Alles, was ich dachte, alles, was ich träumte, alles, was ich getan oder nicht getan habe – all das wird im Herbst davonwehen wie die abgebrannten, über den Boden verstreuten Streichhölzer oder die großen Imperien. Alles, was meine Seele war, von allem, was ich erstrebte, bis hin zu dem bescheidenen Zimmer, in dem ich wohne, von den Göttern, die ich hatte, bis hin zu Chef Vasques, den ich ebenfalls hatte, alles geht dem Herbst davon, alles im Herbst, in der milden Gleichgültigkeit des Herbstes. Alles im Herbst, ja, alles im Herbst …«
Liebe Marie-Luise Flammersfeld,
lieber Caspar Ammann,
liebe Trauergäste,
»Das Buch der Unruhe« von Fernando Pessoa, aus dem ich eben zitierte, ist eines der Zentralbücher des Ammann-Verlags. Darin heißt es: »Der Tod eines geliebten Menschen wirkt auf mich, als sei er in einer fremden Sprache geschrieben.« Wir sprechen diese Sprache nicht. Die Tür zur letzten Erkenntnis bleibt uns verschlossen. Aber die Literatur hat seit je versucht, die Türen in die jenseitigen Reiche zu öffnen, und so möchte ich an diesem frühen Nachmittag, da wir den Verleger des »Buchs der Unruhe« zur ewigen Ruhe begleiten, einige Passagen daraus vorlesen – in der Hoffnung, dass wir so dem Dahingegangenen, wie man früher gesagt hat, noch eine Weile nahe bleiben können.
»Das Buch der Unruhe«, das Inés Koebel so wunderbar übersetzt hat, ist ein Essay über einen Traum, der im Büro des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares geträumt wird. »Doch nie die Wahrheit und nie ein Ruhen«, notiert Soares. Egon Ammanns Leben war ein unruhiges Träumen, eine sehr tätige Sehnsucht, mit Pessoa gesagt: Er hat das Leben »im Extrem gelebt, er hat es bis zum Äußersten gelebt«, und es ist ihm etwas gelungen, was nach Pessoa nur wenigen gelingt, »das Leben zu veranlassen, sich ihm mit Leib und Seele zu ergeben«.
Früh und mutig begann er seine »Odyssee durch alle lebbaren Empfindungen, durch alle Formen veräußerlichter Energie«. Nach der Matura zog es ihn hinaus in die Welt. Er hatte bei einem Hethiter-Forscher in Anatolien angeheuert, verlor bereits in Sofia sein Geld, schaffte es noch bis Istanbul und wurde in der Ladenhöhle eines alten jüdischen Immigranten namens Aaron, vormals Frackschneider in Wien, dessen Gehilfe. Bei Aaron lernte der junge Ammann, wie man unter schwierigen Bedingungen überlebt und wie man sich in den Labyrinthen einer orientalischen Stadt bewegt. Er bewohnte, wie der Hilfsbuchhalter Soares bei seinem Chef Vasques, einen Traum, wollte aber weiterträumen, stieß die nächste Traumtür auf und kam in die Türk-alman Kitapevi, die türkisch-deutsche Buchhandlung des Franz Mühlbauer im Galata-Viertel. Als Hilfsbuchhalter merkte er rasch, wie schlecht die Geschäfte liefen, und so reiste er für Mühlbauer quer durch den vorderen Orient, meist in klapprigen, mit Menschen Teppichen Hühnern vollgestopften Bussen, um Goethe-Gesamtausgaben zu verhökern. Einmal wurde der Bus von Kurden beschossen. Goethe rettete Ammann das Leben. Eine Kugel blieb in »Dichtung und Wahrheit« stecken. Er hat mit solchen Geschichten nie renommiert, und wenn überhaupt, erfuhr ich sie eher zufällig. Im Sommer 2000 schlenderten wir gemeinsam durch das Istanbuler Vorabendgewühl. Plötzlich ein Schrei. Ein feztragender Türke drückte den überraschten Ammann an den dicken Bauch und rief: »Ahmed, Ahmed!« Im ersten Augenblick meinte ich, der Türke habe Egon mit jemandem verwechselt, aber nein, für die Händler im Galata-Viertel war Ammann Ahmed der Levantiner. Den Ehrennamen hatten ihm seine Verkaufserfolge mit der Goethe-Gesamtausgabe im wilden Kurdistan eingebracht.
Fernando Pessoa im »Buch der Unruhe«: »Manche Metaphern sind wirklicher als die Menschen in den Straßen. Manche in Büchern verborgene Illustrationen leben sichtbarer als viele Männer und viele Frauen. Manche literarische Sätze besitzen ganz und gar menschliche Individualität. In meinen Schriften lassen mich manche Passagen vor Entsetzen erstarren, so deutlich empfinde ich sie als Wesen, so scharf abgehoben gegen die Wände meines Zimmers, bei Nacht, im Schatten ... Ich habe Sätze geschrieben, deren Klang, wenn man sie laut oder leise liest, gänzlich von etwas herrührt, das absolute Äußerlichkeit und vollständig Seele gewonnen hat.«
Egon Ammann, der junge Odysseus, fühlte früh, wie schwierig es ist, durch das tätige Träumen, durch das See- und Landfahren, ins Innere seiner Seele und an die wahre Wirklichkeit heranzukommen. Er kehrte in die Schweiz zurück, ihn drängte es zur Literatur, und sein Einstieg gelang traumhaft, albtraumhaft. Otto F. Walter stellte den jungen Mann als Lektor an, ausgerechnet am Tag, da er, Walter, vom Verwaltungsrat entlassen wurde. Egons erste Tätigkeit im Verlagswesen bestand darin, Walter beim Kofferpacken zu helfen. Aber Egon wäre nicht Ahmed gewesen, wenn ihn diese Warnung abgeschreckt hätte, im Gegenteil, nun hatte er für sich entdeckt, wie er zugleich träumen und tätig sein konnte: Verleger wollte er werden. 1968 gründete er in Bern, seiner Vaterstadt, den Kandelaber Verlag und begann grandios: mit Gerhard Meier, Ludwig Hohl, Adolf Muschg und Maurice Chappaz. Das Geld für sein gewagtes Unternehmen verdiente er im Kontor, gewissermaßen als Hilfsbuchhalter Soares, und zwar als Redaktor des »Schweizerischen Lebensmittelbuches«, einer Sammlung von Untersuchungsmethoden zur richtigen Ernährung, herausgegeben vom Eidgenössischen Gesundheitsamt. Tagsüber Statistiker und Hilfsbuchhalter, nachts Verleger: Diese Doppelexistenz bewältigte nicht einmal Egon Ahmed, der Levantiner. Nach fünfzig Titeln musste der Verlag aufgeben, und der immer noch junge Odysseus reiste weiter, erneut in den Süden – er wurde Fahrer und Secretarius des damals aufstrebenden Stierkämpfers Nino de la Capea. Die Tournee ging durch 32 Arenen, und eines Abends, da der Torero-Secretarius gerade dabei war, am Tisch einer Cantina Canetti die Liebespost seines Herrn zu erledigen, erwischte ihn ein Detektiv, den Siegfried Unseld im fernen Frankfurt ausgesandt hatte, damit dieser den verschwundenen Kandelaber-Verleger ausfindig mache. Ammann ging nach Frankfurt, zu Suhrkamp, doch immer wieder trieb es den Levantiner an die Küste, eines Tages auch nach Amsterdam und dort in die Gewölbe alter Antiquariate hinab, er wollte ja Ausgrabungen machen, vergessene Bücher entdecken, verlorene Träume finden. Mit dieser Profession folgte er seinem Vater nach, dem Fahnder bei der Kripo Bern.
Es war kurz vor dem Weltkrieg, als Kriminalkommissär Ammann in den Fluren des Eidgenössischen Polizeidepartements eine falsche, unter Traumgesetzen gerade die richtige Tür erwischt hat. Im Büro saß eine junge jüdische Immigrantin, die darauf wartete, von einem Polizeibuchhalter befragt zu werden. Sie wurde die Ehefrau des Kommissärs, Egons Mutter, und die Großmutter von Caspar Ammann, Egons Sohn, der die Forscher- und Fahnder-Tradition der Ammanns als weltweit geachteter Klima-Archäologe fortsetzt.
Zurück nach Amsterdam, wo Ende der achtziger Jahre das Gleiche geschah wie seinerzeit in Bern. Egon Ammann erwischte eine falsche Tür, wahrhaftig eine Traumtür, denn er betrat statt des gesuchten Antiquariats eine Kunstgalerie, wo eine junge schöne Frau träumend vor einem Bild stand. Egon begriff sofort: Wie er durch Bücher zur Wirklichkeit und ins Innere seiner Seele kommen wollte, betrat diese Frau ihre Seele und die Wirklichkeit, indem sie in die Bilder hineinging. Seit jenem Zusammentreffen an einem Mittag in Amsterdam waren sie zusammen: Marie-Luise Flammersfeld, damals Kunststudentin, die aus der Welt der Bilder kam, und Egon Ammann, der mit dem Verlegen von Büchern das Imaginäre verwirklichen wollte. Am 1. Oktober 1981 gründeten sie miteinander ihren Verlag.
Fernando Pessoa: »Eine Statue ist ein toter Körper, geschaffen, um den Tod in einem unvergänglichen Stoff festzuhalten.«
Die Statue, die Marie-Luise Flammersfeld und Egon Ammann geschaffen haben, besteht aus über tausend Titeln, und dass sie weit in die Zeit hinaus ihre Schönheit behält, garantieren die Gesamtwerke von Ossip Mandelstam, ins Deutsche gedichtet von Ralph Dutli, von Fjodor Dostojewskij, übersetzt von Swetlana Geier, oder von Fernando Pessoa in der Übertragung Inés Koebels. Ja, diese Statue ist ein Gesamtkunstwerk, errichtet von all jenen, die für Marie-Luise und Egon Ahmed Vasques Tag und Nacht tätig waren. Gingen sie zu einem anderen Verlag oder anderen Institutionen, wie Stefanie von Harrach, Ulla Stephan, Sabine Dörlemann, Susanne Schänzle, Kathrin Baumann, Barbara Anderegg, Bernhard Heinser, Veit Heinichen, Hans-Jürgen Balmes, Laurenz Bolliger oder Joachim Leser, machten sie sofort Karriere – sie hatten es weiß Gott von der Pieke auf erlernt, dieses unglaublich schwierige Geschäft: Türen zu den imaginären Reichen, zu der wahren Wirklichkeit, zum unendlichen Land der Seele aufzustoßen. Aus der Sicht des Hilfsbuchhalters Soares war, was das Verlegerpaar und seine Mitarbeiter vollbracht haben, ein Ding der Unmöglichkeit. »Wir führen Buch und erleiden Verluste«, stellt Soares fest. Aber wie es in den Träumen und in den Geschichten von Tausendundeiner Nacht die Regel ist, nicht etwa die Ausnahme: Gute Geister kamen stets zur rechten Zeit, um das Unmögliche wirklich werden zu lassen. Im Namen von Egon Ammann, von Marie-Luise Flammersfeld und allen meinen Kollegen danke ich Monika Schoeller, aber auch dem früh verstorbenen George Reinhart für ihre Großzügigkeit.
»Traum war für mich immer Wirklichkeit«, schreibt der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares. Dieser Satz fasst Egon Ammanns extreme Existenz zusammen, und er verbindet uns alle, die wir um ihn trauern.
Der Pfleger an seinem Sterbebett im Berliner Krankenhaus war ein Pessoa-Leser. Mit ihm sprach Egon bis in seine letzten Stunden hinein über das Werk des großen Dichter-Philosophen, vor allem über das »Buch der Unruhe«. Er, der Unruhige, der Abenteurer, der listenreiche Odysseus, ist ruhig gestorben, »in den Armen von Sister Morphine«, wie Marie-Luise berichtet hat, und diesen ruhigen Tod, das Hinüberträumen, hat er sich durch sein wildes, abenteuerliches, den imaginären Welten der Literatur geweihtes Leben erfolgreich erworben.
Pessoa:
»Schlafen! Einschlafen! Ruhe finden! Ein abstraktes Bewusstsein sein, bewusst nur seines ruhigen Atems, ohne Welt, ohne Gestirne, ohne Seele – ein totes Meer der Empfindungen, das eine Abwesenheit von Sternen spiegelt.«
»Erinnerungen, Sonntage, Messen, Freude, gewesen zu sein, Wunder der Zeit, die blieb, da sie bereits vergangen war, und nie in Vergessenheit gerät, weil sie mein war …«
»Wie anders ist das Leben einer Stadt, in der es Nacht wird. Wie anders ist die Seele eines Menschen, der das Kommen der Nacht betrachtet. Ungewiss und allegorisch gehe ich weiter, unwirklich wahrnehmend. Ich bin wie eine Geschichte, die jemand erzählt hat, so gut erzählt, dass sie Fleisch geworden ist zu Beginn eines der Kapitel dieses Romans, der die Welt ist: ›Zu dieser Stunde konnte man einen Mann sehen, der langsam die Straße entlang ging …‹«
»Geh leicht deinem sicheren Ende zu, Tag, an dem sich all jene, die glauben und irren, in ihre übliche Arbeit fügen und in ihrem Schmerz das Glück der Unbewusstheit verspüren. Geh leicht deinem Ende zu, Welle verlöschenden Lichts, Melancholie dieses nutzlosen Nachmittags, Nebel ohne Schleier, der in mein Herz zieht. Geh leicht deinem Ende zu und sacht, unbestimmte, lichtblaue Blässe dieses aquatischen Nachmittags – senke dich leicht, sacht und traurig auf die schlichte kalte Erde. Geh leicht deinem Ende zu, unsichtbar grau, trist, monoton, ein Zuviel und keine Starre.«
Und ein letztes Zitat: »Eines Tages – am Ende der Erkenntnis aller Dinge – wird jene verschlossene Tür aufgehen, und alles, was wir waren – Sternen- und Seelenmüll –, wird aus dem Haus gefegt, damit, was existiert, von neuem beginnen kann.«