Haben die imaginären Räume jemals den male gaze hinter sich gelassen?

Unbedingt lesen! In der neuen Ausgabe von CARGO gibt es einen exzellenten Essay von Cristina Nord: Beide Augen schließen sich.

Alles, was Cristina Nord hier übers Kino und die Welt des Films berichtet, kennen wir exakt so aus der (Kriminal)Literatur. Die Kino- wie die Krimiwelt sind »endlessly fascinated by representations of male bad behavior: obsessive, dominating, abusive, violent« (Girish Shambu) – ungebrochen fasziniert von Abbildungen männlichen Danebenverhaltens: zwanghaft, anmaßend, übergriffig, gewalttätig.

#makewomenvisible

Als eine, die extrem viel Kriminalliteratur liest, bin ich wie Cristina Nord bis heute ständig am Zweifeln, ob die imaginären Räume auch nur ansatzweise den male gaze hinter sich gelassen haben. Auch wenn wir in den letzten Jahren viel Freude an niveauvoll reflektierender Vernetzung rund ums Krimigenre hatten, wozu insbesondere die »Krimis machen«-Konferenzen zählten, überschatten die althergebrachten blinden Flecken auch solche Zusamenkünfte denkender, krimiaffiner Menschen in erschreckendem Ausmaß. An »Krimis machen 4« in Köln muss ich unwillkürlich denken, wenn ich bei Cristina Nord diese Sätze lese: »Wo immer ich mich aufhielt, um das Schaffen von Regisseur*innen kennenzulernen oder mein Wissen darüber zu vertiefen, traf ich auf Filmkritikerinnen, Festivalarbeiterinnen und Filmemacherinnen. Die Kollegen hatten andere Termine.«

»Zeit für Workshops zum Thema Privilegien, wie man sie abbauen kann und was man gewinnt, wenn man das tut?« fragt Cristina Nord trocken. Das behalten wir mal für die nächste Genre-Zusammenkunft im Auge, ja?

Und bis dahin werden wir uns wohl immer wieder als feminist killjoy betätigen, ein Konzept, das Nord ebenfalls erläutert und das wir aus der Literatur bestens kennen – sei es in Gestalt von #frauenzählen oder anderen Kämpfen um Diversität und Einzug von nichtmännlichen Perspektiven in die Große Erzählung. Viele von uns, die wir auf Sichtbarkeit beharren, trifft der Vorwurf der Spielverderberin, weil wir die »automatisierte Ehrererbietung« (Nord) verweigern. Die Rolle der feminist killjoy scheint mir kreativ und ausbaubar. Bis das Spiel besser wird.

Den CARGO-Artikel bitte hier lesen:

https://www.cargo-film.de/heft/50/essay/beide-augen-schliessen-sich/

https://www.film-rezensionen.de/wp-content/uploads/2011/06/Geheimnis-hinter-der-T%c3%bcr-Frontpage.jpg

#makewomenvisible

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Das Landei zu Monika Geiers „Voll fiese Flora“

Liebes Stadtkind,

so viele Monate sind verstrichen, in denen es unmöglich war, Dich aufs Land einzuladen, dass es Zeit wird für Aufklärung, damit Dir das Draußen nicht abhandenkommt während der pandemischen Isolation.

Es geht um nichts weniger als um die Natur. Also das Grünzeug, das in der Erde wurzelt, manchmal auch anderswo.

Du weißt Bescheid? Wirklich?

Ja, es ist die Platane vor Deinem Haus. Und ja, auch Dein Kaktus, der auf dem Fensterbrett blüht. Durchaus Dein Joint vorm Schlafengehen, wenngleich Du den immer idealisiert hast. Streite nicht! Es ist die Kartoffel aus dem Bioladen ums Eck, ja. Alles liebe Leute – schattenspendend, ästhetisch, berauschend, nährend – Dir zu Diensten.

Aber so sind sie nicht, die Pflanzen und Pilze und Zwischenwesen. Sie sind nicht nur eine Unendlichkeit länger auf der Welt als Du, sie können eine Menge Dinge, von denen Du nicht das Geringste ahnst. Unterwandern, verführen, vergiften, umschlingen können sie, jahrzehntelang schlafen, plaudern, unterstützen, okkupieren, fliegen, sich verbünden, kämpfen … Die sind nicht lieb und arglos, wie Du immer gedacht hast. Seit der Romanik ist Schluss damit! Monika Geiers Buch erzählt davon in Miniaturen so kompakt wie Gedichte – einer Sammlung von Geschichten über Gewächse, die mit ihren Blättern, Sprossen und Blüten in unsere Kultur ragen, ja zutiefst darin verwurzelt sind.

Vom Seidelbast erzählt sie. Du weißt schon, der lila Strauch bei Oma im Vorgarten, den Du nicht anfassen durftest als Kind (also jetzt auch nicht, bitte). „Es [das Lokta-Papier] ist unter anderem deshalb so haltbar, weil das enthaltene Toxin die Verarbeitung zu Papier übersteht und Mäuse und Insekten fernhält.“ Auf diese Weise wurden uralte Schriften bewahrt. Ein freundlicher Frühblüher ist der Seidelbast, doch sein Gift dient vor allem SEINEN Nachfahren.

Den Eisenhut kennst Du. Aus Krimis. Außer für Mord wird er nicht benötigt, nur von sich selbst. Respektiert sei er, der große Blaue, um seiner selbst willen.

Hast Du schon mal die Marmelade vom Schwarzen Nachtschatten gekostet? Nein? Wie auch! Guck mal auf die Halde vom Abrisshaus nebenan, da steht er und auf Seite 46. Dass ihm Unrecht widerfuhr, liest Du dort. Gleichwohl verschafft ihm sein Ruf im Schatten der Tollkirsche ein behagliches Dasein in Europa. 

Da wäre noch die jugendstilistische Zaunrübe, märchenhaft ausufernd, mit ihrem vegetarischen Marienkäferkumpel. Den Aufruf der Autorin: „Pflanzt Zaunrüben“ möchte ich Dir nur weiterleiten, wenn Deine Parzelle zwei, drei Fußballfelder groß ist, sonst gibt’s Ärger mit dem Nachbarn. Aber malen könntest Du sie in einsamen Regennächten.

Monika Geier ist das genial gelungen. Ihre Illustrationen sind so verwunschen, erdig, komisch, romantisch, bunt und energetisch wie das Leben selbst. Erstaunliches wirst Du in ihren Texten finden, über Gifte und deren Besitzer, über ihre und unsere Geschichte, wie das Gute und das Böse beieinander wohnen. Du lernst Wesen aus Perspektiven kennen, die neugierig und es nötig machen, Deinen Platz zwischen ihnen, zu überdenken.

Achte mir, liebes Stadtkind, das Grün als Mitgeschöpf auf Augenhöhe, sei vorsichtig und schwelge derweil in Monika Geiers Geschichten, bis uns der Goldregen schneit.

Dein verwuchertes Landei

Monika Geier, Voll fiese Flora, Argument/Ariadne Hamburg, 96 Seiten, 30 Illustrationen der Autorin, 15 Euro

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An Nils und seine Wildgans gefesselt – Nobelpreis hin oder her

Über Selma Lagerlöf

von Gabriele Haefs

Frauen zählen, auch wenn wir beim Frauenzählen manchmal einen ganz anderen Eindruck bekommen, aber so erhellend und frustrierend, wie das Zählen sein kann, ist auch der Blick auf die Frauen, die einfach nicht übersehen werden können.

Eine neue Biographie (die noch keinen deutschen Verlag hat, es ist nicht zu fassen!) über Selma Lagerlöf bietet da eine Menge Anschauungsmaterial. Selma Lagerlöf war in vielen Situationen die „Erste“, erste Person aus Schweden, die einen Nobelpreis bekam, erste Frau, die mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, erste Frau in der Schwedischen Akademie … Die junge Journalistin Ellen Key sagte aus Anlass der Aufnahme in die Akademie:

„Selma Lagerlöf kam nicht durch die Frauenbewegung in die Akademie, aber mit Selma Lagerlöf kam die Frauenbewegung in die Akademie.“

Selma Lagerlöf war sich immer darüber im Klaren, dass sie vielfach die Erste war, aber nicht die Letzte bleiben wollte. Sie setzte sich energisch für weitere Frauen überall ein; dass 1926 die italienische Autorin Grazia Deledda mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, ist maßgeblich ihr zu verdanken: Die Akademieherren hatten nie von dieser Frau gehört und schlugen erst mal einen Mann nach dem anderen vor. Und so ungefähr das Erste, was die frischgekürte Nobelpreisdichterin Selma Lagerlöf öffentlich sagte, war: Weiterlesen

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Lesevorschläge von Else Laudan

Liebe Herland-Leserinnen,
ich möchte aus aktuellem Anlass Lektüre-Anregungen geben, sowohl medial (online) zur Lage als auch in Buchform zur Entspannung (plus Hörbares).

Meine persönliche Wahrnehmung der Gegenwart ist im neuen CrimeMag mit dem Schwerpunkt #Covid-19 nachzulesen. Weiterlesen

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Kleiner Rückblick auf HerLand-Veranstaltungen

2015

Kolloquium I – 24. – 27. September 2015

bei Doris Gercke in Natendorf/Lüneburger Heide

Teilnehmerinnen:  Zoë Beck, Doris Gercke, Monika Geier, Anne Goldmann, Merle Kröger, Anne Kuhlmeyer, Else Laudan, Ariane Mönche, Charlotte Otter. (Christine Lehmann wurde kurz zuvor in den Stuttgarter Stadtrat gewählt, der sich zeitgleich in Klausur begab, und konnte beim HerLand-Gründungskolloquium nicht dabei sein, aber ihre schriftlich festgehaltenen Gedanken und Anregungen flossen in die Diskussion ein.) Weiterlesen

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Abschied von Sabine Deitmer

Sie war eine von uns. Sabine Deitmer, Schöpferin der charakterstarken und ganz eigenen Kommissarin Beate Stein, die öfter mal Täterinnen laufen ließ, hat sich seit den 1990ern für den Aufbruch der Frauen ins Genre stark und gerade gemacht, mit Lust und Fantasie, mit illusionsloser Konsequenz und Humor. Sie war enorm solidarisch, las begeistert und endlos neugierig andere Autorinnen, sie versuchte sogar das Syndikat feministisch zu unterwandern. Sie war scharfsichtig, herzlich, streitlustig und bescheiden. Sie verteidigte den Feminismus, als sich in den Nineties auf einmal kaum noch eine Feministin nennen mochte.

sabinedeitmer»In meinen Romanen gibt es immer ein Verbrechen hinter dem Verbrechen. Der Mord ist nur die Spitze des Eisberges. Der interessanteste Teil liegt für mich unter dem Wasser. Die grauenvollen Dinge, die sich täglich im Rahmen scheinbarer Normalität abspielen: der Vater, der den Missbrauch der Tochter in die Routine eines gutbürgerlichen Haushalts eingebaut hat; der junge Mann, der seine Freundin für einen Automotor an die Kumpel verschachert; der Vorgesetzte, der seine Mitarbeiterinnen sexuell ausnutzt und mit ihrem schweigen rechnen kann. Mehr als die Aufklärung des Mordfalls interessiert mich die Aufdeckung des gesellschaftlich Verdrängten.«
Sabine Deitmer

Als wir vor fünf Jahren HerLand gründeten, dachte ich an sie, machte einen Kontaktversuch. Bekam keine Reaktion, was ganz untypisch war, hörte später von Doris, dass sie wohl nicht gesund sei. Jetzt fehlt sie uns.

Sabine Deitmer, die herzliche, humorvolle, mutige Autorin und Netzwerkerin, steht für immer leuchtend in der Riege der kämpferischen kreativen Frauen, die sich mit Herz und Anspruch für den feministischen Aufbruch im deutschsprachigen Kriminalroman engagiert haben, und wir vergessen sie nicht.

Else Laudan

 

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Wenn es umgekehrt wäre …

Von Gabriele Haefs

Der norwegische Autor Steffen Sørum wurde mit einem hochangesehenen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Die meisten freuen sich, wenn sie einen Preis bekommen – nicht so Steffen Sørum. Denn zu seinem Entsetzen musste der arme Mann feststellen, dass für den Preis in diesem Jahr mehr Frauen als Männer nominiert gewesen waren. Ist bei so vielen weiblichen Nominierten der Preis also weniger wert? Das stand zwar dick und fett zwischen den Zeilen, aber er wollte sich dann doch nicht dazu äußern, sondern erklärte: „Wenn es umgekehrt gewesen wäre, dann wäre doch der Protest riesengroß gewesen.“

Helene Uri

Helene Uri

Die Autorin und Sprachwissenschaftlerin Helene Uri (eine der vielen wunderbaren norwegischen Autorinnen, von denen viel zu wenig in deutscher Übersetzung vorliegt), antwortete dem lieben Kollegen: Irrtum. Wenn es umgekehrt ist, regt sich niemand auf, denn das gilt als „normal“. Hier ihr Artikel aus der norwegischen Tageszeitung Aftenposten (mit ihrer Erlaubnis, natürlich):

Tut mir leid, Sørum, ich sehe nicht dasselbe wie du. „Umgekehrt“ ist absolut üblich.

Steffen Sørum hat sich über ARKs Kinderbuchpreise geäußert, da für diesen Preis in den letzten vier Jahren in der Mehrzahl Frauen nominiert worden sind. Darüber ist er empört. Dazu hat er aber kaum Grund. Er schreibt unter anderem: „Ich gehe davon aus, dass es im umgekehrten Fall heftige Reaktionen geben würde.“

Aber es gibt kaum Grund zu dieser Annahme. Der „umgekehrte Fall“ ist nämlich ganz üblich. Weiterlesen

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Vier Künstlerinnen seit den Karolingern

Als ich mir das neue Kunstbuch meines Sohnes ansah, entdeckte ich, dass es seit den Karolingern in unserem Kulturraum offenbar nur vier wichtige bildende Künstlerinnen gegeben hat – im Gegensatz zu 186 Künstlern. Zeit für eine Korrektur an der Schule.

st Phalle

Oben: Unter der Abbildung des Strawinsky-Brunnes, den Niki de St. Phalle zusammen mit Jean Tingueley schuf, ist ihr Name noch genannt, doch dann verliert sich in dem Lehrbuch „Perspektiven der Kunst“ von Winfried Nerdinger (Hrg.) jede Spur von ihr.

Im Folgenden lest ihr zwei offene Briefe an die Schule meines Sohnes. Auf den ersten bekam ich leider nur eine nichtssagende Antwort des Inhalts, dass die Schule das Denken ihrer Schüler*innen fördere und diese somit selbst drauf kommen können, wenn irgendwo was nicht stimmt. Alle Kunstlehrer*innen und die Direktorin haben diese Antwort unterschrieben. Auf meine Erwiderung habe ich dann überhaupt keine Reaktion mehr erhalten. Aber lest selbst.

 

Offener Brief Weiterlesen

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Schullektüre – vom Patriarchat durchtränkt

Bücher Heike Schiller

Foto: Heike Schiller

Eigentlich wissen wir es schon lange, aber es ist noch viel schlimmer.

Schauen wir in die »Empfehlungsliste für Gymnasien« in Baden-Württemberg, dann sehen wir eine riesige Lücke. 219 Vorschlägen von Literatur, die von Männern stammt, stehen 22 gegenüber, die von Frauen verfasst wurde. Weil Schiller, Goethe, Kleist und andere bei den einzelnen Themenfeldern immer wieder genannt werden, reduziert sich die Zahl der Autoren auf 104 und, weil andererseits auch Christa Wolf oder Irmgard Keun mehrmals vorkommen, die Zahl der Autorinnen auf 17, wenn ich mich nicht verzählt habe. Weiterlesen

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Von Biker-Häschen und Waldnymphen

Diesen Sommer ist erstmals etwas von US-Schriftstellerin Tawni O’Dell in deutscher Sprache erschienen. Nach den Romanen Back Roads, Coal Run, Sister Mine, Fragile Beasts und One of Us ist Angels Burning / WENN ENGEL BRENNEN (Kritiken u.a. hier U1_1239_O'Dell_Wenn-Engel-brennen_72dpiund hier) erstmals durch und durch Kriminalroman, ein Whodunnit im klassischen Sinn mit deutlichem Einschlag von dem, was in den letzten Jahren das Etikett „Country Noir“ erhalten hat. Zugleich ist dieses Buch mit seiner schrägen Polizeichefin ein starkes Beispiel für feministischen Realismus in der Kriminalliteratur. Grund genug, die Autorin auf der HERLAND-Webseite mit einem heiteren kurzen Essay von 2010 (neun Jahre, in denen sich nicht genug geändert hat) zu Wort kommen zu lassen.

Einleitend ein knapper Auszug aus einer autobiographischen Notiz von Tawni O’Dell:
Ich bin in den Allegheny Mountains im Westen von Pennsylvania geboren und aufgewachsen, einer wunderschönen zerstörten Gegend, wo die sanften Hügel mit toten grauen Bergbaustädten übersät sind, die wie Zigarettenbrände auf einem grünen Teppich kokeln. Ich bin halb Pennsylvania Redneck und halb Southern White Trash. Als ich aufwuchs, passte ich nie wirklich dazu. Ich dachte immer, ich wäre ein Freak, weil ich Bücher und lebende Tiere mochte. Alle meine Freundinnen aus Kindertagen wollten Farrah Fawcett oder Christie Brinkley sein. Ich wollte Roald Dahl sein. Das hat meine Familie sehr beunruhigt. Vor allem, nachdem ich ihnen erklärt hatte, wer er war.
Ich bin das einzige Mitglied meiner Familie, das aufs College ging. Ich habe einen Abschluss in Journalismus von der Northwestern University. Mein Schulberater riet mir energisch davon ab, dort zu studieren, weil sie eine schlechte Footballmannschaft hatten. Als ich ihm erklärte, dass ich Journalistin werden wollte und zur NU eine der besten Journalistenschulen des Landes gehört, fand er: „Mag ja sein, aber du wirst doch wohl mal ins Stadion wollen.“
Mein Leben lang hatte ich mit einer speziellen Identitätskrise zu kämpfen: eine gebildete Frau, die mit dem Namen eines Biker-Häschens geschlagen ist. Nein, aber jetzt im Ernst: Ein Thema, das in meiner Arbeit oft auftaucht, ist, dass Personen noch darum ringen, sich selbst zu definieren, aber unter Leuten leben, die sie aufgrund von Stereotypen längst falsch definiert haben. Ich durfte mich häufiger mit der Problematik auseinandersetzen, unpassend etikettiert zu werden.

Von Biker-Häschen und Waldnymphen

Tawni O’Dell über Gender und Marketing

Ich bin Romanschriftstellerin und ich bin eine Frau und werde als ernsthafte Autorin angesehen, ob es mir nun passt oder nicht. Ich schreibe literarische Romane und keine kommerziellen Schmöker, jedenfalls wurde ich so von meinen Verlegern instruiert, die sehr stolz darauf sind, literarische Fiktion zu verlegen, aber insgeheim wünschten, ich würde kommerzielle Schmöker verfassen. Ich bin während meiner gesamten Laufbahn sehr gut besprochen worden, sogar von der New York Times. Ich wurde mit Schriftstellergrößen wie John Steinbeck, Clifford Odets, J. D. Salinger und Emile Zola verglichen. Soweit ich weiß, wurde ich nie mit einer Schriftstellerin verglichen. Wahrscheinlich, weil keinem der Kritiker eine einfiel, die er ernst nahm.

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Neben diesen sehr schönen Referenzen gehörte ich auch mal kurz zur schillernden Welt der Bestsellerautorinnen, nachdem ich von Oprahs magischer Berührung auserkoren wurde – der Berührung, die Jonathan Franzen bekanntlich ablehnte, weil er nicht mit all diesen „unseriösen“ Oprah-Autorinnen in einen Topf geworfen werden wollte. Das Erscheinen von Herrn Franzens Roman „Freiheit“ und die flächendeckende Aufmerksamkeit, die ihm Rezensenten und Literaturkenner widmeten, haben die Debatte neu angefacht, wieso männliche Autoren ernster genommen werden als weibliche. Es ist ein alter Streit, der schon tobt, seit Frauen endlich von Männern die gütige Erlaubnis erhielten, Bücher zu veröffentlichen, was sie inzwischen sogar tun, ohne männliche Pseudonyme verwenden zu müssen. Jodi Picoult und Jennifer Weiner gehören zu den Autorinnen, die den Spießrutenlauf in Kauf nehmen, den Fehdehandschuh aufheben und unser Geschlecht verteidigen, und sie tun es intelligent und ehrlich. Ich habe gar keine Lust, mich selbst in diese Schlacht zu werfen, da ich darin keine Diskussion zu einem Thema sehen kann, sondern nur ein geduldiges Wiederkäuen von Fakten, die den Zustand der Gesellschaft als Ganzes genauso widerspiegeln wie den der Literatur oder irgendeiner Kunstform.

Werden Autoren besser rezensiert, häufiger mit Preisen bedacht und ernster genommen als Autorinnen? Ja.

Als ich ein Kind war und mein Vater beschloss, am Wochenende ein paar Burger zu grillen, wurde da sein Auftritt mit üppigem Lob und Ehrfurcht begrüßt, wohingegen die Mahlzeiten, die meine Mutter tagtäglich auf den Tisch brachte, nie von irgendeiner Fanfare begleitet waren? Ja.

Meine Erfahrung beim Heranwachsen in den 1970er Jahren in der Arbeiterwelt einer ruppigen Stadt in West-Pennsylvania lehrte mich, dass alles, was ein Mann tat, immer wichtiger war als alles, was eine Frau tat. Ich habe diese Ungerechtigkeit damals nicht bewusst in Frage gestellt, sondern stattdessen beschlossen, den Code zu übernehmen: If you can’t beat them, join them. Ich war ein Wildfang mit Leib und Seele, und solange ich mit dem Fahrrad genauso schnell fahren, den Ball genauso hart treffen und genauso viele Strumpfbandnattern fangen konnte, wurde ich als einer von den Jungs akzeptiert und genoss alle Vorteile ihrer Überlegenheit mit. Erst viele Jahre später, nachdem ich mein Pirates-Käppi und mein Taschenmesser gegen Wimperntusche und Mutterschaft eingetauscht hatte, bekam ich in einem Bereich meines Lebens, in dem ich es am wenigsten erwartet hatte, den Stich der Geschlechterungleichheit empfindlich zu spüren: bei der Veröffentlichung meines ersten Romans.

Back Roads spielt in der Gegend des Kohlebergbaus, in der ich aufgewachsen bin, und ist eine dunkle, grobkörnige Darstellung einer krisengeschüttelten Familie, die ausschließlich aus der männlichen Ich-Perspektive des 19-jährigen Harley Altmyer erzählt wird. Mein Verlag war überglücklich über das Buch, erklärte, es sei brillant, und warf mit Phrasen wie „gewaltiges Talent“ und „perfekte Prosa“ um sich. Das Buch war in der Tat so gut, dass sie es für das Beste hielten, die Tatsache zu verheimlichen, dass es von einer Frau geschrieben war. Eines Morgens wurde ich telefonisch informiert, Tawni sei ein „Biker-Häschen-Name“ und „niemand wird den Roman ernst nehmen, wenn wir das aufs Cover schreiben.“

BackroadsIch war fassungslos, nicht nur, weil ich völlig naiv angenommen hatte, Kunst sei ein Bereich, in dem Sexismus nicht existiert, sondern auch, weil ich in meinem kaffeefleckigen Bademantel in meiner Chicagoer Vorstadtküche stand und meinen Kindern Saftschachteln austeilte – ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass mich jemand für ein Biker-Häschen hielt.

Mein Lektorat teilte mir indessen mit, dass man beschlossen habe, das Buch nur mit meinen Initialen zu veröffentlichen. Auf diese Weise mussten sie nicht wirklich lügen und behaupten, ich sei ein Mann, aber da das Buch in der männlichen ersten Person geschrieben war, würde jeder annehmen, dass es von einem Mann war. Ziemlich hinterhältig.

Es gab nur ein Problem mit ihrer Strategie: Das Buch war nicht von einem Mann. Mal abgesehen davon galt an meinem Roman als besonders und erstaunlich, wie überzeugend eine Frau aus männlicher Perspektive schreiben kann. Wäre das nicht für die Katz, wenn wir so taten, als wäre ich ein Mann? Ich verbrachte die nächsten Tage in tiefer Betrübnis, während ich wie betäubt darauf wartete, von meiner Agentin zu hören, die tapfer mit meinem Lektorat über mein Recht verhandelte, eine Schriftstellerin zu bleiben. Wir hatten ja keine Ahnung, dass mein Genderproblem bald gelöst sein würde, wenn auch auf eine Weise, die für mich als Schriftstellerin und als Frau gleichermaßen beleidigend war.

Die meisten Verlage fordern neu ins Programm genommene Schreibende auf, einen biografischen Standardfragebogen auszufüllen. In der Rubrik, wo es um Schreibworkshops, akademische Titel in allerlei schönen Künsten, Literaturpreise, Stipendien und frühere Veröffentlichungen ging, hatte ich nichts zu vermerken. Meine Referenzen bestanden darin, dass ich mein ganzes Leben lang eine unersättliche Leserin war und seit meiner Kindheit zwanghaft schrieb. Als ich das in den Fragebogen eintrug, blieb furchtbar viel Platz frei, was ziemlich peinlich aussah, und so beschloss ich, ihn mit Infos über meine Lebenserfahrung zu füllen, die mich als vielseitige Person zeigten, wenn ich mich schon nicht als ernsthafte Schriftstellerin präsentieren konnte.

Während meines zweiten Studienjahres an der Northwestern University arbeitete ich ein Semester lang für eine Firma, die Live-Partyunterhaltung anbot, alles von Superhelden und Clowns bis zu Bauchtänzerinnen und Jungs in Gorillakostümen, und einer meiner Jobs bestand darin, beim Junggesellenabschied aus dem Kuchen zu springen. Ich erwähnte dies arglos neben sehr vielen anderen Aufgaben, Jobs und Begebenheiten. Großer Fehler! Ohne mein Wissen und ohne dass ich davon erfuhr, schlug die Marketing-Axt zu, und mit einem Streich hörte T. L. O’Dell auf zu existieren. Über Nacht wurde ich vom männlichen Literaturgenie zur Ex-Stripperin mit Thesaurus.

Ich war erneut am Boden zerstört. Und ernstlich verwirrt. Und allmählich auch wütend. Und dann, als ich schon dachte, ich könnte nicht noch mehr entwürdigt und als Künstlerin unpassend etikettiert werden, kam Entertainment Weekly.TODell-small

Versteht mich nicht falsch. Sie liebten mein Buch. Sie liebten es so sehr, dass es ihnen nicht genügte, es bloß zu rezensieren. Sie wollten gleich ein ganz großes Interview, komplett mit Fotos. Sie bestanden sogar darauf, ihren eigenen Fotografen zu schicken. Ihre Anfrage fiel mit dem Schlussakt meiner Lesetour zusammen, der zufällig in Pittsburgh stattfand. Mein Verleger hatte das so gelegt, damit ich in meiner nahen Heimatstadt noch eine Signierstunde geben konnte. Ich nahm an, Entertainment Weekly würde warten und das Shooting machen, wenn ich wieder in Chicago war. Das schien mir ein gastfreundlicheres Umfeld für einen Promifotografen aus LA als die Wildnis von West-Pennsylvania, aber sie dachten da anders.

Ich stand an einem Tisch in der Mitte des Einkaufszentrums und signierte eifrig Bücher, als ich aufblickte und eine ängstliche, überkoffeinierte kleine Truppe anrücken sah: Zierliche, androgyne, hinter Ray Ban-Sonnenbrillen verschanzte ethnisch undefinierbare Wesen, alle ganz in Schwarz, kamen mit »Dunkin Donuts«-Kaffeebechern bewaffnet auf mich zu. (Unser Nest hat keinen Starbucks.) Bei ihrem Vormarsch teilte sich die mit großen Augen flüsternde Menge aus Steelers-Sweatshirts und Tarnjacken, die sich um mich drängte, entschlossen in zwei Hälften, um sie durchzulassen. Die Trennung des Roten Meeres hätte nicht dramatischer inszeniert werden können.

Es stellte sich heraus, dass es sich um meinen Fotografen Nathan (französisch ausgesprochen: Nat-on) sowie seine Assistenz, seine andere Assistenz, eine/n Maskenbildner/in und eine/n Stylist/in handelte.

Eins der Assistenzwesen teilte mir mit, dass Nathan mich gern draußen in einem authentischen Wald in Pennsylvania ablichten würde, weil seine Lieblingsszenen in meinem Buch im Wald spielten und er sich mich dort vorstellte. Ich forderte das Assistenzwesen auf, Nathan, der direkt neben uns stand, aber anscheinend nicht an seinen eigenen Verhandlungen teilnehmen wollte, mitzuteilen, dass es Januar war und schneite. Das Assistenzwesen teilte mir mit, ich solle mir keine Sorgen machen, sie würden Nathan warm halten.

Sie verfrachteten mich in ihren Van, als wäre ich ein Kidnapping-Opfer, und wir jagten los, um nach authentischen Wäldern in Pennsylvania zu suchen. Wir mussten nicht weit fahren. Wir fanden einen hinterm Einkaufszentrum. Ein Haufen meiner Familie und Freunde, die zur Signierstunde angerückt waren, kamen auch mit. Nichts auf der Welt konnte sie davon abhalten, sich das anzusehen.

Nathan war hell begeistert von dem Wald. Er fand seine Stimme und fing an, Befehle mit einem Akzent zu bellen, den ich nie hätte einordnen können. Es klang wie eine Kreuzung zwischen Desi Arnaz und Kazu, dem lästigen Marsmenschen bei Familie Feuerstein.

Ich blieb stehen, hauchte mir auf die Hände und stampfte mit den Füßen, als er sich plötzlich zu mir umdrehte, mich von oben bis unten musterte und verkündete: „Wir müssen ihr Haar toupieren. Ich will Glitzer. Viel Glitzer, und die Klamotten müssen weg.“

„Sie wollen, dass ich nackt bin?“, stotterte ich.EntertainmentWeekly2010

„Haben wir Stoff?“, fuhr er fort und ignorierte meine Frage und meine offensichtliche Sorge. „Ich sehe Tüllschwaden, die sich hinter ihr auftürmen und wie Morgennebel in den Ästen hängen.“

„Sie wollen, dass ich nackt bin?“, wiederholte ich.

Bevor ich noch etwas tun oder sagen konnte, wurde ich zurück zum Van dirigiert, wo man mich bis auf die Unterwäsche auszog und mit Glitzer besprühte. Als ich wieder auftauchte, verstummte mein lustig schwatzendes Gefolge zu tödlichem Schweigen. Kiefer klappten auf und ich hörte keuchende Atemzüge, als ich barfuß durch den Schnee knirschte, in viele Meter funkelnder Gaze gewickelt, mit raushängendem Arsch, und ich fragte mich:

Ob John Irving jemals so was tun musste?

Nathan stellte mich in Positur und fing an, lustig mit seiner Kamera draufloszuknipsen.

„Du bist eine Waldnymphe!“, rief er. „Ja, du bist eine Waldnymphe! Du bist ein ätherischer Geist. Du bist eine Inkarnation des Himmels. Du bist echt, aber du bist überhaupt nicht echt.“

Ich weiß nicht, wie lange wir da draußen waren. Schließlich fand Nathan ein Ende, als meine Lippen einen unfotogenen Blauton annahmen. Ich bekam danach eine schlimme Bronchitis. Ich brauchte drei Tage, um wieder warm zu werden. Aber am schlimmsten war, dass ich die Bilder nie zu Gesicht bekam. Bevor der Artikel erschien, erhielt ich den Anruf von Oprah. Sobald sie in ihrer Show angekündigt hatte, dass Back Roads ihre neueste Wahl für Oprahs Buchclub sei, verlor Entertainment Weekly jegliches Interesse an meinem ätherischen Geist und versenkte den Artikel.

Oprah hat mein Leben und den Verlauf meiner Karriere verändert, und ich stehe für immer in ihrer Schuld. Ohne sie wäre Back Roads nie auf der Bestsellerliste gelandet, ganz egal, wie viel Lob es von der New York Times bekam oder ob ich mich hätte breitschlagen lassen, beim Buchsignieren aus dem Kuchen zu springen.

Ich habe meinen wilden Ritt als Bestsellerautorin genossen. Seitdem bin ich wieder eine seriöse Autorin. Ich habe die tollen Kritiken und die nicht so tollen Verkaufszahlen, die das beweisen.

Würde ich eine dieser hingerissenen Kritiken gegen einen weiteren Bestseller eintauschen? Na klar. Würde ich alle eintauschen? Hmmm – nein.

Schriftsteller/innen sind auch Menschen. Wie alle anderen wollen wir geliebt und respektiert werden. Wir wollen zu den wirklich populären Kids gehören, aber wir wollen auch Jahrgangsbeste sein. Das ist eine schwer zu bewerkstelligende Kombination für einen Mann wie für eine Frau.Back-Roads-Big-Dreams-s

Die Motivation der Schriftsteller/in hat viel damit zu tun, ob er oder sie je zufrieden ist mit dem, was sie erreicht, oder nicht. Manche schreiben, um Geld zu verdienen. Manche schreiben wegen der Aufmerksamkeit. Einige schreiben, weil sie von ihren eigenen Gedanken so beeindruckt sind, dass sie das Gefühl haben, sie schulden es der Welt, sie zu Papier zu bringen. Die meisten Schriftstellerinnen schreiben, weil sie eine Geschichte zu erzählen haben.

Diese Geschichten und die Frage, wie sie den einzelnen Leser, die einzelne Leserin berühren und beeinflussen, bestimmen letztendlich, ob ein/e Schriftsteller/in ernst zu nehmen ist oder nicht. Diese Entscheidung fällt ganz unöffentlich im Herzen und im Verstand der Lesenden, und sie hat mit Verkaufszahlen oder Kritiken gar nichts zu tun. Wer erschafft überzeugende, glaubwürdige Charaktere, über die man immer weiter nachdenken muss? Wer erzählt eine Geschichte, die dich verfolgt, auch nachdem du das Buch weggelegt hast? Wen zitierst du vor deinen Freund/innen? Wer bringt dir etwas Neues übers Leben bei, indem er oder sie etwas anspricht, das dir zutiefst vertraut ist? Ist es eher der meistverkaufte Hit einer Vertreterin der sogenannten Frauenliteratur oder das vielgerühmte literarische Genie mit Pulitzer und Stammbaum?

Also ich setze meine Kohle auf die Waldnymphe.

 

Publiziert mit freundlicher Genehmigung der Urheberin Tawni O’Dell
Deutsch von Else Laudan, © Else Laudan 2019
Original-Link des Essays: http://tawniodell.com/?page_id=75
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