Am Ende von Pyeongchang
Ester Ledecká aus Tschechien, Startnummer 26, hatte im Zielraum abgeschwungen, schaute auf die Anzeigentafel und traute ihren Augen nicht. Es leuchtete eine grüne Eins. Die Weltmeisterin – im Snowboard! – hatte gerade eine alpine Goldmedaille im Super-G gewonnen, mit dem Minimalvorsprung von einer Hundertstelsekunde. »How could this happen?«, wunderte sie sich. Später sagte sie: »Ich habe geglaubt, es war ein Fehler der Zeitrechnung.« Danach holte sie mit dem Snowboard ebenfalls Gold, als erste Athletin, der das in zwei Sportarten gelungen ist.
Auch diese Winterspiele von Pyeongchang brachten ihre großen Überraschungen, tolle Leistungen, Spannung und Faszination, Duelle und Rekorde, kleine feine Gesten und große Emotionen. Die Kür des deutschen Paares auf dem Eis, das Team-»Wunder« im Hockey, die schnellsten Gleitschritte der norwegischen Langläufer, die überraschende schwedische Biathlonstaffel, die hohen Sprünge und Dreifachdrehungen der Snowboarder, die Erfolge des niederländischen Teams im Eisschnelllauf… Das Einmalige im Zyklus von vier Jahren macht den Reiz aus, Olympiasieger sind (so sie nicht gedopt waren und eines Tages überführt werden) ihr Leben lang Olympiasieger.
Die fünf Ringe sind nach wie vor die weltweit bekannteste Marke. Ihr Publikum jedoch nimmt ab. Bei den Sommerspielen in Rio 2016 sah man viele Lücken auf den Tribünen; in Pyeongchang waren die Eishallen wohl meist gut gefüllt (Shorttrack ist in Korea populär) – hier wandte sich ein aggressiver Patriotismus gegen eine Kanadierin, nachdem die Lokalmatadorin disqualifiziert worden war. Aber sogar im ersten Match des gemeinsamen koreanischen Nord-Süd-Eishockeyteams der Frauen blieben 2.000 der 6.000 Sitze leer. An den Pisten und Loipen standen kaum Zuschauer, anfangs bei heftigen Minustemperaturen waren es im Alpine Center gerade ein paar hundert, bei den Siegerehrungen jubelte oft nur ein Häuflein. Im Weltcup geht es ganz anders zu. »Wir sind hier im Nirgendwo«, sagte Marcel Hirscher, »es sind keine Leute da und wir fahren halt irgendwo Rennen.« Der Reiz von Olympia hört sich anders an. Über seine Goldenen zeigte sich der Skistar dann doch erfreut, den großen Jubel verschob er in die Heimat: Wenn im Dorf dann die Blaskapelle spiele, ergreife ihn die Feierstimmung.
Auch die TV-Quoten schwächeln. Die Eröffnungszeremonie hatten in Deutschland 4,2 Millionen Menschen gesehen (Marktanteil 35,6 Prozent), auf Eurosport waren es für die einzelnen Wettkämpfe nicht mehr als 400.000. Zu nachtschlafender europäischer Zeit konnten sogar die sonst hierzulande so stark ziehenden Alpinrennen kaum wen vor den Bildschirm locken.
Die nächsten Sommerspiele finden in Tokio statt, der Tross auf Schnee und Eis gastiert 2022 in Peking, bekanntlich ein traditioneller Wintersportort erster Güte. Da könnten die Zuschauerzahlen weiter zurückgehen. Wenn allerdings die fünf Ringe im Fernsehen weniger Aufmerksamkeit finden, werden die Sender weniger Geld für die Werbung erhalten, folglich für die Rechte weniger bezahlen wollen. Das würde das IOC in seinen heutigen Grundfesten treffen – im Kommerziellen. Denn der Sport bildet den Vordergrund, dahinter geht es beinhart um Einflussnahme und Moneten.
Und um Politik. Diesmal um Nordkorea und die Welt, und für die Olympier, wie einige Stimmen verkünden, wieder einmal um den Friedensnobelpreis. Schon Juan Antonio Samaranch, der IOC-Präsident, der 1980 von Adidas ins Amt gehievt worden war und die fünf Ringe dem umfassenden Kommerz verschrieben hatte, meinte Anfang der neunziger Jahre unbedingt für diese höchste Auszeichnung ausersehen zu sein.
Ein Blick in die olympische Geschichte aber zeigt, dass die Friedensbewegten so friedlich nicht vorgingen. Von Anfang an, ab der Gründung des Internationalen Olympischen Komitees 1894, begrüßten sie viele Generäle in ihren Reihen und ließen – beispielsweise – bei den Sommerspielen 1900 in Paris fünfundzwanzig Wettbewerbe mit Militärgerät austragen. Über das Kanonenschießen steht im offiziellen Bericht, die guten Ergebnisse seien »de bonne augure«, hätten also gute Aussichten für die Zukunft eröffnet. Dazu passt, dass bis zum Zweiten Weltkrieg Ski- und Schwimmlehrer als Profis nicht zugelassen waren, der Militärische Patrouillenlauf (heute Biathlon) hingegen ausschließlich Berufssoldaten offenstand. 1948 in St. Moritz durften die Deutschen und die Japaner nicht antreten; ihre Funktionäre saßen da schon wieder im IOC, für Deutschland der ehemalige Reichssportführer, für Japan der Ex-Transportminister und für Italien Männer aus der faschistischen Elite. Die höheren Diener kriegstreibender Herren waren gleich willkommen, die Athleten nicht.
Mit Hitler haben sich die Herren der Ringe arrangiert, mit dem autoritären China, mit Putin. Nicht wenige der IOC-Mitglieder nahmen hohe Posten in Diktaturen und Faschismus ein, Samaranch im Franco-Regime. Und unter den heutigen Ehrenmitgliedern der hehren Runde, in der neben den Ehrenwerten auch Betrüger sitzen, befinden sich ein alter KGB-Mann, ein Putschistengeneral aus der Elfenbeinküste, ein ägyptischer General aus der Mubarak-Zeit, ein Mann des syrischen Assad-Regimes und Herren aus dem arabischen Raum, die gewiss keine friedlichen Demokraten sind.
Die »Schönen« aus dem Norden bewegten sich synchron und lächelten synchron. Als gäbe es eine olympische Disziplin im Tribünencharmieren. Kim Jong Un hatte offenbar zweihundert der hübschesten jungen Frauen des Landes ausgesucht, um der Welt ein ansprechend freundliches Bild vorzuführen – und vom sportlichen Geschehen sowie vom Hintergrund abzulenken. Das vereinigte Frauen-Eishockeyteam begeisterte sichtlich und hörbar das Publikum; über den letzten Platz aber kam es mit fünf Niederlagen und dem Torverhältnis 2:28 nicht hinaus. Die einstudierte Choreographie auf den Rängen mündete ins Politische, am Ende der Matches riefen die Rotgekleideten aus dem Norden »Wir sind eins« und winkten mit der Vereinigungsflagge. Das Militärische durfte freilich nicht fehlen, es stand in der Identitätsangabe: die »Armee der Schönen«.
Sie fungierte als Fassadenaufputz. Für Imageaufbesserung und Hintergrundgespräche waren einige hochrangige Persönlichkeiten aus Nordkorea zu Olympia in den Süden gereist, als besonderes Signal verstanden Kommentatoren die Anwesenheit der Schwester des Diktators. Ihr zunächst geheim gehaltenes Treffen mit dem US-Vizepräsidenten Mike Pence ließen dann die Nordkoreaner platzen, weil Pence sich für weitere Sanktionen ausgesprochen hatte. Damit offenbarte sich ein Grund der Freundlichkeitsoffensive von Kim Jong Un: Es ging ihm nicht nur um internationale Imagepflege, sondern vor allem um Lockerungen der Sanktionen und darum, einen Keil zwischen Südkorea und die USA zu treiben. Noch vor der Schlussfeier in Pyeongchang kündigte Donald Trump »die härtesten Sanktionen aller Zeiten« an und bald nach dem Charmemanöver auf der Tribüne werden auf beiden Seiten wieder die Militärmanöver beginnen.
Olympia aber wird eine heile Kulisse bleiben und von den Herren der Ringe schöngeredet werden. Wie jedesmal am Ende der Spiele jubilierte das IOC. Diese seien die allerbesten gewesen, ist die übliche Schlussformel.
»Olympia ist eine verdammt gute Sache«, sagte Juan Antonio Samaranch in der letzten Woche von Pyeongchang, wo von »Nachhaltigkeit« keine Rede sein kann und die spätere Nutzung der meisten Sportstätten unklar ist. Der Spanier ist der Junior, sein Vater hatte ihn kurz vor dem eigenen Abtreten 2001 in das hohe Gremium geholt. Das IOC kennt eine Erbfolge, die manchen Familien über mehrere Generationen ihren Einfluss sichert – im System der Tafelrunde, die sich selbst ihre Mitglieder zuwählt, läuft das wie geschmiert.
Das Schönreden kennt der Junior vom Vater her, als Vorsitzender der Koordinationskommission für die nächsten Winterspiele kann er das gut gebrauchen um zu erklären, warum Peking ein verdammt guter Platz für den Wintersport sei. In bewährter Manier behilft er sich mit Behauptungen. Die Spiele würden in Zukunft weniger Kosten verursachen, Olympia sei »kein Risiko für die Austragungsstadt«. Da reibt sich nicht nur das Steuervolk aller Gastgeber der vergangenen fünfzig Jahre staunend die Augen, viele zahlen immer noch für die Extravaganz der fünf Ringe.
Ja, nach Europa sollen die Winterspiele auch wieder kommen, weiß Junior Samaranch, das IOC werde »den Kandidaten nach Kräften helfen«, mit Technikern und »Personal für die TV-Übertragungen«. Dass das IOC einen guten Teil der Fernsehrechte-Milliarden für sich behält und die Bilder kontrolliert, sagt er natürlich nicht. Und was es von seiner eigenen »Agenda 2020« hält, die Samaranch überschwänglich lobt, zeigt Pyeongchang: Die »Nachhaltigkeit« so, dass die Zukunft vieler Sportstätten ungewiss ist, und Ökologie so, dass zehntausende alte Bäume im Naturschutzgebiet der Kettensäge zum Opfer gefallen waren; »Spiele für die Athleten« so programmiert, dass Skispringer um Mitternacht fast auf dem Anlaufbalken festfroren, und Fairness so ernst genommen, dass trotz des erwiesenen Staatsdopings Russland (wenn auch unter anderer Benennung) teilnehmen durfte – und prompt neuerlich zwei Dopingfälle brachte.
Die Schlussfeier lieferte wie alle diese Zeremonien seit Albertville 1992 ein neobarockes Kitschspektakel in Kreis-Choreographie, auf die Olympischen Ringe zu. Und auch diesmal marschierten ziemlich ausgedünnte Delegationen ein, wenige Aktive, darunter einige »OAR«, (Olympische Athleten aus Russland) ohne die eigene Flagge. Die Suspendierung soll erst in den nächsten Tagen aufgehoben werden, wenn keine weitere Dopingprobe positiv ausfällt. Für eine Werbeaufschrift auf der weißen Oberbekleidung galt freilich die Sanktion, die ja »neutralisieren« sollte, nicht – the economy must go on.
Schließlich lobte der Präsident des Organisationskomitees den »Olympischen Geist«, die Leistungen und »überraschenden Geschichten«, exotische Teilnehmer und das vereinte koreanische Team. Hier in Pyeongchang sei »die Welt eins« gewesen.
Thomas Bach, der oberste Herr der Ringe, sprach auf Französisch und Englisch und gratulierte den Veranstaltern. Im Geist von Coubertin verwies er auf die Tradition und den Glauben an die Zukunft. Sport vermöge Brücken zu bauen. Diese Winterspiele seien »Spiele eines neuen Horizonts« gewesen. Es folgte der Dank an die Sponsoren und Fernsehgesellschaften. Der nächste neue Horizont, das ist Wintersport in Peking.

Zur Winterolympiade 2018 in Pyeongchang – die große Kulturgeschichte der Winterspiele.
Rund ein Vierteljahrhundert hat es gedauert, bis sich neben den olympischen Sommer- auch Winterspiele etablieren konnten. Von dem anfänglichen Widerstand der Skandinavier, von Sportarten wie »Spezialfiguren« aufs Eis zu zeichnen, von den politischen Ersatzkämpfen im Kalten Krieg und der zunehmenden Rolle der Medien erzählt Klaus Zeyringer so kurzweilig wie anekdotenreich. Die Welt des Wintersports mit ihren Helden wie Toni Sailer oder Rosi Mittermaier und ihren tragischen Figuren wie »Eddy the Eagle«, ihren »Eishexen« wie Tony Harding und ihren »Eisprinzessinen« wie Nancy Kerrigan rückt Klaus Zeyringer in ihren kulturellen, sozialen und politischen Kontext. Ob Sportler wegen des Tragens von Reklame ausgeschlossen werden, ob neue Techniken eine Sportart revolutionieren, eines bleibt konstant: das Wetter, das Probleme macht.