VATERLAND (2002)
Silberne Taube, Dok Leipzig
Visions du Réel: Preis der SRG SSR idée suisse
Dokumentarfilm, D 2002, 102 Min, 35mm, Farbe, 1:1.33
DVD: Revolver Edition Nr. 6
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Buch, Regie Thomas Heise Regieassistenz Thomas Schneider Kamera Peter Badel, Jutta Tränkle, Thomas Heise, Peter Grätz Kamera-Assistenz Anja Simon Trick Bettina untzsch Schnitt Gudrun Steinbrück; Schnittassistenz Monika Preischl Ton Uve Haussig Ton-Bearbeitung Sven Piesker Mischung Martin Steyer Post-Produktion Mike Gürgen Mitwirkende Otto Natho, Volker Paul, Rudi Garlipp, Monika Kirchhoff, Hendrik Kirchhoff, Marco Paul, Erik Paul, André Paul, Rita Giese, Klaus Müller, Axel Göhrke u.a. Produktion Ma.Ja.De. Filmproduktion GmbH in Co-Produktion mit MDR und in Zusammenarbeit mit Arte Produzent Heino Deckert Redaktion Beate Schönfeldt Produktionsleitung Meike Martens Drehort Sachsen-Anhalt, Straguth-Badewitz UA 18.10.2002 Internationales Festival für Dokumentar- und Animationsfilm Leipzig Kinostart 20.11.2003 Erstsendung 22.05.2004, Arte
Im Dezember 1944 schreibt Wilhelm einen zu schmuggelnden Brief aus Berlin an seine 18 und 19jährigen, ins Zwangsarbeitslager auf einen Fliegerhorst in Sachsen – Anhalt deportierten Söhne Hans und Wolf. Er hat Angst um sie. In ihrer Antwort versuchen die Jungen ihren Vater zu beruhigen, die Aussicht sich erst auf der anderen Seite wiederzusehn vor Augen. Im Dezember 2001 hackt Otto Holz in Straguth, heizt dann den Ofen und öffnet seine Kneipe. Dann saufen die Bauern des Dorfes, bis schließlich auch Rudi als Letzter nach Hause geht zu seiner dort wartenden Lotti. Fünfzehn Jahre früher, in der DDR, sitzt Rudi mit Lotti der Promenadenmischung noch auf dem Hof und Jagdflugzeuge der Siegreichen Roten Armee donnern im Tiefflug über das Dorf, dass man sein Wort nicht mehr versteht und landen im JETZT vor einem Weidezaun hinter dem Schafe grasen. OH YOU WIDE STEPPE. Im Umsiedlerhäuschen am Dorfrand, das sie mit Henk, dem Fährmann aus Barby bewohnt, legt Moni Wäsche zusammen und hängt die Gardinen auf. Die russischen Worte weiß sie nicht mehr und träumt von den bemalten Frauen der russischen Offiziere. Straguths neue Feuerwehr wird mit Schnaps getauft und die Blasmusik spielt, bis der 14jährige betrunkene Feuerwehrnachwuchsmann Erik von seinem 18jährigen Bruder André die Treppe hinauf ins Bett getragen wird. Ihr Vater Volker, verlassen von seiner Frau seit einem halben Jahr, sitzt in der Küche und kennt keine Angst, während im Kinderzimmer sein erstgeborner Sohn Marco die Bundeswehruniform anzieht, um sich dann zu seiner Freundin Susanne aufs Sofa zu setzen und mit ihr einen wissenschaftlichen Film über das Ende des Universums anzuschaun, die unendliche Beschleunigung ins Nichts. Und das Trompetenduo Rita und Klaus als goldgeflügelter Engel und als Weihnachtsmann spielt und singt zuhause vor der Schrankwand vom Himmel und braven Schafen und vom Kleinsbübchen so ganz allein. Vom Fliegerhorst her hört man Explosionen durch die Vollmondnacht grummeln und als die vorbei ist stapeln schweigende Arbeiter Holzscheite in der Stille der verlassenen Bunker des Fliegerhorsts und Klaus, der Trottel flüstert mit seinem struppigen Hund, und über beiden, im flachen, grellen Sonnenlicht, das den Staub tanzen lässt, steht ein gerahmtes Foto auf der Schrankwand mit der ehemaligen Frau von Klaus darauf und den ehemaligen Kindern. Auf seinem Hof kämpft Axel mit seinen zottigen Schäferhunden, wirft einen schreiend auf den Rücken, kniet sich auf seine Brust, und zählt hastig die vierzehn Jahre Knast aus Marschieren, Schlagen und Geschlagen Werden, Putzen und Heimweh her. Erik, zu Hause auf Volkers Hof, schmückt den Weihnachtsbaum während RAMMSTEIN aus der Stereoanlage dröhnt „Sehnsucht versteckt / sich wie ein Insekt“ und Rudi sitzt schon wieder bei Otto und trinkt den letzten Schnaps vorm Fest. Die Kirchenglocken schlagen als in der Guten Stube Volker und seine drei Söhne, das Abendmahl verzehren, Axel seine Tochter liebt, weil sie funktioniert und Otto an die Hölle denkt, nur Knochen bleiben, Kalk, während der Divisionsgefechtsstand unter Bomben und Beschuss BERLIN KOMMT WIEDER meldet und in Straguth die Hähne schreien unter dem roten Schild „Für das Glück der Familie“, und Moni sich Gedanken macht, ihr Haar zu färben: „Ich bin froh, dass ich hier bin, ich muss doch nicht glücklich sein, und Wolf aus dem Zwangsarbeitslager an seinen Vater schreibt HIER MUSS JEDER OHNE MASKE LEBEN und in den JETZT verlassnen Gebäuden auf Plakate gedruckte junge Frauen mit frisch zerschossnen Gesichtern, zerschossnen Brüsten und zerfetzten, schwangeren Bäuchen, Trainingsziel für die INTERNATIONAL TRAINING DIVISION darstellen, RUDI mit dem Rad zur tausendjährigen Eiche fährt, um unter ihr herrlich zu schlafen, während OTTO auf die Bühne des Tanzsaals seiner Kneipe klettert und vor dem hundertjährigen, verwitterten Prospekt eines Schwanenteichs seiner DUNJA dem Schäferhund das Fell bürstet und dann mit ihr einen Zweikampf kämpft.
Der nicht stringent, sondern wie ein Puzzle aufgebaute Film, dessen Bilder rauh und dessen Töne verwaschen sind, besticht durch Authentizität. Durch Monologe der Straguther, Briefe aus dem hier von den Nazis errichteten Internierungslager und in den achtziger Jahren heimlich aufgenommenes Videomaterial wird die Geschichte des Ortes als Geschichte von Schicksalen in Grau erkundet… dann spiegelt das Nest im Nirgendwo auf erschreckend rabiate Weise typischen Alltag aus dem Hier und Heute.
Berliner Morgenpost 20.11.03
Unweit von Straguth waren Thomas Heises Vater und Onkel gegen Ende des zweiten Weltkrieges in einem Zwangsarbeitslager interniert. Als junger Mann fand er die Post, die sie aus der Gefangenschaft nach Hause, ins damals wie heute unendlich weit entfernte Berlin schickten – beschwichtigende, beschreibende Briefe, die in Heises Film eine seltsame Gegenwärtigkeit entwickeln. Das Dorf und seine Umgebung werden zu Knotenpunkten unterschiedlichster Zeitlinien. Die Hoffnung der einst Internierten auf eine bessere Zukunft verbindet sich mit Herrn Nathos Geschichten von den russischen Befreiern und die wiederum mit den Bildern des verfallenden Truppenübungsplatzes, der zuletzt von der NATO genutzt wurde. Auf dem Boden liegen zerschossene Aufnahmen von schwangeren Frauen, mit denen die Hemmungen der Schützen herabgesetzt werden sollen. Einmal sehen wir einen Halbwüchsigen in Bundeswehruniform, der mit seiner Freundin auf dem Wohnzimmersofa sitzt , während im Fernsehen eine Wissenschaftssendung läuft. Es ist von Galaxien die Rede und und vom Ende des Universums von negativer Materie und von Schwarzen Löchern. Plötzlich wirkt Straguth nur mehr wie ein Staubkorn im All und die Geschichte wie der lächerliche Versuch, Ordnung in einen gänzlich desolaten Molekülhaufen zu bringen. Als wolle sie sich damit nicht abfinden, streicht die Kamera weiter über die Ruinen des Truppenübungsplatzes . Doch findet sie wenig mehr, als eine vergilbte russische Zeitung in der die Perestroika noch im vollen Gange ist.
Die Zeit 20.11.03
Straguth ist ein Ort im Niemandsland, deren Bewohner wie in einem Zwischendurch leben. Die Vergangenheit ist noch präsent, und ob es eine Zukunft gibt, ist ungewiß. VATERLAND ist ein Film über Ablagerungen von Geschichte. Und Heise verfolgt die Spuren der Geschichte in den Dingen.
Die Geschichte und ihre Sedimentierungen war immer schon ein Thema von Heise: In EISENZEIT 1990 ging es um die desillusionierten Kinder der „ersten sozialistischen Stadt auf deutschem Boden“, in STAU – jetzt geht’s los 1993 forschte er dem Zeitenwechsel nach, der Rechtsradikale erzeugt.
VATERLAND ist sein vielleicht erratischster Film. Aber auch sein poetischster.
epd film 12/03
VATERLAND ist ein Film jenseits aller aufklärerischen Gesten. Er ist das Porträt einer Geschichtslandschaft mit Figuren ohne einen „Ich“ schreienden Autor, fragmentarisch, obsessiv und von einer fast unerträglichen Präzision. Wie Kompost schichtet Heise seine Bilder auf, schickt die Zuschauer in einen Zeitstrudel der mitunter Schwindelgefühle verursacht. Ein Vergleichsrahmen findet sich für VATERLAND nicht im Kino, vielleicht aber in der Malerei.
Berliner Zeitung 20.11.03
Die Kinder des Sozialismus sind nicht versöhnt. 1990 hat die DDR als Staat aufgehört zu existieren. Als Vaterland aber besteht sie weiter. In VATERLAND stehen am Ende die Sedimente der Geschichte. Die Kamera gleitet an den Mauern entlang und findet eine Brutalität von Stein, die von der Natur liebkost wird. Thomas Heise ist der bedeutendste Historiker des deutschen dokumentarischen Kinos.
FAZ 27.11.03
Der Film ist atemberaubend schön und zum Heulen wahrhaftig. So sieht es aus der Nähe aus, das Vaterland. Es gibt ja kein andres. Irgendwo, nahe bei Straguth.
Mitteldeutsche Zeitung 11.12.03
Heise artikuliert einen autobiographischen Ansatz im Titel, verweigert aber jeglichen weiterführenden Erklärungsapparat. Nur drei von ihm selbst aus dem Off verlesene Texte verweisen auf diese Zusammenhänge. Eine zunächst sehr privat anmutende Archäologie, die durch ihr radikale Ambivalenz weit über den familiären Rahmen hinausweist. Nahezu jeder andre Filmemacher hätte sich vor Ort an eine klassische Spurensuche gemacht und versucht, Zeitzeugen dingfest zu machen, hätte sie mit historischen Fakten konfrontiert und auf Positionierungen bestanden. Nicht so Thomas Heise. Ihm geht es nicht um die Herstellung moralisch auswertbarer Konstellationen. Nicht der politisch korrekte und ethische Nutzwert einer filmischen Situation interessiert ihn, sondern die eigne Erfahrung bei der Begegnung mit dem im unscheinbaren Straguth waltenden „genius locci“.
Heises Filme sind Selbstversuche, Zerreißproben, deren freigesetztes energetisches Potential filmisch akkumuliert wird. Genau aus diesem Umstand resultieren Unberechenbarkeit und Innovation. Man muß nur genau hinsehen und die Schwingungen aufnehmen.
Filmdienst 24/2003
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