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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Ludwig XV. und die Erziehung der DDR-Bürger...

...durch gute sozialistische Literatur. Der Historiker Robert Darnton schildert detailliert und lebendig, wie Zensur funktionieren kann.
Hamburg

Was ist Zensur? Wikipedia definiert sie als einen

Versuch der Kontrolle der Information. Durch restriktive Verfahren – in der Regel durch staatliche Stellen – sollen Massenmedien oder persönlicher Informationsverkehr kontrolliert werden, um die Verbreitung unerwünschter oder ungesetzlicher Inhalte zu unterdrücken oder zu verhindern. Oftmals wenden totalitäre Staaten die Zensur verschärft an.

So weit, so einfach. Aber eigentlich kompliziert. Denn Zensur hat offensichtlich viele Gesichter, und es gibt sie auch in Demokratien,

um die Verbreitung (...) ungesetzlicher Inhalte zu unterdrücken oder zu verhindern.

Aufrufe zur Gewalt z.B. sind auch in Deutschland verboten, eine Zensur würde sie "unterdrücken oder verhindern". Die Frage ist also eher: In welchen unterschiedlichen Formen gibt es Zensur und zu welchem Zweck? Wie gehen Zensoren vor und was machen sie genau?

Der Historiker Robert Darnton, ein Spezialist für die Geschichte Frankreichs im 18. Jahrhundert, hat, um ein bisschen Klarheit in die vielen Unsicherheiten über die Rolle der Zensur zu bringen, drei Zeiten genau untersucht: Das Ancien Régime, also zugleich das Zeitalter der Aufklärung im 18. Jahrhundert, das britische Indien des 19. Jahrhunderts und die DDR der Honecker-Zeit in den siebziger und achtziger Jahren. Er zeigt ein differenziertes Bild mit vielen Details und ein erstaunliches: Denn die Zensoren waren in manchen Fällen mehr Ko-Autoren und Helfer der Schriftsteller als die bösen Verbieter von Büchern oder Streicher von gefährlichen Stellen.

In Frankreich war der oberste Zensor, Chrétien-Guillaume de Lamoignon de Malesherbes, dem 130 ehrenamtliche Zensoren unterstanden, sogar ein enger Freund von Denis Diderot, dem Herausgeber der "Encyclopédie", und versteckte dessen Materialien in seinem Pariser Stadthaus. Die meisten Zensoren waren Gelehrte und Literaten, die einen ganz anderen Auftrag hatten: Sie sollten vor allem guten und genehmen Büchern das Siegel des Königs erteilen - „Mit Approbation und Druckprivileg des Königs“ stand dann auf der Titelseite. Darnton schreibt zu diesem Privileg:

Rechtlich gesehen durfte das Buch erscheinen, weil der König Gefallen an ihm fand und ihm seine 'Gnade' erwies.

Es gab dann auch die Bücher, die einfach durchgewinkt und stillschweigend geduldet wurden, weil sie nicht gefährlich waren, aber auch nicht unbedingt empfehlenswert. Unter de Malesherbes gab es mehr solche Bücher als zuvor, denn er wollte auch das Abwandern des Kapitals über die Grenze, an ausländische Verleger, vermeiden. Und dann gab es natürlich auch die verbotenen Bücher, die entweder heimlich und illegal, im Ausland erschienen oder gar nicht. Das waren aber nicht immer die philosophischen, aufklärerischen Titel, sondern oft die pornografischen Bücher, in denen Adel oder Klerus eine nicht immer ehrenwerte Rolle spielten (alle anderen durften erscheinen, natürlich ohne Privileg). Wie der Schlüsselroman „Tanastès“, der 1745 das Liebesleben Ludwigs XV. ausbreitete, in dem man den gesamten Hof wiederfand. Die Verfasserin, Marie-Madeleine Bonafon, eine Kammerzofe der Princesse de Montauban, kam ein Jahr in die Bastille und weitere zwölf Jahre in ein Kloster ohne Kommunikationsmöglichkeiten nach draußen.

Oft aber, und das ist sicherlich eine Überraschung, wurden Bücher verboten, die von den gelehrten Zensoren als schlecht geschrieben gekennzeichnet wurden. Ein Zensor schrieb: „Der Stil ist miserabel“, einer geißelte den "lockeren und ausgelassenen Ton" eines Traktats über Kosmologie, einer fand eine Biografie Mohammeds als "oberflächlich und unzulänglich recherchiert". Sie waren also eher Lektoren, die Gutachten schrieben, und wichtig war ihnen allesamt vor allem die „Ehre der französischen Literatur“, die damals einen hohen Standard hatte.

In der britischen Kolonie Indien benutzten die Briten vor allem ordnungsgemäß durchgeführte Straf- und Zivilprozesse, um Bücher und Zeitungen im nachhinein zu zensieren. So wurde der Priester James Long von englischen Plantagenbesitzern wegen Verleumdung verklagt und verurteilt, weil er für den Indian Civil Service, die Zivilverwaltung Indiens, die englische Übersetzung eines Buches herausgegeben hatte, das die Unterdrückung einheimischer Bauern durch englische Indigo-Plantagenbesitzer anprangerte. Eigentlich handelten die britischen Behörden mit dieser Praxis im Widerspruch zu ihrer eigenen liberalen Verfassung. Deswegen versuchten sie möglichst wenig Aufsehen zu erregen, damit die Öffentlichkeit im Mutterland möglichst nichts davon mitbekam. Zudem war damals vielen Zensoren auch anzumerken, dass sie im guten Glauben handelten, den kolonisierten Völkern "die Zivilisation" zu bringen. Häufig wurden die Gerichtsverhandlungen zu halben Seminaren über das Verständnis und die Auslegung von Literatur, ein Streit darüber, wie man die blumige indische Literatur mit ihren Rückgriffen auf die hinduistischen Mythen zu verstehen habe.

Auch in der DDR dachten viele Zensoren, sie würden Gutes tun, für die Literatur arbeiten. Für sie ging es nicht nur darum, klassenfeindliche Äußerungen zu verbieten, sondern auch gute, sozialistische Literatur zu schaffen, um damit auf die Bevölkerung erzieherisch einzuwirken, ganz im Sinn des „Kultur- und Leselands DDR“, wie es hieß. Darnton gelang es 1990, ehemalige hochrangige Mitarbeiter der "Hauptabteilung Verlage und Buchhandel" (HV) zu interviewen, die davon überzeugt waren, der Literatur wirklich geholfen zu haben.

Immer wieder wird bei Darnton deutlich, wie sehr Autoren, Lektoren, Verlage, Gutachter und Zensoren zusammenarbeiteten. Denn natürlich haben die Zensoren die Manuskripte erst bekommen, wenn alle vorherigen Instanzen alles Gefährliche schon herausgenommen hatten. Politisch korrekt musste das Manuskript sein. Ein Beispiel ist Volker Brauns "Hinze-Kunze-Roman", der 1981 beim Verlag ankam, dreimal gemeinsam mit dem Autor durchgegangen wurde und dann mit vier Gutachten an die Zensurstelle ging. Die HV konnte sich nicht entscheiden und gab das Manuskript an den Chef, Vizekulturminister Klaus Höpcke. Der entschied, auch aufgrund einer Anweisung des Zentralkomitees der SED, dass es im Jubiläumsjahr 1984 ein zu problematisches Buch war, es kam im August 1985 heraus. Als es dann doch noch einen Skandal gab, wurde der Verkauf gestoppt, erst 1988, nach der Perestroika, kam es zu einer zweiten Auflage. Auch in der Zensur der DDR änderten sich übrigens die Verhältnisse. War die HV anfangs noch eine bürokratische Macht, passierten später viele Bücher die Zensur: Bekannte Autoren konnten verhandeln, drohten mit einer Publikation im Westen oder mit Ausreise.

Auf knapp 360 Seiten macht der renommierte Historiker deutlich, wie unterschiedlich eine Zensurpraxis sein konnte. Natürlich gab es auch verheerende Verfolgungen von Autoren in der Neuzeit, lange Haftstrafen, wirtschaftlichen Ruin, gesellschaftliche Ächtung. Erstaunlich bleibt aber, dass das Selbstverständnis von Zensoren meist anders ist als angenommen. Nicht die böse, einseitige Unterdrückung, nicht die einfache Ausübung von Macht spielte oft eine Rolle, sondern der Versuch, etwas Gutes zu tun - auch wenn wir das heute anders sehen. Darnton ist bekannt dafür, dass er solche Zusammenhänge und die historischen Bedingungen trotz aller Detailfülle prägnant und lebendig erzählt, statt aufzuzählen. Und auch dieses Buch besticht nicht nur durch die Fülle an ausgebreiteten Archivmaterialien und reflektierten Diskursen, sondern ist auch flüssig und oft sogar literarisch zu lesen, wie nur ein angelsächsischer Gelehrter erzählen kann.

 

 

Robert Darnton
Die Zensoren
Wie staatliche Kontrolle die Literatur beeinflusst hat
Übersetzung:
Enrico Heinemann
Siedler / Random House
2016 · 368 Seiten · 24,99 Euro
ISBN:
978-3-8275-0062-5

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