Lesart
Wilhelm Heinrich Wackenroder* 1773† 1798

 

 

Süße Ahndungsschauer gleiten
Über Fluß und Flur dahin,
Mondesstrahlen hold bereiten
Lager liebetrunknem Sinn.
Ach, wie ziehn, wie flüstern die Wogen,
Spiegelt in Wellen der Himmelsbogen.

Liebe in dem Firmamente
Unter uns in blanker Fluth,
Zündet Sternglanz, keiner brennte,
Gäbe Liebe nicht den Muth:
Uns, von Himmelsothem gefächelt,
Himmel und Wasser und Erde lächelt.

Mondschein liegt auf allen Blumen,
Alle Palmen schlummern schon,
In der Waldung Heiligthumen
Wallet, klingt der Liebe Ton:
Schlafend verkündigen alle Töne,
Palmen und Blumen der Liebe Schöne.

 

Aus: W. H. Wackenroder, Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst. Herausgegeben von Ludwig Tieck. Hamburg 1799., S. 144

Ahndungsschauer und das Glotzen der Romantik

Als Bertolt Brecht 1922 „Glotzt nicht so romantisch!“ wettert, greift er auf, was Georg Friedrich Kersting bereits 1815 in seinem Gemälde Auf Vorposten1ins Bild gesetzt hat: Im dunklen Eichenwald glotzen drei Mitglieder des Lützowschen Freicorps gefühlssatt und gedankenschwer vor sich hin. Eine Ikone der deutschen Romantik.

Solch eine seltsame Synthese aus Soldatischem und Hippieeskem entsteht, wenn eine schwere politische Niederlage mit adoleszenten Entgrenzungsphantasien kollidiert. So war es in der Endphase des Vietnamkriegs, als der amerikanische Traum zum Alptraum wurde und die jungen Leute Hesses Steppenwolf verschlangen.Genau so war es, als Napoleons hochmoderne Armee ein Deutschland überrannte, in dem das Mittelalter noch nicht zu Ende war und die jungen Leute sich von den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders inspirieren ließen. Schon der Titel dieses 1796 erschienen Buches von Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck umreißt das Programm der deutschen Romantik.

Hermann Hesse schwärmt noch 120 Jahre später davon: Dort finden wir alles, was uns heute fehlt: Glaube, Moral, Ordnung, Seelenkultur2– eben jene Synthese aus Hippieeskem und Soldatischem, Leitbilder und Orientierung, vibrierende Spiritualität, kniefällige Bewunderung der geistigen Schlichtheit, Versenkung ins eigene Gefühl. Was Hesse da als Seelenkultur bezeichnet, ist bereits vom Wortsinn her fragwürdig. Sowohl Seele als auch Kultur sind nahezu beliebig mit Inhalten befüllbar. So ein Begriff ist der ideale Kampfspaten für ideologische Grabenkriege.

Wo Hesse Seelenkultur wähnt, findet Heinrich Heine eine kindische Draperie vor, die allein im rückständigen Deutschland mehr verspricht als sie halten kann:

Die Mode des Gotischen war in Frankreich eben nur eine Mode, und sie diente nur dazu, die Lust der Gegenwart zu erhöhen. Man läßt sich die Haare mittelalterlich lang vom Haupte herabwallen, und bei der flüchtigsten Bemerkung des Friseurs, daß es nicht gut kleide, läßt man es kurz abschneiden mitsamt den mittelalterlichen Ideen, die dazu gehören. Ach! in Deutschland ist das anders. Vielleicht eben weil das Mittelalter dort nicht, wie bei euch, gänzlich tot und verwest ist. Das deutsche Mittelalter liegt nicht vermodert im Grabe, es wird vielmehr manchmal von einem bösen Gespenste belebt und tritt am hellen, lichten Tage in unsere Mitte und saugt uns das rote Leben aus der Brust...3

Peter Hacks setzt die Seelenkultur gleich mit intellektueller Dürftigkeit:

Törichte Leute werden von törichten Leuten kapiert. Es gibt an den romantischen Erzeugnissen gar nichts zu begreifen, aber eben das ist dem romantischen Bewunderer lieb, welcher unbeschämt davonkommt. […] So wie die Mehrheit der Autoren nur Romantik zu produzieren vermögen, schätzt die Mehrheit des Publikums Romantik um der Mühelosigkeit des Rezipierens willen. Unfähigkeit ist irgendwie ein anderes Wort für Mehrheitsfähigkeit. Der Zahnlose bevorzugt Brei als Mahlzeit.4

*

Da stellt sich also eher die Frage, was in Wackenroders Gedicht sich nicht im so oder so definierten Epochenbegriff auflöst.

Das ist zunächst einmal das Metrum. Die beiden sechszeiligen Strophen bestehen je aus einem trochäischen, kreuzgereimten Vierzeiler (Romanzenstrophe) und einem unregelmäßig daktylischen Zweizeiler, paargereimt. Die Vierzeiler sind kreuzbrav und schulmäßig, klingen aber nicht so fade, wie es der in Romantik inflationär gebrauchte jambische Vierzeiler (Volksliedstrophe) sein kann. Spannender geht es in den Zweizeilern zu: Während die die Vierzeiler „analytisch“ beschreiben, was das Gefühl in die Natur hineinprojeziert, „synthetisieren“ die Zweizeiler ein dreifaches Ideal: Erstens: Das Himmlische spiegelt sich auf Erden in dem, was ihm am ähnlichsten ist. Zweitens: Wir sind, beseligt vom Hagion Pneuma (heiligen Atem), von der Natur geliebt. Drittens: Ähnlich den Himmlischen in Hyperions Schicksalslied verkündigen Töne, Palmen und Blumen eine universelle, objektlose Liebe. Dieses dreifache Ideal ist als philosophische Denkfigur vielleicht interessant, erst das Metrum aber erzeugt den notwendigen Empfindungssog. Denn der Daktylus ist als dreisilbiges Metrum lebhafter als der gleichförmige Tritt der Zweisilber. Und wenn dann noch hin und wieder eine Silbe über zwei unbetonte Stellen gelegt wird, wird eine Dehnung erzeugt, die im Widerspruch zur Nichtbetonung steht. So entsteht im Vers eine vitale Rhythmik, die das Fließende, Drängende des Gefühls zum Ausdruck bringt, so dass es hier nicht bloß semantisch behauptet wird:

x

x

x

x

x

x

x

Ach,

wie

ziehn,

wie

flü

stern

die

Wo

gen,

Spie

gelt

in

Wel

len

der

Him

mels

bo

gen.

Uns,

von

Him

mels

oth

em

ge

chelt,

Him

mel

und

Was

ser

und

Er

de

chelt.

Schla

fend

ver

kün

di

gen

al

le

ne,

Pal

men

und

Blu

men

der

Lie

be

Schö

ne.

Dann ist da die Komposition der Klänge: Die stimmhaften Konsonanten dominieren, vor allem l, m, n. Schon die erste Strophe zeigt einen großen Vokalreichtum, ohne in aufdringliche Lautmalerei zu verfallen:

ü

(ə)

Ah

(u)

au

(ɐ)

ei

(ə)

 

 

Ü

(ɐ)

u

(u)

u

(a)

i

 

 

 

o

(ə)

ah

(ə)

ɔ

(ə)

ei

(ə)

 

 

a

(ɐ)

ie

(ə)

u

(ə)

i

 

 

 

A

(ie)

ieh

(ie)

ü

(ɐ)

(ie)

o

(ə)

 

ie

(ə)

(i)

ɛ

(ə)

(e)

i

(ə)

o

(ə)

Damit entsteht ein breites Klangfarbenspektrum, in dem harte Konsonanten und Zischlaute die dominierende Weichheit des Klangs komplementär ergänzen.

*

Schließlich die Syntax: Hier finden sich Ambivalenzen, die die kommunikative Sprache nicht zulässt. Doch in der Lyrik gilt das Gebot der Einfachcodierung nicht. Hier darf z.B. unentschieden bleiben, ob ein Wort als nachgestelltes Adjektiv fungiert oder als vorangestelltes Adverb, wenn die Eigenschaft, die es ausdrückt in beiden Funktionen Sinn ergibt: Mondesstrahlen hold bereiten […]. Auch der intransitive Gebrauch von spiegeln irritiert: Spiegelt in Wellen der Himmelsbogen – Nicht spiegelt sich der Himmelsbogen oder spiegeln ihn die Wellen. Spiegeln ist hier synonym mit glänzen, so wie ein frisch gebohnerter Fußboden spiegelt. Dennoch gehört zu der Vorstellung des Spiegelns ein Bild. Hier fällt diese Vorstellung entweder fort, oder es heißt, dass das Bild gar kein Abbild ist, sondern vielmehr der Himmelsbogen unmittelbar in den Wellen anwesend ist.

Bei genauem Hinsehen noch rätselhafter erscheinen die Verse Liebe in dem Firmamente / Unter uns in blanker Fluth. Ist die Liebe in dem Firmamente und zugleich unter uns in blanker Fluth, oder ist das Firmament selbstunter uns in blanker Fluth? Hier liegen zwei transparente Bilder übereinander, die nicht völlig kongruent sind. Zwei Lesarten davon, wie Oben und Unten aufgehoben sind in jenem Zustand der Schwerelosigkeit, den die beiden Anfangsverse benennen. Selbst die elementaren Unterschiede sind aufgehoben, alles verschmilzt ineinander zu einer einzigen Physiognomie: Himmel und Wasser und Erde lächelt (nicht: lächeln).

*

An derartigen Einzelheiten wird deutlich, dass mit bloßer Gefühligkeit so einem Gedicht nicht beizukommen ist. Wer zu erfühlen sucht, wie es denn wäre, mit süßen Ahndungsschauern dahinzugleiten, sieht und hört nichts. Außer dem rosa Rauschen der eigenen Sentimentalität, das sich nach außen als Glotzen sichtbar macht. Aber auch mit dem Epochenbegriff ist dem Gedicht kaum beizukommen. Eine exemplarische Zuordnung bewirkt lediglich Urteile wie „Kitsch“ oder „besonders wertvoll“, mit denen sich trefflich hausieren gehen oder im Graben kämpfen lässt. Was nun umgekehrt nicht heißt, sich dem emotionalen Sog des Gedichts entziehen und den Epochenbegriff ignorieren zu müssen, denn beides gehört zum Fundus des Gedichts. Aber sie machen es nicht aus. Ohne sie wäre nicht feststellbar, dass die Ahndung, bei Adelung die dunkele Empfindung des Zukünftigen, und die Gänsehaut, die sie erzeugt, der Ahndungsschauer, der Schlüssel zum Gedicht ist. Damit nimmt Wackenroder bereits 1796 zentrale Motive der romantic all time favourites vorweg, Novalis‘ Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren (1800) und Eichendorffs Mondnacht (1835). Die Ahndungsschauer sind der Treibsatz, der das narzisstische Entgrenzungsbegehren über das unmittelbare körperliche (erotische) Bedürfnis hinaus ins Kosmisch-Spirituelle katapultiert. Auf dem Seelenflug über Fluß und Flur werden Wälder zu Heiligthumen, in denen befremdlicherweise Palmen schlummern. Warum keine Eichen? Weil Eichen nicht die Ankunft Christi verkündigen. Dergestalt nimmt die Seele Fahrt auf in die panerotische Verschmelzung von Oben und Unten, Dieseits und Jenseits. Diese hippieeske Vision, bei der man sich nebenher fragt, was auf Kerstings Gemälde da in der Pfeife des Mannes mit dem Eisernen Kreuz eigentlich so knistert und knastert, ist aber keine reine Manifestation von love and peace. Denn das Entgrenzungsbegehren, das in seinem Narzissmus ja zunächst unmittelbar körperlich, also individuell ist, ist anders als z.B. in Eichendorffs Mondnacht einem Kollektiv zugeordnet, das von Himmelsothem gefächelt ist. Wo ein Wir ist, sind auch die Anderen, die, die nicht von Himmelsothem gefächelt sind. Diese Nichteingeweihten werden einerseits gebraucht, um das eigene Besonderssein zu bestätigen, andrerseits werden sie als Bedrohung empfunden, weil sie den Himmelsothem nicht spüren, dafür aber wohl, dass sie nichts Besonderes sind. Das Gedicht markiert damit eine Literatur, die sich der didaktischen und humanistischen Schlacken von Aufklärung und Klassik entledigt hat. Indem das Gefühl seinem Entgrenzungsrausch durch die blaue Unendlichkeit einer spirituell aufgeladenen Natur gleitet, kommt zum Hieppieesken das Soldatische. Es sorgt dafür, dass der Seelenflug ungefährdet bleibt und keine Neiddebatten aufkommen. In schwarzer Phantasieuniform wird der Vorposten auf der Eichenlichtung gehalten und, das Gewehr im Anschlag, geglotzt.

Trotzdem: Manchmal, wenn ich an Wackenroders Gedicht denke, überkommt mich – wie den Fernfahrer in der Mondnacht der Sekundenschlaf – so ein Sekundenglotzen.

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