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Hundertvierzehn | Extra
Der Tod des Falters

»Sehr leicht vergißt man das Leben ganz …«. Vor 75 Jahren, am 28. März 1941, starb Virginia Woolf, eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen der Moderne. Wir erinnern an sie mit einem ihrer schönsten Essays. 

 
Virginia Woolf

Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 in London geboren. Bereits in jungen Jahren bildete sie zusammen mit ihren Geschwistern den Mittelpunkt der intellektuellen Bloomsbury Group. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust. Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluss Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.

Falter, die bei Tage fliegen, kann man nicht eigentlich Falter nennen; sie rufen nicht jenes angenehme Gefühl von dunklen Herbstnächten und Efeublüten wach, das der gemeinste gelbe Nachtfalter, der schlafend im Schatten des Vorhangs hängt, unfehlbar in uns erregt. Es sind hybride Geschöpfe, weder fröhlich wie Schmetterlinge noch düster wie ihre eigene Gattung. Das gegenwärtige Exemplar, die schmalen heufarbenen Flügel von gleichfarbigen Fransen gerändert, schien dennoch mit dem Leben zufrieden. Es war ein angenehmer Morgen Mitte September, milde, wohltuend, doch mit schärferem Atem als in den Sommermonaten. Der Pflug zog schon seine Furchen durch das Feld vor dem Fenster, und wo die Pflugschar gewesen war, war die Erde flachgepreßt und glänzte von Feuchtigkeit. Solche Lebenskraft kam von den Feldern und den Hügeln drüben hereingerollt, daß es schwerfiel, die Augen fest auf dem Buch zu halten. Dazu feierten die Krähen eins ihrer jährlichen Feste; umschwangen die Baumwipfel, bis es aussah, als wäre ein riesiges Netz mit Tausenden schwarzen Konten darin hinauf in die Luft geworfen; das über ein kurzes sachte auf die Bäume herniedersänke, bis jeder Zweig am Ende einen Knoten zu haben schien. Dann, ganz plötzlich, würde das Netz erneut in die Luft geworfen, diesmal in weiterem Kreis, unter gewaltigem Lärm und Geschrei, als sei es ein ungeheuer aufregendes Erlebnis, in die Luft geworfen zu werden und sachte auf Baumwipfeln niederzugehen.

Dieselbe Energie, die die Krähen, die Pflüger, die Pferde beseelte und, wie es schien, selbst die kahlen, schmalrückigen Hügel, trieb den Falter hin und her von einer Seite seines Fensterquadrats zur andern. Unwillkürlich mußte man ihn beobachten. Ja, man entdeckte in sich ein sonderbares Gefühl von Mitleid für ihn. An jenem Morgen zeigten sich die Möglichkeiten zur Freude so ungeheuer und so grenzenlos, daß es ein hartes Los schien, nur als Falter, noch dazu als Tagfalter Anteil am Leben zu haben, und die Lust, mit der er seinen dürftigen Spielraum bis zum äußersten nutzte, hatte etwas Anrührendes. Voller Energie flog er in eine Ecke seines Gevierts, verharrte dort einen Augenblick und flog hinüber zur andern. Was blieb ihm übrig, als zu einer dritten zu fliegen und dann zur vierten? Das war alles, was er tun konnte, trotz der Größe des Hügellandes und der Weite des Himmels, der Rauchwolken aus fernen Häusern und der romantischen Stimme, hin und wieder, eines Dampfschiffs draußen auf See. Was er tun konnte, tat er. Im Zusehen schien es, als sei ein Teil der ungeheuren Weltenergie, eine sehr dünne, aber reine Faser, in seinem überaus zarten und verletzlichen Körper eingeschlossen. Sooft er die Scheibe überquerte, konnte ich mir einbilden, ein Faden wesenhaften Lichtes werde sichtbar. Er war wenig oder nichts, aber das Leben.

Gleichwohl, weil er so klein und eine so einfache Form der Energie war, die zum offenen Fenster hereinrollte und durch so viele enge und verzwickte Windungen meines Gehirns und anderer Menschen Gehirne seinen Weg nahm, war etwas Wunderbares ebenso wie Anrührendes um das Geschöpf. Es war, als hätte jemand eine winzige Perle puren Lebens genommen, sie so leicht wie möglich mit Flaum und Federn umkleidet und sie zum Tanzen gebracht, hin und her und kreuz und quer, um uns die wahre Natur des Lebens zu zeigen. Man kam über dieses Sonderbare des Schauspiels gar nicht hinweg. Sehr leicht vergißt man das Leben ganz, buckelig und unförmig und aufgeputzt und überladen, wie es sich ansieht, so daß es sich mit größter Umsicht und Würde bewegen muß. Wieder bewirkte der Gedanke an alles, was das Leben hätte sein können, wäre er in irgendeiner anderen Gestalt zur Welt gekommen, daß man sein einfaches Tun und Treiben mit einer Art Mitleid betrachtete.

Nach einer Weile, offenbar müde vom Tanzen, setzte er sich aufs Fensterbrett in die Sonne, und mit dem Ende des sonderbaren Schauspiels vergaß ich ihn. Dann, als ich aufschaute, fiel mein Blick auf ihn. Er versuchte, seinen Tanz wieder aufzunehmen, schien aber so steif oder so ungeschickt, daß er nur die Fensterscheibe hinabflattern konnte; und als er quer zu fliegen versuchte, scheiterte er. In andere Dinge vertieft, beobachtete ich diese fruchtlosen Versuche eine Zeitlang gedankenlos, unbewußt darauf wartend, daß er seinen Flug wiederaufnähme, so wie man erwartet, daß eine Maschine nach kurzem Stillstand wieder einsetzt, ohne die Ursache des Versagens zu bedenken. Nach dem vielleicht siebenten Versuch glitt er vom Holzrahmen herab und fiel flügelflatternd mit dem Rücken aufs Fensterbrett. Das Hilflose seiner Haltung weckte mich auf. Plötzlich begriff ich, daß er in Schwierigkeiten war; er konnte sich nicht mehr erheben; die Beine kämpften vergebens. Aber wie ich den Bleistift hinstreckte und ihm helfen wollte, sich aufzurichten, überkam mich die Gewißheit, das Ungeschick und Versagen sei das Nahen des Todes. Ich legte den Bleistift wieder hin.

Die Beine bewegten sich noch einmal heftig. Ich sah hin, als suchte ich den Feind, gegen den er kämpfte. Ich blickte ins Freie. Was war dort geschehen? Es war wohl Mittag, und die Arbeit auf den Feldern hatte aufgehört. Stille und Ruhe herrschten anstelle der Belebtheit vorher. Die Vögel waren auf und davon, um an den Bächen Futter zu suchen. Die Pferde standen still. Und doch war da draußen die gleiche gesammelte Kraft, gleichgültig, unpersönlich, mit nichts Besonderem befaßt. Irgendwie stand sie dem kleinen, heufarbenen Falter feindlich gegenüber. Es hatte keinen Sinn, etwas tun zu wollen. Man konnte nur zusehen, wie diese winzigen Beine mit alleräußerster Anstrengung sich gegen ein nahendes Verhängnis  wehrten, das je nach Belieben eine ganze Stadt, ja nicht bloß eine Stadt, ach Massen von Menschen hätte erfassen können; nichts, ich wußte es, kam gegen den Tod an. Jedoch, nach einer Pause der Erschöpfung flatterten die Beine erneut. Herrlich war dieser letzte Protest, und so wild, daß es ihm endlich gelang, sich aufzurichten. Natürlich stand man ganz auf der Seite des Lebens. Dann auch, wenn es doch niemanden gab, der sich kümmerte oder wußte, war man merkwürdig bewegt von der gigantischen Anstrengung eines unbedeutenden kleinen Falters, gegen eine so gewaltige Übermacht festzuhalten, was kein anderer achtete oder begehrte. Und wieder, irgendwie, sah man das Leben, eine vollkommene Perle. Ich hob den Bleistift erneut, wenn ich auch wußte, wie vergeblich es sei. Aber im selben Augenblick zeigten sich unverkennbar die Zeichen des Todes. Der Körper entspannte sich und war im Nu steif. Der Kampf war vorüber. Das unbedeutende kleine Geschöpf kannte nun den Tod. Wie ich auf den toten Falter blickte, überkam mich Verwunderung über diesen beiläufigen winzigen Triumph einer so gewaltigen Kraft über einen so geringen Gegner. Schien eben noch das Leben merkwürdig, so war es nun der Tod gleichermaßen. Der Falter, der sich aufgerichtet hatte, lag jetzt hochanständig und klaglos still da. O ja, schien er zu sagen, der Tod ist stärker als ich.

Deutsch von Hannelore Faden 

Der Tod des Falters. Essays.

Eine Betrachtung über Leben und Tod, ausgelöst durch das langsame Sterben eines Nachtfalters an der Fensterscheibe, steht am Anfang dieser Sammlung von 26 Essays ganz unterschiedlicher Art. Es folgen Skizzen wie ›Abend über Sussex‹, literaturkritische und biographische Essays über Henry James oder E. M. Forster, Gedanken über ›Die Kunst der Biographie‹, vor allem Lytton Strachey gewidmet, ein ›Brief an einen jungen Dichter‹, der Vortrag ›Berufe für Frauen‹, eine Auseinandersetzung Virginia Woolfs mit ihrer eigenen persönlichen und künstlerischen Entwicklung. Den Schluß bilden ›Gedanken über den Frieden während eines Luftangriffs‹, geschrieben im August 1940. Diese Arbeiten aus allen Schaffensperioden Virginia Woolfs offenbaren den ganzen Reichtum ihres Wissens und Denkens und die Vielfalt ihrer gestalterischen Möglichkeiten.

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Frankfurt am Main 2020
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