer weiteren Gefahr ausgesetzt werden. Im Gegenteil zu Alkohol und Kokain kann sich die Masse der Bürger jedoch nicht ohne weiteres gegen diese Gefahr entscheiden oder sie sich durch Therapien abgewöhnen.

Mag dieser Gedanke zunächst noch etwas skurril erscheinen, „dieses Phänomen kann die Arbeitsmedizin nicht mehr leugnen, allein weil es Jahr für Jahr immer höhere Kosten verursacht.“ Mit der Arbeitssucht geht ein weiterer Aspekt einher, dem man vielleicht etwas bedingungsloser zustimmen kann. Die einstmals vom Bürgertum verpönte Lohnarbeit ist heute mehr denn je Gradmesser der Stellung im Sozialgefüge sowie der persönlichen Entfaltung. Nie zuvor haben sich Menschen so sehr über ihre Arbeit definiert wie im so genannten „Turbokapitalismus“, in dem jeder Urlaub, der länger als zwei Wochen dauert, als „Auszeit“ gewertet wird. Wer sich bewusst gegen den Wettlauf im Hamsterrad entscheidet und über Alternativen zum Lohnarbeitssystem, inklusive Selbstdefinition über genau dieses, nachdenkt, bekommt schnell den durchaus sozial geprägten Stempel des „Faulenzers“ auf die Stirn gedrückt.

„Und schließlich gibt es diejenigen, die aus der Arbeitswelt rausgeworfen wurden, um in ein tiefes Loch zu fallen. Ihr ganzes Leben war dem Beruf gewidmet, und nun wissen sie als Arbeitslose oder Rentner nichts mit sich anzufangen. Die Zeit, die sie jetzt reichlich haben, wird zu einer quälenden Langeweile. Überdies wird Ihnen vom Nachbarn bis zu den Fernsehansagern, vom Jobcenter bis zur Linkspartei wiederholt die Botschaft vermittelt, das, was ihnen fehlt, eine Arbeit sei. Ja Arbeit fehlt ihnen, in gleichem Maße wie dem Junkie das Heroin! Und doch demonstriert keiner, um ‚Heroin für alle‘ zu fordern.“

Sowohl Paul Lafargue als auch Guillaume Paoli versuchen mit ihren Texten nicht wirklich ein theoretisch fundiertes Recht auf Faulheit einzufordern. Doch sie regen auf sehr anschauliche und auch witzige Weise dazu an über das System der Lohnarbeit und seine Alternativen nachzudenken.

Paul Lafargue
Das Recht auf Faulheit
[Le Droit à la paresse, 1880]
Übersetzung:
Eduard Bernstein und Ulrich Kunzmann
Mit einem Essay von Guillaume Paoli
Matthes & Seitz
2013 · 122 Seiten · 14,90 Euro
ISBN:
978-3-88221-035-4

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