Zufall, das heißt bei Franz Mon, dass sich der Eigensinn des Materials zur Geltung bringen kann, indem etwa die Faserlaufrichtung des Papiers bei den Reißcollagen zu nie ganz steuerbaren Risslinien führt. Zufall, das ist jenes Zusammentreffen von Nähmaschine und Regenschirm auf dem Seziertisch, das sich die sprachexperimentelle, »konkrete« Literatur nach 1945 von den neu entdeckten Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts abgeschaut hat. Als »wilde Paarung ohne Priester« bezeichnet schon Jean Paul den Zufall in seiner ›Vorschule der Ästhetik‹, und nichts anderes passiert in den Arbeiten Franz Mons, in denen sich immer wieder Wörter begegnen, die sich sonst niemals kennengelernt hätten.
Allerdings hat der bewusste Verzicht auf alles Priesterhafte und die damit verbundene Freiheit beim Lesen nach 1945 eine ganz andere Bedeutung als vor 1933. Mons Ästhetik des Zufalls im Zeichen von Collage und Montage ist jedenfalls keine formalistische Spielerei, sondern verweist immer auch auf den totalitären Herrschafts- und Kontrollwahn, der das 20. Jahrhundert wie kein anderes zuvor geprägt hat. Vor allem aber ist der Zufall für Franz Mon im Leben wie in der Kunst nur vom betroffenen Subjekt her zu denken: »Die Zufallsqualität wird erst von mir, dem in unabsehbare Zusammenhänge versetzten Ich als solche erfasst, festgestellt, ja hervorgebracht, wenn nicht gar deklariert. Ja, ich werde wach erst im Erfahren, Erfassen, Bestimmen von Zufällen, die ich in ihrer Befremdlichkeit, mit ihrem Überraschungsmoment, in ihrer Halbleserlichkeit an mich heranlasse. Zufall ist daher – für mich – kein naturwissenschaftlicher, sondern ein existentialer Begriff.«
2. Als ich bei der Zusammenarbeit mit Franz Mon für das große Lesebuch ›Zuflucht bei Fliegen‹ auf die Serie von Wortbildern aus dem Jahr 2008 stieß, fiel mir sofort das Wort Zufall ein. Erstaunlicherweise gab es noch kein entsprechendes Wortbild von Franz Mon. Was also lag näher, als ihn einfach zu fragen, ob er eins für mich machen könnte. Privat, nicht für das Buch. Er schien sich regelrecht zu freuen über das Wort, genauer gesagt: über die sechs Buchstaben und die Möglichkeiten ihrer Anordnung, und sagte zu. Bald danach schon zeigte er mir in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock seines schönen alten Hauses in Eschersheim die ersten Skizzen. Da wir ohnehin wegen des Lesebuchs einen Termin im Frankfurter Nordend im Atelier von Katja von Ruville hatten, die für die Gestaltung des Lesebuchs zuständig war, buchte ich zwei, drei Stunden für das Wortbild auf eigene Rechnung. Denn so entstehen Franz Mons Wortbilder: Er macht erst Skizzen mit einer vorläufigen Anordnung der Lettern, dann benötigt er einen Grafiker, mit dem er am Computer sitzt und die elektronische Umsetzung dirigiert.


3. Franz Mon erzählte mir bei einem unserer Gespräche vom lebensrettenden Zufall einer Mittelohrentzündung, die ihn als jungen Soldaten vor dem Transport mit der Ausbildungskompanie an die italienische Front bewahrt hatte. Wenn ich das fertige Wortbild sehe, schwingt diese existentielle Bedeutung immer mit. Ebenso all die poetologischen Diskurse von Jean Paul bis zu den Dadaisten und Surrealisten, für die das kalkulierte Spiel mit dem Zufall die Möglichkeit von Freiheit eröffnete. Doch wie immer bei Mon muss man das alles gar nicht wissen, sondern einfach nur hinschauen und sich den eigenen Assoziationen überlassen.
Wer das fertige Wortbild in seiner »Halbleserlichkeit« zu entziffern versucht, nimmt vielleicht das von oben nach unten stürzende A wahr. Oder man bleibt bei der irritierenden Ausbuchtung des U-Bogens hängen, von der man nicht wissen muss, dass sie zufällig bei der Herstellung des Wortbildes entstanden ist, um sie als befremdliches, sprechendes Detail wahrzunehmen – als etwas Körperliches, unperfekt Menschliches zum Beispiel, auf das die Spitze des A buchstäblich zuzustürzen scheint. Dann sieht man vielleicht die mit dem gefetteten U korrespondierende Z-Linie, die gemeinsam mit dem schlanken L das fallende A aufzufangen scheint. Oder interpretiere ich da schon viel zu sehr? Sollte man vielleicht doch einfach nur das Chaotische des ersten Gesamteindrucks stehen lassen? Um sich dann ohne Interpretation einfach nur den visuellen Details zu widmen, wie etwa dem oberen Ende des linken U-Striches, das, wie ich auf der DIN A3-Vergrößerung sehe, die jetzt bei mir zu Hause im Flur hängt, störenderweise nicht ganz bündig an den oberen F-Strich anschließt, sondern minimal übersteht? Ach, und wenn man mal so angefangen hat, nimmt das Sehen und Fragen und Gestörtwerden kein Ende mehr – ich lasse die Zeichen an mich heran und werde wach.

Franz Mon bringt Wörter zusammen, die sich sonst niemals kennengelernt hätten. Einzelne Wörter präsentiert er so, dass wir sie ganz konkret wahrnehmen können: als Gruppe bestimmter Buchstaben des Alphabets voller Möglichkeiten der eigenen Assoziation. Dieses prächtig ausgestatte Lesebuch, das z.T. erstmals publizierte Texte von Franz Mon aus über sechzig Jahren versammelt, lädt dazu ein, von Wort zu Wort, Seite zu Seite zu springen und sich dabei immer wieder vom Witz sprachlicher Kombinationen überraschen zu lassen. Es enthält kurze Selbstkommentare des Autors und wird mit einem Nachwort herausgegeben von dem Dichter und Literaturwissenschaftler Michael Lentz.