Ich habe noch nie eine deutsche Fahne geschwenkt. Meine Mutter ist Rumänin, mein Vater Nachkriegskind, Flucht, Immigration und Fremdsein pochen in meinen Adern. Ich bin in Hamburg geboren, in New York aufgewachsen, habe in Madrid studiert, fliege für meine Reiseromane um den Erdball, bin Weltbürgerin und interessierte mich stets mehr für die Entdeckung anderer Kulturen als für die Proklamation meiner Herkunft. (InteressierTE... in meinem nächsten Buch gehe ich endlich den eigenen Wurzeln nach und stelle mich der verzwickten Frage meiner Identität...).
Als ich für ›Maries Reise‹ Kuba besuchte, fotografierte ich in Havanna einen Jungen. Er lehnte an der Mauer der Uferpromenade. Am Tag davor hatte dort eine Kundgebung stattgefunden. Es lagen noch einige kubanische Papierfahnen auf dem Boden. Plötzlich schrie der Junge auf. Sein Fuß stand auf einer Fahne. Ich musste ihm versprechen das Foto zu löschen. Er wollte nicht, dass man von ihm dachte, er würde mit Füßen auf die kubanische, auf seine Fahne treten. Seine Leidenschaft für dieses dreifarbige Stück Papier berührte und faszinierte mich. Sein Stolz war nicht gefärbt von feindlichem Nationalismus oder Überheblichkeit, sondern von Liebe durchleuchtet.
Die puerto-ricanische Fahne sieht der kubanischen wie ein Zwilling zum Verwechseln ähnlich... So ähnlich... Die Tageszeitung Daily News druckte versehentlich die kubanische Fahne auf ihrer Titelseite ab, als sie 2012 meldete, der Football-Spieler Victor Cruz sei Ehrengast auf der Puerto-Rican-Day-Parade.
Die beiden Fahnen sind eng miteinander verwandt. Sie wurden gemeinsam entworfen, Hoffnungsträger von Freiheitskämpfern, die Ende des 19. Jahrhunderts in New York gegen die spanische Kolonialherrschaft auf ihren Inseln konspirierten. Doch im Unterschied zu Kuba wurde Puerto Rico nicht unabhängig. Nach der Niederlage im spanisch-amerikanischen Krieg trat Spanien 1898 Puerto Rico an die USA ab. Seither ist es deren Territorium.
Am 25. Juli 1952 verabschiedete der Gouverneur Muñoz Marín eine »eigene Verfassung« und taufte Puerto Rico Estado Libre Asociado, einen Freistaat. Daraufhin strich die UN das Territorium von der Liste kolonisierter Länder. Aber eine UN-Vertretung bekam Puerto Rico nicht. Die »eigene« Verfassung, die »freie« Regierung und der von Puerto-Ricanern gewählte Gouverneur unterliegen den amerikanischen Gesetzen und dem Präsidenten. Der »Freistaat« ist ein »nicht inkorporiertes Gebiet« der USA.
In den 50er Jahren war es unter dem »Maulkorb-Gesetz« strengstens verboten die puerto-ricanische Fahne zu hissen, oder gar zu besitzen: 10 Jahre Haftstrafe, auch für das Summen der Nationalhymne. Man wollte die Widerstandsbewegung unterdrücken, die mit bewaffneten Aufständen immer wieder für Unabhängigkeit kämpfte.
Auf der Zwillingsinsel Kuba siegten Fidel Castro und die Revolution. Der puerto-ricanische Anführer Pedro Albizu Campos wurde verhaftet und starb 1956 kurz nach seiner Freilassung, wahrscheinlich an den Folgen der im Gefängnis erlittenen Folter.
Damit die Puerto Ricaner die Abhängigkeits-Pille widerstandslos schluckten, erfand der Gouverneur Muñoz Marín den Modus Vivendi: Kultureller Nationalismus ohne politische Souveränität und schaffte 1958 das »Maulkorb-Gesetz« ab.
Ein Jahr später feierte die Diaspora in New York ihre erste Puerto-Rican-Day-Parade. Heute gilt sie als größter Straßenumzug von Amerika und übertrumpft sogar die Thanksgiving-Day-Parade. Politiker von Robert Kennedy bis Hillary Clinton, Sportler, Schauspieler, Sänger wie Mark Anthony und Jennifer Lopez haben mitgewinkt und mitgeschwenkt. Das Fest ist so berühmt, dass der Fernsehsender ABC bei der Wettervorsage für Sonntag eine Sonne und die puerto-ricanische Fahne ankündigt.
Die Veranstalter hatten überlegt, dieses Jahr das Fest abzusagen. Aus Solidarität mit Puerto Rico. Die Insel erlebt die heftigste Auswanderungswelle und Wirtschaftskrise aller Zeiten. In Krankenhäusern kommt es zu Stromausfall. 45 Prozent der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze.
Nach langem hin und her beschlossen sie, es sei besser, aufmerksam zu machen als zu schweigen. Und so lief auch ich, von den Artikeln der Zeitungen angelockt, zum Central Park und tauchte in das tosende Fahnenmeer ein.

Rund 5 Millionen Puerto Ricaner leben in Amerika, 1,5 Millionen mehr als auf der Insel selbst. Sie sind amerikanische Staatsbürger, können frei nach Amerika einreisen und hier arbeiten. Aber nur die, die in den USA wohnen, dürfen wählen. Auf der Insel gelten andere Bedingungen. Puerto Rico ist kein amerikanischer Bundesstaat. Sein Abgeordneter hat im Kongress kein Stimm- und der Insulaner kein Wahlrecht. Und gerade jetzt, wo die Schulden der Insel den Hals zuschnüren, wird ihr dieser neblige Sonderstatus immer mehr zum Verhängnis.
»Wasser, Wasser«, rief einer. Er schob hinter den Zuschauern eine Mülltonne auf Rädern vor sich her, aus der er Plastikflaschen verkaufte »und einen doppelten Schuss Wodka«.
Einst galt Puerto Rico als Erfolgskind. Industrie. Fabrik-Metropole. Florierende Mittelklasse. In 1976 erließ man eine Initiative, die amerikanische Firmen von der Versteuerung ihrer Einnahmen befreite, wenn sie ihre Produkte auf Puerto Rico herstellten. Die Pharmaindustrie profitierte besonders davon. Ende der 80er Jahre produzierte sie über die Hälfte aller Tabletten, die in den USA verabreicht wurden, auf Puerto Rico. 1996 wurde diese Lücke langsam geschlossen bis sie 2006 gänzlich verschwand. Daraufhin zogen die Firmen in Länder mit billigeren Arbeitskräften und weniger strengen Regulierungen und hinterließen auf Puerto Rico leerstehende Fabrikgebäude und den Wirtschaftszusammenbruch.
72 Milliarden Dollar schuldet Puerto Rico heute seinen Gläubigern. Als die Stadt Detroit eine ähnlich verheerende Pleite traf, meldete sie Konkurs an. Das darf der Freistaat Puerto Rico nicht. Er darf aber auch nicht im Ausland Geld borgen. Ein selbsterlassenes Umschuldungs-Gesetz erklärte der höchste Gerichtshof der USA für ungültig.
Was dann? Der Kongress verabschiedet ein Rettungs-Gesetz mit nahezu zynischem Namen: P.R.O.M.E.S.A. (Versprechen). Ein in Washington ernannter Vorstand verwaltet die Finanzkrise und veranlasst Reformen. Dem Gouverneur von Puerto Rico ist jegliche Mitsprache untersagt. Der Mindestlohn für Menschen unter 25 Jahren wird von 7 auf 4,25 Dollar gesenkt. Eine wuchtige Aufsicht aus Washington mit kolonialen Konnotationen.
»Boricua si. Promesa no!« rief eine Gruppe von Aktivisten, die auf dem Straßenzug mitmarschierte. Die Puerto Ricaner nennen sich Boricua nach Borikén, der Name der Insel in der Sprache der Taino-Ureinwohner.
Auf ihren T-Shirts trugen die Protestierenden das Gesicht eines Mannes mit buschigem Schnurrbart. Darüber stand: »Free Oscar Lopez Rivera«. Seit 35 Jahren sitzt der politische Gefangene in den USA im Gefängnis. Für seine »aufständische Verschwörung«, die man ihm nicht nachweisen konnte, bekam er eine Haftstrafe von 55 Jahren. Später gab es noch 15 drauf für einen vermuteten Ausbruchsversuch.
Puerto-ricanische Freiheitskämpfer hat es viele gegeben. Wie die wilde Lolita Lebron, die kurz nachdem Puerto Rico zum Freistaat erklärt wurde, das amerikanische Kapitol stürmte und von der Galerie in den Kongressaal schoss. Eine Gruppe aus Spanisch Harlem trug diese Helden als riesige, handbemalte Pappfiguren über die 5th Avenue. Ernst und stolz. Und auch sie sangen im Chor:
»Boricua si. Promesa no!«
Während auf Puerto Rico Schulen und Praxen schließen, arbeitslose Lehrer, Ärzte, Ingenieure auswandern, kaufen Wall Street Giganten ganze Strände und bauen Luxushotels und Golfplätze. Ein neuer Steuer-Happen lockte die Raubfische an die Insel. Amerikanische Privatpersonen, die 183 Nächte im Jahr auf Puerto Rico verbringen, sind von Einkommenssteuer befreit. Das alte Lied. Der Reiche, der sich einen Strand leisten kann, zahlt keine Steuern. Dem Armen, der in Jackentaschen nach Pfennigen für die Milch sucht, verdoppeln sie den Preis und erhöhen die Mehrwertsteuer von 7 auf 11 Prozent.
Öffentliche Dienste, Bauwerke, Brücken, sogar der Regenwald El Yunke werden privatisiert und von dem P.R.O.M.E.S.A. Vorstand verkauft, um die Schulden auszugleichen. Stück für Stück reißt man den Puerto Ricanern ihre Insel aus der Hand.
»Wir brauchen einen Helden«, entschied der Comic-Künstler Edgardo Miranda-Rodriquez, »heute mehr denn je«, und schuf La Borinqueña, eine Superheldin, die er auf der Puerto-Rican-Day-Parade erstmalig präsentierte und die im Oktober als Comicheft erscheint. La Borinqueña heißt auch die Nationalhymne. Die Superheldin studiert Umweltforschung in New York, wo sie als Tochter puerto-ricanischer Eltern geboren ist. Auf einer Studienreise in Puerto Rico gelangt sie zu magischen Kräften. Sie kann fliegen und das Wetter rufen. Ihr Heldenkostüm trägt die rot-weiß-blauen Farben. Ein Faden ist darin eingenäht von der ersten puerto-ricanischen Fahne, die Widerstandskämpfer in 1868 in der Stadt Lares an einem Kirchturm hissten, bevor ihre Revolte niederschlagen wurde.
La Borinqueña soll die Puerto Ricaner an ihre Geschichte erinnern, und ein Symbol sein für die Überlebenskraft, die in der Natur und der Kultur ihrer Insel steckt.
Sie soll vor allem auch die in der Diaspora lebenden Puerto Ricanern und die Einheimischen zusammenbringen, eine Heldin für alle sein.
Alle lieben ihre Fahne. Aber nicht alle wünschen ihr das gleiche Schicksal. Viele glauben, unter einer Unabhängigkeit ginge es ihnen wie den Kubanern, sie könnten nicht mehr reisen und müssten unter einer Diktatur leben. Andere fürchten, die Insel könne sich alleine gar nicht ernähren. Es gäbe die Möglichkeit ein anerkannter amerikanischer Bundesstaat zu werden, der 51. Stern auf der amerikanischen Fahne. Aber auch dies wurde in einem Referendum abgewählt. Dazu sind sie dann viele wieder zu stolz.
Als die Amerikaner den Puerto Rikanern 1912 die Staatsbürgerschaft gaben, wollten diese um keinen Preis ihre eigene ablegen. Sie existiert heute noch, ein Stück Papier, das kein Land anerkennt – außer Spanien.
In der UN tagte im Juni das Komitee für Entkolonisierung und widmete sich der Frage von Puerto Ricos politischem Status. Was wird aus dieser Insel?
Die Zukunft ist ungewiss. Während viele nach Amerika flüchten, kommen auch welche aus Amerika auf die Insel, um dort etwas aufzubauen. Und dann gibt es die sogenannten Transnationalen, die zwischen Insel und Festland hin und her fliegen.
Der Straßen-Umzug endete an der 79. Straße vor der französischen Botschaft. Auch dort wehten blau-weiß-rote Fahnen. Ich dachte an die französische Revolution, an den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, an die Freiheitsdenker, Freiheitskämpfer, Freiheitsverfechter.
Tröten und Gesang rissen mich aus meinen Gedanken. »Voy a vivir, voy a bailar« (»Ich werde leben, ich werde tanzen«). Die Musik wäscht alle Sorgen fort. Wenigstens für eine paar Minuten.
Ich tänzelte Richtung U-Bahn. Die Bäume raschelten im Wind. Es schien mir, als wollte das Wetter die Puerto Ricaner in ihrer schweren Zeit unterstützen. Wolkenloser Himmel. Glückverheißendes Sonnenlicht. Und dazu ein Wind, ein perfekter Fahnen-Flatter-Wind.
Über dem Absperrungszaun lehnte ein Mädchen und flirtete mit einem Polizisten.
»Dein Zopf leidet«, sagte sie. Er hatte seine Dreadlocks ungeschickt zusammengebunden. Der Zopf, der unter seiner Mütze hervorquoll, schien tatsächlich zu leiden. Sie drückte sich mit den Armen auf der Absperrung hoch und lachte: »Viel zu eng geschnürt. Mach deine Haare auf und lass den Wind durch«.

Mit gerade mal zwanzig, zwischen Abitur und Studium, hat Marie Pohl einen Plan: Eine Reise um die Welt zu Menschen ihres Alters, die genau wie sie beginnen, ihr Leben aufzubauen. »Ich suche: Die interessantesten Personen meiner Generation, einer Generation, die genauso am Anfang steht wie dieses Jahrtausend.«
Die Stationen ihrer Suche sollen sein: Berlin, Havanna, Buenos Aires, San Francisco, Hanoi, Tiflis, Jerusalem und Helsinki – in jeder Stadt will sie einen Monat bleiben. Ein Verlag zahlt die Flugtickets, der ›stern‹ druckt Fotos von unterwegs.
Entstanden ist auf diese Weise ein ebenso kluges und unerschrockenes wie hinreißend charmantes Buch voller Geschichten: »Pohl isst Schlangensuppe in Vietnam und guckt nächtelang den Tangotänzern in Buenos Aires zu, sie findet einen Matrosen, der jedem Schiff den Untergang bringt, und stellt fest, dass im leisen Finnland sogar Besoffene lautlos torkeln« (Berliner Zeitung). In Havanna verfällt sie der süßen karibischen Lethargie und verliebt sich in den schwarzen Musiker Pablo, in Hanoi rast sie mit einem Moped-Rennfahrer durch die Straßen. Besucht in San Francisco einen wortkargen Computermillionär, der früh genug an AOL verkauft hat, und eine israelische Siedlerin und Soldatin in der Nähe von Ramallah. – Geschichten von Zwanzigjährigen, die uns etwas über die Welt von morgen verraten.