Wissen über das Wissen
"Die Explosion des Wissens. Von der Encylopédie bis Wikipedia" ist mit ca. 300 Seiten Text, einer 29 Seiten langen Literaturliste und einem ausgiebigen Zitaten- und Registerapparat kein über die Maßen knapp geratenes Buch. Gleichwohl beinhaltet es nicht eine überflüssige Zeile. Die Abhandlung - oder vielmehr die "Serie von Essays", wie der Autor sein Vorhaben in der Einleitung nennt - ist deutlich von der angenehmen Gewohnheit des englischsprachigen Wissenschaftsbetriebs geprägt, sich nicht komplizierter auszudrücken als unbedingt nötig.
Burke - ein ausgewiesener Fachmann der Renaissance und der Aufklärung sowie Verfasser einiger Beiträge zur Herausbildung dessen, was wir inzwischen "Cultural Studies" nennen - bleibt durchgängig eng an der selbstgestellten Vorgabe seines Buchs. Dieses widmet sich
"... den Veränderungen, die in der Welt der Gelehrsamkeit von der Encyclopédie (1751-1766) bis Wikipedia (2001) vor sich gegangen sind. Seine Hauptthemen sind Prozesse wie Quantifizierung, Säkularisierung, Professionalisierung, Spezialisierung, Demokratisierung, Globalisierung und Technisierung. (...) Im Wesentlichen geht es darum, ein großes Bild zu präsentieren, das für Spezialisten oft unsichtbar bleibt, ein Bild, das eine allgemeine Darstellung der Spezialisierung als solche miteinbezieht."
Die Arbeit gliedert sich in drei große Abschnitte - "Wissenspraktiken", "Der Preis des Fortschritts" und "Eine Sozialgeschichte in drei Dimensionen". Der erste dieser Abschnitte bildet so etwas wie eine klassische Historie des Wissens: Die "Praktiken", auf die der Titel sich bezieht, sind die verschiedenen Modi des Sammelns, Analysierens, Verbreitens und schließlich Anwendens von Wissen. Burke erzählt die Geschichte davon, wie vom alten Griechenland an bis herauf ins Heute Wissen erworben und wie mit ihm umgegangen wird. Das bedeutet auch, dass dieser Abschnitt eine Art kritische Kurzversion der wichtigsten akademischen Heldenerzählungen beinhaltet: Die Humanisten, die Forschungsexpeditionen der frühen Neuzeit, die Universitäts-, Zeitschriften- und Gesellschaftsgründer und ihre jeweiligen speziellen Umstände - sie sind alle hier versammelt, und zwar aufs Übersichtlichste. Dass eine solche Betrachtung der Geschichte des Wissens deutlich eurozentrische Züge trägt, ist dem Verfasser bewusst und wird in der der Einleitung ausführlich besprochen. Ausserdem führt diese Geschichte von der Herausbildung der abendländischen Wissenskultur natürlich an jenen geschichtlichen Punkt (und über ihn hinaus), da innerhalb dieser Kultur die Tatsache "entdeckt" oder doch zumindest postuliert wird, dass es noch anderes Wissen gibt, oder andere Organisationsformen des selben Wissens, oder doch zumindest alternative EntdeckerInnengeschichten.
Der zweite Abschnitt ist im Deutschen betitelt mit "Der Preis des Fortschritts", und ich verstehe diesen Titel nicht. Die beiden hierunter subsummierten Kapitel - "Wissen verlieren" und "Wissen teilen" (in diesem letzteren Kapitel geht es vor allem um die Fallstricke der Archivierung und der Differenzierung akademischer Felder, also der Entstehung von sprachlichen und kulturpraktischen "Übersetzungsschwierigkeiten", wo vordem keine waren ) - beschreiben nämlich nichts, was dieser Beschreibung entsprechen würde: Wer "einen Preis für etwas zahlt", tauscht ja Äquivalente. Genau das ist aber bei allen den vergessenen, verlorenen oder lost-in-translation-gegangenen Kenntnissen, von denen das Buch hier handelt, nicht der Fall. Der Fortschritt wäre keiner, würde die Menge des nützlichen Wissens in der Welt nicht grösser. Es scheint sich mir um den Versuch zu einer "publikumsfreundlichen" Überschrift zu handeln, die ihrerseits einen "Verlust an Information" mit sich brachte, in genau der Weise, die in dem Abschnitt unter anderem behandelt wird.
Der dritte Abschnitt heisst "Eine Sozialgeschichte in drei Dimensionen", und diese sind: Geographien, Soziologien und Chronologien des Wissens (man beachte besonders das Plural-n). Es sind diese Paradigmen, innerhalb derer Burke die noch offenen Diskurse über Wissen und Information verhandeln kann - "Denkschulen" heisst ein Unterkapitel, "Technisierung des Wissens" ein anderes. Der Band schließt mit einem Überblick über die Affären Assange und Snowden - einem informierten Ausblick in ein Zeitalter, da sich etwas Fundamentales daran ändern kann, wer als Akteur in dem Ringen darum gelten darf, was und auf welche Art gewusst wird.
Ich habe es oben schon angesprochen: Burke bleibt eng an seiner thematischen Vorgabe und ist sichtlich um einfache, verständliche Formulierungen bemüht. Dies gereicht dem Buch zu Vorteil, was aus der Sicht eines deutschsprachigen Lesers beinahe als Überraschung gelten darf (sind wir doch allzu gewohnt, mit unkomplizierten Sätzen unterkomplexe Inhalte zu assoziieren). Burke verweilt auch bei keinem Detail seiner übersichtlichen Wissensgeschichte allzu lange. Damit geht leider einher, dass er - als, wie gesagt, Theoretiker der Informationsgesellschaft eigenen Rechts - sich eigenes "Spekulieren" zu den jeweiligen Themen und Entwicklungsphasen weitgehend verkneift. "Die Explosion des Wissens" ist in diesem Sinne selbst ein enzyklopädisches oder gar journalistisches Werk. Es scheint kein Zufall zu sein, dass er ganz am Beginn und ganz am Ende des Buches auf eine andere seiner eigenen Arbeiten verweist. Ich zitiere hierzu aus den letzten Absätzen und habe ihnen nichts mehr hinzuzufügen:
"Karl Mannheims Idee der 'Seinsverbundenheit' beziehungsweise gesellschaftlichen 'Situiertheit' von Wissen ist in neuerer Zeit wiederbelebt worden. (...) Die Forschung selbst ist - bei Soziologen ebenso wie bei Historikern - zunehmend zum Forschungsgegenstand geworden. (...) Die Begriffe 'Wissenskultur' und 'Wissenschaftskultur' sind inzwischen gebräuchlich geworden, um eine Reihe akademischer Projekte zu beschreiben (...) Kurz gesagt: So wie sein Vorgänger, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, ist auch der vorliegende Band Teil eines allgemeinen Trends. Ich hoffe, die nächste Generation wird diese Erkundung weiterführen."
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