Editorial
Als Schriftstellerin sitzt man heute schneller, als man schauen kann, auf Panels. Wir Autoren gelten als Generalistinnen und Generalisten, wir scheinen im öffentlichen Diskurs etwas von den gesellschaftlichen Widersprüchen zu verstehen, manchmal werden wir befragt wie Priester, die einen zu entlassen haben in irgendeinen Sonntag, den es noch gar nicht gibt, aber den auszudenken sich auch niemand konkret vornimmt. Manchmal fungieren wir auch als kritische Gegenstimme zu übermächtigen Rhetoriken, die man gar nicht von außen mehr besu-chen kann, vermeintliche Fachsprachen wie die der Ökonomie. Es sei alles ganz einfach, so hörte ich beispielsweise vor ein paar Wochen auf einem der Panels einen Ökonomen sagen, die Komplexität werde ohnehin nur beschworen als Verdunkelungsgeschehen, man suggeriere eine undurchschaubare Welt – voilà, und schon hat man die Machtverhältnisse zementiert. Die Ökonomie gilt als Fachsprache, die heute jeder sprechen muss, aber gleichzeitig keiner verstehen darf. Sich diese Sprache literarisch vorzunehmen, bedeutet allerdings auch gegen die Widerstände anzukämpfen, die aus jener Verdunkelungsrhetorik resultieren. Alles, was etwas komplexer anmutet, steht schon unter Verdacht der Vernebelung. Die nächste literarische Herausforderung ist die Aktualität – die vermeintliche Bewegung auf der vermeintlichen Höhe der Zeit, ein recht abgenutzter Fetisch unserer Mediengesellschaft, der erstaunlicherweise gleich dem Authentischen auf den publizistischen Märkten immer noch jede Menge wert ist. Diese Form von Aktualitätssuggestion bringt ihre eigenen Blindheiten mit, die zu durchkreuzen, nein, auszuhebeln ich auch mit dieser Ausgabe vorhatte. Denn Schriftstellerinnen und Schriftsteller können mit diesen Formen des Authentischen spielen, mit den Effekten des Aktuellen, um ihre Arbeitsweise sichtbar zu machen.
»Ja, wo leben wir eigentlich?« Mein Einladungsbrief ist nur etwas über ein halbes Jahr alt, doch er erscheint mir aus einer anderen Zeit zu stammen. Das Aktuelle hat nämlich erstaunliche Konkurrenz bekommen von dem Unvermeidlichen, das es seit neuestem wieder verstärkt gibt. Das, worum man einfach nicht herumkommt. Ging es vor kurzem in öffentlichen Veranstaltungen vor immer ratloseren Gesich-tern im Publikum um Finanzkrise, um Arbeitsgesellschaft, um das Ka-tastrophenthema, um Postdemokratie – vergleichsweise eher abstrakter, nein paradoxerweise etwas weiter weggerückt wirkende Themen, so stehen heute Terrorismus, Asyl, Flucht, Migration als Fragestellungen an, aber ganz konkret, als befänden wir uns insgesamt auf einer Reise in die Konkretion, in die ganz drastischen Auswirkung auch unserer Politiken. Auch ich war vor einem halben Jahr, als ich meine Schreibeinladung formulierte, noch nicht WIRKLICH dabei, mir das auszumalen, was im Moment in Europa geschieht. Ich habe damals von meinen Recherchen im Rhein-Main-Gebiet erzählt, rund um den Flughafenausbau und die Bürgerinitiativen, ich habe über Postdemokratie geschrieben und das Kongobeispiel gebracht, das ich durch Milo Raus Arbeit besser kennenlernen konnte. Eine Art Arbeit am Double, der Reinszenierung. Ungleichzeitigkeit, das hat mich zudem interessiert. Ich habe in jenem Brief von den Kartographien der Gegenwart gesprochen, doch den Begriff »Flucht« nicht angeführt. Das Flüchtlingsthema schien noch ein Stück weiter weg, trotz Informationsgesellschaft, trotz steigender Zahlen und süddeutschen Zugbegegnungen der dritten Art. Gerade eben, wo ich dieses Editorial formuliere, kämpfen wir uns mit einer konkreten Ineffizienz der Behörden und mit missverständlichen und missverstandenen Willkommenskulturen ab, mit der rechtsradikalen Reaktion auf vielen Ebenen. Es ist gleichzeitig so, als bekämen Quantitäten heute andauernd etwas Konkretes und etwas Hysterisches, als hauste dieses Duo in der Mitte jeglicher Handlungsbemühungen. Aber wie wird das im Frühjahr aussehen, d. h. JETZT, wo Sie das Heft in der Hand halten? JETZT, diese Zeit, in der, wie es allerorts heißt, der Wiedereintritt in die Geschichte stattfindet, wie man sie vor 25 Jahren zu verabschieden geglaubt hatte?
Doch was heißt es eigentlich, wenn die Wahrnehmung und der Umgang mit den Fluchtbewegungen für uns Schriftsteller und Schriftstellerinnen unvermeidlich geworden ist? Was ist dann nicht alles mit unvermeidlich geworden? Der Krieg in Syrien? Die Situation in der Ukraine, die in Israel und Palästina, im Irak, in Afghanistan, in Saudi-Arabien, und was wir damit zu tun haben? Alles Themen, die diskurstechnisch hochvermint sind, wie man an der Hochrüstung der Rhetorik wahrnehmen kann. Rhetoriken, die es schon in die internen und nun doch öffentlich geführten Debatten der Theaterhäuser geschafft haben, wie das Beispiel des Streits von Alvis Hermanis mit dem Thalia Theater im Dezember letzten Jahres gezeigt hat und seine Behauptung, man müsse angesichts des Terrorismus Position (in diesem Fall gegen die Arbeit mit Flüchtlingen, weil unter ihnen Terroristen seien) beziehen. Parteilichkeit wird plötzlich abverlangt, die es künstle-risch nicht geben kann. Man kann es eigentlich nur falsch angehen, und man müsste es zudem schnell angehen, das macht unsere Arbeit auch so wichtig, denn, so heißt es doch, wir hätten Langsamkeit sozu-sagen auf Vorrat.
Ich habe Kolleginnen und Kollegen gefragt. Ich wollte wissen, wie der Tigersprung in die Gegenwart (dieser umgedrehte Benjamin, in dem wir leben) literarisch zu verstehen sein könnte. Der Riss durch die Zeit. Die Gegenwartsverlorenheit, die mich im höchsten Maße irritiert, die manchmal wie eine Ansammlung von Ungleichzeitigkeiten aussieht, manchmal wie eine eigene Gegenwarts- und Situationsverlorenheit, manchmal wie eine perfide organisierte Sache.
Es ist ja durchaus vorstellbar, dass die Möglichkeiten der Literatur bei der Orientierung helfen könnten, denn sie stellt vor allem Konstellationen her, sie offeriert Kontexte, Bezüge, und sie ist in einer Art Fremdsprache geschrieben, wie der französische Philosoph Gilles Deleuze gesagt hat, einer Fremdsprache, »die weder eine andere Sprache noch ein wieder entdeckter Dialekt ist, sondern ein Anders-Werden der Sprache«. (Deleuze, Kritik, S.16) In einer Welt voller Fremdsprachigkeit könnte sie unser Verhältnis zueinander immer wie-der neu bestimmen. Dazu kommt ihre Fähigkeit, in dieser Fremdspra-chigkeit auch die Vielsprachigkeit unserer Sprachen sichtbar zu ma-chen, was ihr eine unschätzbare Bedeutung im sinn-lichen Aufklä-rungsgeschehen unserer Zeit verleiht.
Ich habe ungeduldige Antworten erhalten, zu Recht. Missverständnisse waren vorprogrammiert, und es ist nicht verwunderlich, dass sich darunter ein Ukrainetext finden würde, ein Syrientext, ein Israeltext – aber das wäre nur eine sehr eingeschränkte Betrachtungsweise, der eine andere dringend hinzuzufügen wäre. Logisch, dass es in diesen Zeiten Bildunterschriften braucht, die sich auswachsen, dass formale Kreuzungen entstehen müssen, hybride Formen, die die Problemstellungen von mehreren Seiten gleichzeitig angehen. Und so war es mir wichtig, die unterschiedlichsten Formen des literarischen, essayistischen, künstlerischen und auch theoretischen Sprechens zu Wort zu kommen zu lassen, die alle auch auf dem literarischen Feld anzusiedeln sind. Es gibt meines Erachtens keine Trennschärfe zwischen den Künsten. Natürlich ist klar, was Textarbeit ist, aber was um die Textarbeit rumsteht und diese bedingt, sieht manchmal mehr nach bildender Kunst, Performativem, Architektur, Musik, Digitalem, nach Theorie aus. Auch finde ich es nicht verwunderlich, dass das, was derzeit wieder als die neue Realismusdebatte bezeichnet wird, sich auf die meisten Texte beziehen lässt, und freue mich insofern über die theoretische Thematisierung des Zusammenhangs von Realismus und Gegenwartsbegriff am Ende der Ausgabe.
Einige Vorhaben habe ich nicht mehr geschafft, um die es mir hier leidtut. Zum Beispiel das begonnene Gespräch mit der Schriftstellerin und Essayistin Silvia Bovenschen fortzuführen. Oder mit dem Men-schenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck. Ja, statt eines Vorworts wollte ich Gespräche führen und muss mich jetzt selbst beim Wort nehmen und die Gespräche andernorts weiterführen. »Ich lebe im Hier und Jetzt« ist auch diesbezüglich eine kühne Behauptung. Aber immerhin kann ich mich jetzt bei meinen Kollegen und Kolleginnen bedanken für ihre äußerst spannenden Arbeiten. Voilà!

Kathrin Röggla stellt die Frage, in welchem Präsens wir leben und ob es dem steten Gegenverkehr aus der Zukunft noch standhalten kann, das sich stets ins Futur zwei wandeln möchte. Das Verwetten der Zukunft auf den Finanzmärkten, der sich längst vollziehende Klimawandel und der gewaltige Umbau der politischen Landschaft – wer hält sich noch freiwillig auf der Höhe der Zeit? Und was halten Sie für unsere Gegenwart unter diesem Blickwinkel? Wenn wir für einen Moment noch einmal davon ausgehen, dass es sowas wie Gegenwart gibt, wie wäre sie zu beschreiben? Kathrin Röggla bittet Prosaautoren, Dramatiker und Lyriker, Theoretiker und Denker um einen Beitrag zu einer Kartographie einer Gegenwart, der man die innewohnende Zukunft anmerken kann.