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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Kreisrundes Loch

Ein tiefer Blick in all diese Gefährdungen
Hamburg

Das Debüt der Berliner Schriftstellerin Renate Gutzmer ist eher schmal und leichtgewichtig, dennoch aber ein Werk von A bis Z. Das Inhaltsverzeichnis verrät es, die Überschriften der einzelnen Gedichte, Short-Stories und Kurzgeschichten folgen den 26 Buchstaben des Alphabets. Der Titel des Buches ist überdies Programm, Renate Gutzmer spürt literarisch, dichterisch dem nach, was der Existenz des einzelnen Menschen Gefährdung zu werden vermag, den Verwirrungen des Alltags, den körperlichen Krankheiten wie auch denen des Gemüts. Auch die je eigenen Erinnerungen, die in jedem von uns tief sitzende, eigene schmerzhafte Vergangenheit, die kleinen und großen Verletzungen, all dies zeigt sich in ihren Texten als existenz-, als persönlichkeitsgefährdend.

Die erste der Kurzgeschichten, DAHINGEHEN, schildert eine Frau, ganz in weiße Tücher gehüllt, die aufrecht vor dem Ruderer steht. Es geht über ein Gewässer. Sie fragt ungeduldig wie ein Kind, wie lange es denn noch dauere. Zugleich sind Erinnerungen an ihre Mutter präsent, die eine Art Künstlersalon führte, berühmte Menschen waren zu Gast, die Tochter kochte für Mamis Gäste. Doch Mami hatte Krebs, so heißt es lapidar ganz zu Beginn, Ärztin war die Mutter und auch Künstlerin, die Tochter pflegte sie, immer nur der Schatten, selbst nach der Mutter Tod. Die Identitäten von Mutter und Tochter fließen ineinander, sowie zwei Schatten schließlich einen bilden. Andere Geschichten (etwa GEHEN, HOFFEN) sind ganz und gar realitätsverankert, eingetaktet in die Moderne, das Berliner Großstadtleben, fokussiert auf zwei Menschen, die miteinander zu tun haben, über einen Riss hinweg, konfrontiert mit Krankheit und Zweifel, mit der Frage, wie es denn weitergehen soll. Diese Geschichten, wie auch das orientalische Märchen MERKEN oder die Geschichte zweier Schwestern, zusammen, wie es heißt, hundertvierzig Jahre alt (WIEDERSEHEN), sind allesamt spannende und in souverän-eigenständiger Sprache geschriebene Kurzgeschichten, die den Leser nachdenklich zurücklassen, sich in ihm fortschreiben und nachklingen. 

Ein wenig anders kommen die kleinen, selten den Umfang einer Seite überschreitenden Short-Stories daher, kurz aufblitzende Gedanken, Konfusionen, Absurditäten, Ängste. Die nur elfzeilige Geschichte NACHFRAGEN, jedes Wort wohlgesetzt, offenbart erst auf den zweiten Blick, beim zweiten Lesen den Kern der Lage; Susanne hat ungewollt Elisa etwas preisgegeben, die nun verreisen will, ein paar Tage oder, eben weil sie „es“ wusste, auch länger. Auch in UMGEHEN sind es, wie in fast allen Geschichten, zwei miteinander in Beziehung stehende Menschen, die sich hier zwölf mumiengleichen, aber atmenden Figuren auf einer Bühne gegenüber sehen. Ist das nur Mummenschanz, oder sind die beiden Betrachter gar Teil des Geschehens, selbst mumiengleich, ohne es zu ahnen? Gutzmer gelingt mit wenigen Federstrichen ein geradezu beckettsches, sehr eindringliches Bild. Fragen bleiben, und im Unterschied zu den längeren Geschichten erlöst nicht immer eine Pointe den Leser, wie etwa in der den Band abschließenden, absurd-komischen Story ZECHEN, in der es um ein blutendes, kreisrundes Loch geht.

Auch die Gedichte Renate Gutzmers, sieben an der Zahl, fügen sich sprachlich und thematisch passgenau ein in den lesenswerten kleinen Band. Zwar sind naturgemäß nicht alle Texte gleich stark, doch laden die meisten durchaus ein auch zu einem zweiten Lesen, einem zweiten Blick tief in all diese „Gefährdungen“ hinein.

Renate Gutzmer
26 Gefährdungen
Elsinor
2014 · 132 Seiten · 9,90 Euro
ISBN:
978-3-942788-21-2

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