Vor der Begrüßung gehen wir Fischbrötchen essen, am Meer. Wobei, der Fischbrötchenladen ist genauso direkt am Meer wie Greifswald: gerade außer Sichtweite.
Dann die Begrüßung: Es geht um Hans-Werner-Richter, um die Gruppe 47, um Enzensberger (ganz kurz) um Max Frisch (etwas länger).
Dann lesen: Bei L.F. geht es um vieles, bei M.B. auch, und um Feuerland, das ich kenne, denke ich. Später werde ich es googeln und herausfinden, dass ich keine Ahnung habe von Feuerland.
Im Gespräch danach fallen die Wörter »Realität« und »Wirklichkeit«. (Auch die Wörter »Japan« und »Strahlenwerte« fallen, ebenso »Leidenschaft«.)
Es gibt Fragen aus dem Publikum, das wir sind. Und zwei Gäste.
Es geht viel um Tendenzen.
Dann zwei ehemalige Studenten von einem Literaturinstitut, wieder geht es um Realität, um Tendenzen und um Literaturinstitute (sehr spannend) und um Tendenzen an Literaturinstituten (sehr, sehr spannend!).
Danach gehen wir zurück zum Fischladen (eigentlich gehen wir nicht, sondern fahren mit dem Auto. Vielleicht aus Solidarität mit den Lokführern. Vielleicht weil wir faul sind. Wir fahren mit einem grünen Opel, zu fünft, er macht verdächtige Geräusche.)
Wir kaufen einen geräucherten Aal. Die Verkäuferin tut so, als bekäme sie den Fisch nicht richtig zu fassen und mit etwas Phantasie sieht es so aus, als lebe der Aal noch. Sie sagt: »Da sehen Sie, wie frisch der Fisch ist.« Irgendwer sagt: »Sogar geräuchert!« Mein heimischer Falafelhändler macht auch immer sowas, sagt: »Zum Hieressen oder zum Mitschleppen?« oder »Das macht dreihundertfünfzig Cent, für die Tüte, der Falafel ist umsonst.«
Es ist dunkel, und wir trinken Bier. Realität ist ein Thema. Vielleicht eine Tendenz.
Am nächsten Morgen verschlafe ich, aber nur ein paar Minuten. Ich habe von meiner Kindheit geträumt, aber ganz merkwürdig. Ich war mein Vater, und ich (also als Kind) sitze mir (also meinem Vater) gegenüber und spiele auf dem Game Boy. Was ich spiele, kann ich nicht erkennen. Ich sage dann zu mir: »Schau doch mal lieber aus dem Fenster, anstatt auf das blöde Ding da, da draußen ist das richtige Leben!« und mit einem, von (relativ) schwerer Arbeit zerfurchten Daumen zeige ich auf das Fenster. »Dein Game Boy, das ist nicht real.«
Ich schüttle mir den Traum aus den Fingern und ziehe mir drei sauer eingelegte Rollmöpse rein, die es zum Frühstück gibt.
Heute werden sehr genaue Beschreibungen vorgelesen. Recherchierte Brücken, die es schon gestern gab, werden heute in Frage gestellt.
In der Pause gehen wir in die Nähe des Meeres und essen Backfisch, im Brötchen, mit viel Remoulade. Es riecht schon nach Meer, das schon.

Am Nachmittag wird wieder gelesen, auf der Straße schlägt der Regen auf die Pflastersteine, und der Wind klopft an die Tür, und wir reden über Beschreibungen. Draußen quält sich dunkelgelbes Licht durch die schütteren Zweige vorübergehend sterbender Laubbäume, und draußen, wo das Meer ist, fliehen Fische vor den letzten Netzen des Jahres, einer schlägt den Mantelkragen hoch. Drinnen reden wir über unsägliches Anthropomorphisieren, und drinnen fragen wir einander auch, was wir der Realität schulden, was die Realität uns schuldet, was sie eigentlich je für uns getan hat, diese Realität.
Zum Abendbrot beißt R.E. in ein Krabbenbrötchen, kalte nasse Luft hat uns fest in wohligen Krallen, und M.J. sagt, dass es Krabben nur in der Nordsee gibt. Jemand sagt, dass das nicht stimmt, der mit dem hochgeschlagenen Kragen.
Und vielleicht ist eben genau das die Tendenz, die wir seit 2 Tagen in der deutschen Gegenwartsliteratur vermuten: Sie ist beschreibend, die Tendenz. Auf vielen Seiten, beschreibend. Und gerade wenn es seitenweise um ein Haus geht, das es vielleicht in Wirklichkeit gar nicht gibt, das an einem Fluss steht, den man auf keiner Landkarte finden kann, der durch Dörfer fließt, die so programmatische Namen haben wie: »Friedlos.« Oder: »Waschingen«, immer dann also kommt plötzlich jemand daher, den Kragen hochgeschlagen, in einem Unwetterchen im Herbst, und erzählt etwas von Nordseekrabben. Erzählt von rauer Seefahrt, er muss ja nicht gleich ein Holzbein haben, aber vielleicht sonnengegerbte Haut, erzählt von, vielleicht nicht gleich wilden Seeungeheuern, aber doch wenigstens von einer Qualle, die halb so groß ist wie der Marktplatz von Greifswald. »Wenn wir gestreikt hätten«, sagt der Mann, »dann hätte es am Abend nichts zu essen gegeben.« (Er stopft sich eine Pfeife und schiebt seine Hände in die großen Manteltaschen. Die Hände sind so rau, dass es beim Einstecken der Hände ein Geräusch gibt. Mit dem Rauch blässt er Ringe, dann hustet er, rotzt durch die Nase, zeigt uns Narben (die wie Buchstaben auf seinem Körper liegen)).
Ich war noch nie in Greifswald. Ich meine, ich war nicht nur noch nie bei der Tagung ›Junge Literatur in Europa‹, mit all ihren internationalen Gästen, sondern ich war wirklich noch nie in Greifswald. Ich weiß nichts über die Stadt, außer dass sie beinahe am Meer liegt. Ich ahne, dass man nicht ausschließlich Fisch isst in Greifswald, dass nicht alle Ossis reden wie Honecker (Ich äußere die Vermutung und werde ruhig, aber bestimmt in meine Schranken gewiesen). Wir reden, an den Abenden, beim Fischbrötchenladen, nicht so viel über tschechische Literatur, über polnische, kaum über estnische, ein wenig mehr über finnische Literatur. Obwohl alle da waren. Wir reden andererseits auch nicht über deutsche Literatur. Es ist, wie L.F. gesagt hat: »Wenn wir nicht schreiben, dann reden wir. Und wenn wir nicht reden, dann trinken wir Bier.«
Am letzten Abend gibt es ein Konzert von R.G., für uns, für alle die wollen, etwa 3000 Leute, kein geschützter Raum mehr, der ohnehin nur inoffiziell ein geschützter war. R.G. beißt auf offener Bühne einem rohen Karpfen den Kopf ab.
Am Abend betrinken wir uns, wieder fast am Meer.
Junge Literatur in Europa, drei Tage in Greifswald.
Die Züge streiken, drei Autos werden gemietet, sie fahren durch den irre bunten Herbst, »wer will da noch in der Stadt wohnen«, twittert Robert Gwisdek auf dem Weg durch die Mecklenburgische Schweiz.
Wenige Stunden später im Tagungsraum spricht Lucy Fricke darüber, wie Tokio klingt, zärtlich. Sie hatte erst Tonaufnahmen von der Stadt gehört, bevor sie hingereist ist für ein Stipendium, das außer ihr niemand angetreten hat, die Nuklearkatastrophe von Fukushima war kurz zuvor passiert. Die Menschen, die sie in Japan getroffen hat, zu schützen, ihnen gerecht zu werden, das war das Schwierigste am Schreiben ihres Romans, ›Takeshis Haut‹, erzählt sie. Verändern würde sie sehr vieles, wenn sie im Nachhinein könnte, sagt sie. Oft, wenn Autoren miteinander über missglückte Bücher von Kollegen sprechen, heißt es, der Lektor sei Schuld gewesen, wie hat das nur passieren können.
Mirko Bonné erzählt davon, wie er zwei Brücken verlegt hat für seinen Roman, ›Nie mehr Nacht‹, einen Fluss erfunden, »Guy«, nach Guy de Maupassant. Er schreibt an einem Erzählungsband, ›Feuerland‹, fügt bereits früher entstandene und neue Erzählungen zusammen, das Motiv ›Feuerland‹ schreibt er den Texten, die bereits existierten, ein, die Sehnsucht danach gibt es in all seinen Geschichten und Romanen.
Die Ermächtigung des Schriftstellers über die Realität? Svealena Kutschke ist für ihren Roman, an dem sie gerade schreibt, eine Straße in Lübeck entlanggegangen, hat an allen Häusern geklingelt und tatsächlich zwei Keller gefunden, in die die Trave hätte laufen können, Ende der zwanziger Jahre im letzten Jahrhundert. Ihre Heldin Magdalena sitzt in diesem Keller, das Wasser steigt, aber nicht sehr hoch. »Wenn die Trave nicht zu ihr kam, musste sie eben zur Trave.« Dort wartet bereits der Teufel, er lächelt ihr zu, und sie springt.
»Auge in Auge«, hat Felicitas Hoppe das Prinzip genannt, mit historischen Stoffen und Figuren umzugehen. Und so blickt auch Katharina Adler ihrer Urgroßmutter entgegen, entwirft ihre Lebensgeschichte und sorgt sich nicht darum, moralische Grenzen zu überschreiten, nachdem Sigmund Freud Ida Adler als ›Fall Dora‹ bereits entblößt hat. Wie mit der Fülle des historischen Stoffes umgehen, dem Recherchierten, der historische Faktizität? Solange die eigene Erinnerung und damit er sich selber Quelle gewesen sei, sei es ja ganz einfach gewesen, sagt Matthias Jügler und erzählt vom Schreiben seines Debüts ›Raubfischen‹, das die Reise eines jungen Mannes mit seinem kranken Großvater nach Schweden erzählt, die beiden angeln miteinander. Dass ihm sein Großvater das Angeln beigebracht habe und nicht etwas Anderes, Unpassendes, sei natürlich ein Glück, sagt er. Der neue Roman erfordere Recherche, und das mache ihm überhaupt keinen Spaß. Jemand widerspricht. Das Material fordere die Imagination doch erst recht heraus.
Der Widerstreit mit der Realität – Auge in Auge mit den historischen Tatsachen, einerseits. Andererseits blickend auf eine Realität, die sich als Täuschung, Bühnenbild, Kulissenzauber erweist.
Er schiebe ja schließlich Kulissen umher, sagt Mirko Bonné. »Es sah nicht aus wie Japan, da draußen,« stellt Lucy Frickes Figur Frida fest, »nicht wie ihre Vorstellung davon, es sah aus wie Russland, obwohl sie auch in Russland noch nicht gewesen war. Es sah aus, wie ihre Vorstellung von Russland aussah: Plattenbauten, Schnellstraßen, alles in hellem Grau und vor den Fenstern Wäsche.« Aber auch dieses Bild bekommt schnell Risse. Auch Bonnés weibliche Figur ist nicht fest verankert in dieser Welt. »Im Universum ist niemand zu Hause. « Dieses Zitat von Lars Gustafsson stellt Mirko Bonné seiner Erzählung ›Schiff im Schnee‹ voran. Roman Ehrlich erzählt von dem Budenzauber, in dem Realität und Fiktion, Erinnerungs- und Filmbilder einander durchdringen, ununterscheidbar werden, wie auf einer lächerlichen Theaterbühne. So könne man es sagen. Aber das gilt nicht nur für die Kunst. »Ich stehe im Licht. Ich bin dran. (...) Was ist eigentlich hier los, was stimmt denn hier nicht, was ist hier falsch? War jemals einer hier, wo ich jetzt bin, und hat es gewusst, verstanden, durchschaut, hat sich hier jemals auch nur einer nicht zum Idioten gemacht? Ich mache mich auch zum Idioten, kein Problem, ich will’s nur wissen.« ›Die melancholische Nacht‹, so heißt der Text, nein, »Macht«, die melancholische Macht. Der Künstler ist der, der sich zum Idioten macht? Der lieber Rahmen baut, als die Leinwände zu füllen.
Ein schwitzender Deutschlehrer, Said Maruan, steht vor den Arabern, die Weshaalb vom Kröteinstitut mit Schinken bewerfen. Oder auch nicht. Alles lacht, der Autor verscheucht sein eigenes Lachen. Natürlich soll man lachen. »Wer weiß schon, was diese Araber da machen? Und weshaalb?«, sagt die Kröte. »Wer weiß schon?« »Ehrlich ist«, heißt es im Text immer wieder. »Ehrlich ist« ist mehr als: wahr ist.
Robert Gwisdek liest und spricht und singt in vielen Stimmen, er notiert, er hört zu.
Es sind noch viele Sätze mehr, Fragen, Stimmen, Autoren, Lachen und Stirnfalten, finnische Passagen, Tschechisch und Estnisch. Mit der Peitsche über der Sprache stehen. Die Seelen der Toten verwandeln sich in Schwalben, in der slowenischen Mythologie.
15 Jahre Treffen junger Autoren, was hat sich verändert? Die Postmoderne musste überwunden werden, sagt Mirko Bonné, das Erzählen musste wiedergewonnen werden. Und nun täten es die Autoren einfach wieder, erzählen und zitieren, mit Selbstverständlichkeit. Was sollen und wollen die jungen Autoren? Gesellschaft, Utopie, Genie oder lächerliche Figur – vielleicht sind das die falschen Fragen. Was die Literatur will, ist mir egal. Auch das sagt Mirko Bonné. Das ist für die Literaturwissenschaftler. Wie man einen Stoff findet, wie man versucht, sich zu drücken, Textchen und kleine Erzählungen schreibt, anderes macht, bis es sich nicht mehr vermeiden lässt anzupacken, was sich aufdrängt, zum Teil seit Jahren, wofür man die Mittel aber nicht hatte. Darum geht es. Davon erzählen Katharina Adler und Matthias Jügler. Es geht um das Geld, das irgendwann ausgeht. Um die Entscheidung, die man treffen muss. Wieso das Kunst ist? Oder ein exquisites Hobby? Stirnrunzeln. Und dann ist alles einfach da, am Samstagmorgen: der hohe Ton, die Totalität, die große Geschichte, Lübeck und die Buddenbrooks, Thomas Mann, dem schickt sie den Teufel auf den Hals.