Istanbul Bootleg

Gedichte

Autor:
Gerrit Wustmann
Besprechung:
Mónika Koncz
 

Gedichte

Kreisende Möwen. »Istanbul Bootleg« von Gerrit Wustmann.

14.08.2013 | Hamburg

Zaman


vom möwenturm ans goldene

ufer wachsen lichtflecken aus flüsternden steinen

sie flüstern vom dichter

            milli hain milli hain

vom flug nach asien und dem blattgold

auf postkarten: was die verblichenen gesichter

erzählen was die zigeuner verkaufen am stacheldraht

an der kirche am zeitgewächs

an zeilen

 

Die scheue Schönheit kleiner Dinge ist der Titel einer Sammlung von Gedichten von Hugo von Hofmannsthal und es wäre ein ebenfalls passender Titel für Gerrit Wustmanns Gedichtband Istanbul Bootleg. Was das lyrische Ich auf seinen Streifzügen durch die Stadt am Bosporus aufspürt, ist die schlichte Schönheit kleiner Dinge und Beobachtungen: stumme Katzenpfoten, mit roter Farbe an die Wand gesprühte Jahreszahlen, schweigende Teppiche, eine Handvoll Pistazien, sonnengebleichte Augen…

Istanbul Bootleg ist der zweite Band eines dreiteiligen Gedichtzyklus über Istanbul. Für das darin enthaltene Gedicht zaman erhielt der Autor, der u.a. auch Herausgeber persischer Lyrik im deutschsprachigen Raum ist, 2012 den postpoetry.NRW-Lyrikpreis.

Wie auch in diesem Gedicht werden die Gedichte leitmotivisch immer wieder von Möwen durchflogen. Wie die Vögel über das Meerwasser, kreist auch der Band immer wieder über zwei zentrale Themen: Stimme und Schrift. Istanbul ist eine Stadt der Rufe und Zeichen. Eine Stadt des Gesangs und der Ornamente.

Der Tag ist getaktet durch das fünfmalige Rufen der Muezzin vom Minarett, nach dem man sich die Uhr stellen kann. Auf den Märkten, in den Gassen, über die Brücken schallt das Rufen der Händler und Sesamkringelverkäufer.

Das Wort bootleg bezeichnet nicht autorisierte Tonaufnahmen und Mittschnitte. Der zweisprachige Band Istanbul Bootleg ist der Versuch die Seh- und Höreindrücke der Millionenstadt unzensiert und ungefiltert zu verschriftlichen. Die unmittelbaren Eindrücke in leichte, bildliche Verse zu überführen. Immer wieder schleichen sich daher Turzismen als Zwischenrufe in die Verse hinein, als Mitschnitte des belebten Stimmenwirrwarrs.

Passend dazu liegt dem Band ein Hörbuch bei, in dem der Autor selbst die deutschen Texte und die türkischstämmige Schriftstellerin Oya Erdoğan die türkischen Übersetzungen liest.

Neben der Vielzahl der Stimmen und Rufe, ist die Stadt auch durchzogen von lesbaren und von geheimnisvollen Zeichen:

 

die ornamente

im staubigen boden

lösen sich auf die gegenwart

vergeht auf nassen wänden

zeichnen sich muster ab

die schrift an der wand

wölbt sich zur nacht die schrift

ein bröckelndes gold

ein brackendes wasser und

flüsternde algen die ornamente

in den händen der betenden

zur morgenröte bricht der klang

wo das licht sich trifft

an diesem einen punkt aus

tausend fenstern unter der kuppel

die ornamente auf marmor

und staub


Es geht Gerrit Wustmann nicht um Deutungen oder Bewertungen. Das beschworene mene mene tekel uparsin, die Schrift an der Wand, die einst König Belsazar so erschreckte, sie bleibt unbedrohlich. Kündigt nicht das Ende eines Königreichs an. Die Zeichen sind günstig. Die Betenden sind fromm und gottgefällig. Zur Morgenröte kommen Licht und Klang, das Visuelle und das Auditive, um das der Band kreist, sogar endlich zusammen, in dieser scheinbar zeitlosen Stadt.

Istanbul Bootlegist ein Streifzug durch Bilder, Stimmungen, Sinneseindrücke. Die Gedichte sind leserfreundlich, leicht, zugänglich, hell und unmittelbar, zuweilen aber leider auch etwas banal. Wer sich aber immer wieder daran stößt, dass zeitgenössische Lyrik unverständlich, privatistisch oder abgehoben sei, dem dürfte dieser Band eine große Freude bereiten.

Den Gedichten vorangestellt ist ein Vorwort des türkischstämmigen Schriftstellers Doğan Akhanli. Eine ebenfalls poetische Liebeserklärung an Istanbul, die dunkle Schönheit am Bosporus, und natürlich an die Literatur.

 

Da schlenderte ich eine Weile an alten Gedichtbänden vorbei.

Dann fragte ich den Verkäufer, wo ich Gedichte finden kann, die noch nicht geschrieben worden sind.

Er sagte es mir.

 

 

Gerrit Wustmann: Istanbul Bootleg.  Übersetzung: Miray Atli, 17,90 Euro, ISBN 978-3943562255. binooki 2013.

Monika Koncz hat zuletzt über »Sind Flügel wohl…« von Momčilo Nastasijević auf Fixpoetry geschrieben.



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