Gedichte stellen eine unendliche Provokation dar, und daher unterhalte ich mich oft und gerne über sie, doch nicht unter allen Bedingungen. Das Genre des Online-Kommentars ist strukturell eine Maschine für Unverhältnismäßigkeit und Ärger. Liegt es an seiner Unendlichkeit, seinem Nichtort – trotz des schönen Layouts –, seiner tiefsitzenden Ineffektivität? Dieses Genre scheint aus irgendwelchen Gründen immer das Schlimmste aus allen herauszuholen. Als müssten sie die Peinlichkeit der Tatsache, dass sie hier sitzen und rumgiften, an den anderen rächen.
Gerade in der versatilen Klamotte der Gedichtbesprechung ist viel möglich, und es geschah auch viel. Das Tricksterhafte des Gedichts hilft dabei, bekannte diskursive Sackgassen zu vermeiden. Die Gedichte sollen den Raum dazu schaffen, haben aber nicht etwa das exklusive Recht, anders zu sprechen: unerhörte Sprechakte anzuwenden oder wenigstens aus den ödesten Diskursschienen auszubrechen. Immerhin schaffen sie Spielraum. Wo Sprache sozialen Regeln unterliegt, mehr, als dass sie sie gestalten kann, ist das radikale Sprechexperiment schwerer zu leben. Umgekehrt wird, merkt man ja, beim wilden Sprechen das Soziale unberechenbar, die Hackordnungen geraten durcheinander und so weiter. Also voll die Anarchie beim Gedichtebesprechen an sich. Bei der Anarchie kommt alles darauf an, mit wem zusammen man sie zu navigieren hat.
Es waren ein paar Namen, die Anlage »auf nett« (die immer Fiesheiten in den Ecken ausbrütet) und das technisch-mediale Dispositiv, die ausschlaggebend waren für die Entscheidung, dass, sich hier zu beteiligen, einem langgezogenen Ärgernis gleichkommen würde. Die Namen repräsentieren einen Typus männlicher egokranker Sensibelchen, dessen Zutext-Potential ich fürchten gelernt habe. Urteilsorientiert. Darum soll es im Folgenden gehen. Diesen Typus halte ich nicht für eine inferiore Rasse oder so etwas, sondern bloß für ein Phänomen der Zeiten wie das der Checker-Zicke Er ist eine Ausgeburt der Übergangszeit von einer chauvinistisch organisierten zu einer gleichberechtigteren Gesellschaft. Ein Phänomen, für das niemand etwas kann, das aber trotzdem nervt, besonders wenn es sich mit Relikten realer Machtstrukturen zu beklemmend unfreien Situationen kombiniert. Meine Hoffnung beim Schreiben von Text hierzu wäre, dass eine abstrakte Beschreibung oder Karikatur ein paar typische Deformationen lächerlich und dadurch rar machen könnte. Ich halte übrigens jeden, mich und alle anderen, für mehr oder weniger unschuldige Spielbälle ihrer Situation und ihres Charakters. Die Verantwortlichkeit und somit Schuld für den eigenen Nervfaktor beschränkt sich auf diesen kleinen Spielraum des »mehr oder weniger«. Wenn einer wenigstens auf die Idee kommt, dass er nerven könnte, verzeiht man ihm eh schon viel.
Eitelkeit, wie sie mir und den meisten, die veröffentlichen, eigen ist, ist wohl der allerklassischste Charakterfehler von Schriftstellern. Er erscheint wie Maulwurfshügel ein bisschen, aber nicht allzu sehr überraschend. Nichts lähmt mehr als das Dispositiv, erfolgreich zu sein, ob positiv oder negativ gewendet, und eventuell sieht man mich deswegen andauernd irgendwo am Glatteis schlittern: Ich möchte natürlich nicht selbst in diese Falle tappen, schon gar nicht im illusorischen Berufsbild »erfolgreicher Dichter«. Es gibt aber noch bessere Gründe für mich, nicht mitzumachen. Nicht nur schreibe ich selten und aus den falschen Gründen Gedichte, sondern ich bin auch eine notorisch schlechte Leserin von Lyrik, unduldsam, immer bereit, das Buch zuzuklappen oder sich über irgendwas aufzuregen, nur um vom Gedicht wegzukommen. Das Arsch-sein ist mir offenbar unterhaltsamer als das seriöse Lesen von Lyrik. Wie Mr. Jackson mir aufzeigte, kommt nicht immer meine schlechte Laune von schlechten Texten, manchmal ist es auch umgekehrt. Und wenn ich dann doch ernsthaft lese, bemerke ich, dass ihr die Qualitäten, die ich bemerke, die ganze Zeit schon besprecht. Gedichte als brave Arbeit. Als Arbeitsweise. Als Methode der Erkundung von Gebieten, Dérive. Da seid ihr alle schon längst unterwegs, und ich stehe noch und wundere mich.
Was ich beitragen kann, ist also ohnehin nur eine Posse, eine Karikatur von Lyrik, von Lyrikkritik. Nutzbar machen, was man aus welchen Gründen dagegen haben kann. Wie eine Meinung aussieht, wenn sie nabeltief im Meer steht. Nehmt also hier Kritik und Karikatur als Zeichen, dass ich Lyrik und Meinungen sehr wohl respektiere und nicht einfach vermeide.
Die Plastikschwemme
Es liegt anscheinend in der Natur von Diskursveranstaltungen, dass im Vorfeld die rosigsten Vorstellungen herrschen über die guten Gespräche und Erkenntnisse, die durch sie ermöglicht werden, sonst wäre es ja auch schwer, die Energie und das Geld aufzubringen, sie zu organisieren. Diese Vorstellungen, deren imaginiertes Niveau durch die notwendige Selbstrechtfertigung in der zunehmenden Dichte der Veranstaltungen in schwindelerregende Höhen steigt, kann nur enttäuscht werden. Das ist nicht so schlimm, wie es klingt. Es entspricht einfach der Vorgehensweise beim Aufbau aller großen und kleinen Unternehmen.
Trotzdem befinden wir uns gegenwärtig in einer kollektiven Hilflosigkeit, was das Leben mit Text betrifft. Keiner würde Nein zu Kultur sagen wollen, doch jedem ist klar, dass es zu viel Text gibt, was den Text als Kommunikationsform schwächt. Von daher ist es völlig richtig, den Fokus auf Konzeptionen zu richten: Über alles wurde schon mal gesprochen oder geschrieben, und es ist auch zugänglich. Keine Vergriffenheit gibt mehr Anlass zu einer paradigmatischen Neusichtung von irgendwas, alles könnte man immer neu sichten, nur muss es halt dann auch allen mitgeteilt werden, damit sie nicht ihrerseits zugleich anders sichten. Das heißt, die Werbe-Robotik der Wichtigkeitsproklamation rennt, rennt, bis sie an eine Wand kommt, dann weiter: denn alles ist unendlich wichtig und braucht maximal viel Geld und Unterstützung. So die Dynamik des Umherhetzens im Netz, alle verdienen ihren Lebensunterhalt mit Kultur, also mit Wichtigkeit. Schon dabei gilt es, eine Strategie markanter Wege und Gewohnheiten zu entwickeln. Das ist Webdesign, war früher Buchdesign – und wurde bei »Hundertvierzehn Gedichte« fein realisiert.
Haken schlagen im Interweb
Wer schreibt also wo, zu wem, wann, wie und wie lang. Das ist die Frage, die sich eigentlich vor jedem Satz stellen muss. Der sogenannte Inhaltismus ist ein Relikt aus einer Zeit, wo schriftliche Äußerung bloß eine Selbstverständlichkeit war, ein Gebrauchsgegenstand im intellektuellen Leben, über den man nicht länger nachzudenken brauchte, weil er in ausreichendem Maß, aber nicht im Übermaß vorhanden war, und das war banal physikalisch bedingt, Papier, Tinte, Arbeit. Vor der Druckerpresse war die Schriftlichkeit ein aufregendes Problem, weil Text so rar war und so viel Schreibfleiß verlangte. Jetzt ist das Problem die unendliche Leichtigkeit, mit der Textmasse erzeugt werden kann. Vielleicht ist das sogar ein geheimer ästhetischer Aspekt der »Flüchtlingskrise«: Als Angstbild spiegelt die Vorstellung eines unendlichen Stroms von Menschen wie eine infernalische Karikatur den unendlichen Strom von Information.
Jetzt nagt also bei den Text gebrauchenden (und auf den Rest der Welt nervös schielenden) Individuen ein dringender, tief empfundener grundsätzlicher Textskeptizismus alles an und bringt doch weiterhin Texte hervor: Die Systeme sind träge. Ich nutze sie auch noch. Es ist so wie das Plastikproblem: während am Recycling[1] und an der Reduktion des Verpackungskonsums gearbeitet wird, steigt weiterhin – entsprechend der herrschenden ökonomischen Logik – die Produktion von Plastik ebenfalls an. Zum Glück kann man Text auch vermeiden, etwa am Land, in Erdlöchern wie dem Berghain etc. Aber unsere Psychen ähneln schon eher den naiven, am Plastik krepierenden Meeresvögeln. Programmiert aufs Buchstabenpicken, scheinen wir angesichts der mit blitzenden Reizen flottierenden Massen von Text den Automatismen unseres sprachlichen Begehrens ausgesetzt, das sich, wenn überhaupt, erst in ein paar hundert Jahren an die neue Textsituation anpassen wird.
Das kann man in Form von Mikrodramen bei der Besprechung von Gedichten beobachten. Was als Magenbewegung bei Reizung hurling heißt, ist eigentlich ein Versuch, die Bedingungen, nämlich etwas Ruhe, für die gesuchte verdauende Enzymreaktion herzustellen: das Urteil. Die Entscheidung. Es ist essentiell beim Import von Text in mein Gehirn und mein sozusagen Herz, welche beide im Vergleich zum mechanischen Teil des Lesens frustrierend langsam die zugeführten Texte verarbeiten.
Periphere Überhitzung
Das Bewusstsein bemerkt ja nicht nur das, worauf es zielt, sondern alle Daten aus der Peripherie. Zweck dieser Peripherwahrnehmung ist es, herannahende Gefahren zu erkennen, um sich darauf vorbereiten zu können. Mein Bewusstsein hält in dieser Zone etwa die Daten darüber bereit, wie viele Fenster auf dem Desktop und in der Realität offen sind, wie viele Aufgaben ich heute noch zu erledigen habe, wie lange mein Körper es noch in der Sitzposition aushält und so weiter. Diese Verarbeitung peripherer Wahrnehmung wird zugleich aber auch benutzt, um Verhältnismäßigkeit in meinem Verhalten zu gewährleisten. Orientierung wird aufgrund der bekannten Daten hergestellt, und automatisch schätze ich die relative Wichtigkeit der Angelegenheiten ein. Was bei Diskussionen passiert, in der Kneipe, am Gartenzaun und online, ist zu einem großen Anteil nichts anderes als ein Ausverhandeln dieser Verhältnismäßigkeiten. Man stimmt die Wahrnehmung aufeinander ab. Die Urteile werden im Übrigen in den seltensten Fällen binär vollstreckt, meistens erfolgt die Bewertung in der Währung von Zeit und Aufmerksamkeit, und der unendliche Talk[2] ist dabei gleichzeitig Theorie und Praxis.
Ganz normal ist es also, dass man das Denken ins Reden oder Schreiben auslagert und somit gewissermaßen kollektiviert, indem man sich vom Verlauf der Diskussion mitprägen lässt. Diese Dauerarbeit von allen Sprachbenutzern wurde historisch gestört von der Schriftlichkeit, die einen bestimmten Text fixierte. Es gab einen Zeitpunkt der Entscheidung für eine richtige, definitive, die Zukunft in künstlich erhöhtem Maß prägende Version.[3] Nun aber wird der unendliche Talk der Menschheit zum zweiten Mal durch eine Erfindung gestört, diesmal durch die unendlichen Wucherungen des selektiv reproduzierten Schriftlichen. Die Verbindung von allem mit jedem erhöht noch den überwältigenden Eindruck. All diese Orientierung umdröhnt ständig einen, dem es aus welchen Gründen auch immer – vielleicht wegen Neugier und Realismus – nicht gelingt, eine radikale, entschiedene Selektion bei sich selbst durchzusetzen. Das schlägt sich auf sehr verschiedene Weisen im Stil nieder.
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Schauprozesse
Ein Bekannter beschäftigt sich mit den Moskauer Schauprozessen, er macht eine Performance daraus. Wichtiger ist, dass er von seinen Lektüreeindrücken erzählt, aber die Performance muss halt sein. Mit Gedichten ist es so wie mit Performancekunst. Dass man sie als Produkt, also Objekt, behandelt, ist eine Absurdität der Funktionsweise der Marktwirtschaft.
Gedichte sind aber bekannterweise keine Konsumgüter, sondern schaffen eher Probleme.Aber es gibt naheliegende Lösungen. Ordnungssysteme, die mit den Gedichten doch zu Rande kommen. So bauen Gedichtkommentatoren Textchen, die wirken wie Sicherheitsnetze unter Akrobaten, »damit nichts wesentliches unter den Tisch fällt«. Unter den Tisch fällt, dass auch die Kommentare Form haben, sich nicht notwendigerweise eine Stufe unter die Gedichte (oder eine Stufe über sie) stellen müssen. Komischerweise gelingt die schöne Form am ehesten bei den leichthin geschriebenen, tatsächlich noch spielenden Kommentaren.
Zum moralischen oder gerichtlichen Aspekt
Es gibt nun kaum eine gründlichere Form der Machtrepräsentation, als die Zurschaustellung willkürlicher Fiktionen im Theater der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist ein Vorwand. Das Theater wird benutzt. Bewundert und zur Kenntnis genommen werden sollen die Macht, das Geschick der Protagonisten. Ganz wie in der Justiz wollen die Individuen innerhalb des Studio-Gerichtssaals in ihren Anzügen glänzen, das heißt für deutsche Männer: Schneid zeigen. Das wiederum heißt für deutsche Männer, eine gewisse launische (»italienische«) Unberechenbarkeit an den Tag legen, mal richtig gemein sein, um Aufmerksamkeit zu bekommen, dann wieder überraschend sensibel, so, dass alle Exen, die mitlesen, sich weinend in drei Flaschen Rotwein verkriechen. Es entspricht den Verhaltenstechniken aufmerksamkeitsheischender Kleinkinder. Und sobald diese Dynamik anfängt, ist das Forum kaputt, das funktionieren soll wie eine Unterhaltung unter gebildeten Männern, das heißt, um den bekannten[4] Satz umzudrehen, wie ein Streichquartett. A certain level-headedness oder Augenhöhe. Nicht soll man klein sein, treten und brüllen, bis dank der nächsten Nuckelflasche (Gedicht) wieder kurz Ruhe einkehrt.
Ein plötzlicher Verdacht
Mit diesem Forum wird sich an den LyrikerInnen gerächt. Ihr schreibt, was ihr wollt, ihr Viecher? Wir schreiben auch, was wir wollen, und zwar über euch.
Das ist diese auffallende unappetitliche Note.
Freiheit verträgt sich nicht gut mit Rache. Ein Tropfen Rache vergällt hunderte Millionen Liter Freiheit.
Kommentare bitte in Socken, schelmisch schleichend
Im Grunde haben Elke Erb und Sascha Anderson mit »Berührung ist nur eine Randerscheinung« noch immer die besten mir bekannten Randnotizen zu Gedichten gemacht. Die Güte dieser Anthologie hat mit der Höllerers die konzentrierte, zugleich gewissenhafte und idiosynkratische Handschrift gemeinsam, die ermöglicht, Herausgeberschaft als den Filter einer natürlichen Person zu lesen, die sich um Umsicht und Professionalität bemüht, aber auch darum, den Gedichten mit allen Mitteln seiner notwendig privaten Geisteskraft gerecht zu werden. Aber alle köpfeln immer gleich ins Prinzipielle und plaudern auf Literaturwissenschaftsstudentisch daher, dass »es keine Objektivität gibt«, »jedes Urteil subjektiv« ist und so weiter, so dass genau das Feld von Anstand oder Professionalität, also die Möglichkeit, auch Gedichte zu schätzen, die man subjektiv nicht liebt, verschwindet.
Die Anonymität der Beiträge ist dann noch ein anderes Spiel, das, wie auch im Forum ausführlich besprochen wurde, nicht letztlich von großer Relevanz ist, ein Spiel eben. Die Qualität von Marginalien hängt von den Autoren ab. Keine Methode ist in der Lage, aus Betriebsheinis skrupulöse, schlaue, respektvolle Leute zu machen. Kein Autor aber ist ganz allein in der Lage, launige freie Formen mit Esprit zu meistern, es braucht dazu die Atmosphäre einer guten Gesellschaft, weil wesentlich dazu gehört, so zu schreiben, als ob man davon ausginge, dass das Gegenüber ebenso belesen, begeisterungsfähig, humorbegabt, höflich und sensibel ist wie man selbst. Das tun aber schon die Lyriker nicht. Ein guter Teil der Star-Lyriker scheinen im Glauben zu arbeiten, sie wären essentiell anders und ragten bedeutend zwischen ihren Lesern hervor, die uninteressante Leute sein müssen. Das ist unangenehm zu lesen.
Welche fucking Arena?
Beim Spiel »114 Anonyme Meister« geisterte ein völlig ungebetenes Daumen-Rauf-Runter durch die Meldungen, das doch niemand bestellt hatte. Als wäre das Modell der in Frage stehenden Sprechformen dem Kampfgluckentum gewisser Talentshows entnommen. Das Spiel, bekannte Autoren zu anonymisieren, zieht scheinbar eher die Energien derer an, die immer Appetit auf ein bisschen Intrige haben, und die alles in einer einzigen Währung messen, wobei den Goldwert die Qualitäten darstellen, für die sie sich selbst lieben. Sie störten die Ansätze zu beschreibender Erhellung mit ihrem intrigengeilen Gekläff. Die fast intimen Geständnisse von Lektüreeindrücken bräuchten aber einen Raum jenseits vom Tonfall der schnellen Urteile, und so war die Sache ja wohl auch gedacht gewesen. Bei Nacht zu nutzen und nicht im Rahmen des Tagesgeschäfts.
Im Grunde sind solche Bekenntnisse überhaupt nichts für eine zirzensische Öffentlichkeit, denn sofort schnappt auch bei ihnen der Reflex der ehrgeizigen Selbstdarsteller zu. Es findet genau das selbe Nacktturnen statt wie bei der Lyrik selbst: Meine Eindrücke sind zärtlicher als deine Eindrücke. Mein Geistesleben ist schärfer als das im Umland. Weil Kritiker sonst ihren Job verlieren könnten, weil sie in einer gewissen Logik nicht gut sein müssen, sondern bloß besser als die Konkurrenz. In ihren Brüsten schlagen die Herzen von Karriereleiterratten, meist als Zweitherzen implantiert.
Besonders nervt übrigens der voraussehbare Schlagabtausch derer, die bei jeder Gelegenheit erläutern, dass sie selbst ja keine Anonymität brauchen, weil sie von Natur aus mit einem unabhängigen Urteil geboren wurden (»ich geb ja nicht so viel auf die Namen, ich sehe nur den Text«). Wer das ausspricht, was ja eigentlich selbstverständlich ist, tut nichts, als allen anderen zu unterstellen, sich von namentlichem Ruhm beeindrucken zu lassen, was nur kindisch ist. Und besonders ärgerlich für die, die daran denken wollen, dass der Aspekt sich kontinuierlich entwickelnder Arbeit durchaus wesentlich sein kann. Die einzelnen Stücke wirklen ja wirklich manchmal geradezu lächerlich: ein paar Bretter zusammengenagelt, Krakelei und die üblichen Vorwürfe. Schon wieder nimmt man das werttragende Einzelobjekt so bierernst und stellt es in einer missverstandenen Überschätzung seiner Autonomie so hin, dass es keinem ernsten Blick mehr standhält. No man is an island, warum sollte es ein Gedicht sein?
Zur eigentlichen Frage
Was ist ein Gedicht? Worüber reden wir, wenn wir über Gedichte reden? Natürlich ist das Gedicht als Objekt ein Vorwand, ein »conversation piece«. Hier verweise ich auf das Reden über das an die Wand gehängte Gedicht im Rahmen der japanischen Teezeremonie. Es ist wahrscheinlich unvermeidlich, und es ist wahrscheinlich schon in Ordnung, dass es darauf keine verbindliche Antwort gibt. Das heißt aber, und das ist auch das Interessante an diesem Spiel, dass moralische und sittliche Gesetze herrschen. Kategorische Imperative gelten im Gedicht genauso wie im Umraum. Das Gedicht ist keine Nato-Enklave, kein Dejima, keine Narrenzone, kein Bärenkäfig mit heißer Eisenplatte. Das Coole ist: Das ist genau die Grundlage, dank welcher wir über Gedichte sprechen können. Aber die Art von Gedichten, die einer Krakauerwurst nachempfunden sind, ist schwer in sittliche Kategorien einzufügen, auch seine Teile nicht, weil man fürs respektvolle Besprechen doch ein Mindestmaß an Kontext braucht, sonst kann es bloß willkürliches Unsinnreden werden.
Aber was hat man gegen willkürliches Reden? Das ist das Mysterium der deutschen Lyrik, niemand wagt, es zu knacken. Aber jetzt, plötzlich, in der U2, Gleisdreieck, bei der Lektüre eines Gedichts dämmert es mir mit unerbittlicher Einleuchtung: Es ist eben die Sehnsucht nach Freiheit, die auch die manchmal geradezu dadaistische Note der Gewalt der SS-ler antrieb, quasi der negative Schatten der strengen, ja ätherischen Reinheit und Strenge, die dem deutschprachigen Gedankengut (Kant, Bach, Mozart, Goethe, Hölderlin, ... äh ... Spengler?) so heftig eingeschrieben ist (alle anderen Nationen sind irgendwie realistischer, körperlicher). Und weil alles Gute, Reine und Schöne schon mit dieser Strenge assoziiert wird, und weil geradezu jeder Satz und jede Musik schon wieder ins Regelwerk, in die Reinheit, in die Kathedrale führt, bleibt etwas Formloses in der Freiheit, die seit der Aufgabe der sittlichen Gesetze als Freiheit von gedacht wird, über. Wenn das mit Macht oder Gewalt versehen wird, passiert SS. Quälerei mit Freude an der Willkür. Das ist bitteschön nur ein kleiner Aspekt der dichterischen und künstlerischen Freiheit, aber wer mal so ein willkürliches Gedicht und einen jungen Neonazi-Kneipenpöbler nebeneinanderhält, wird den ähnlichen Ton gleich bemerken. Mit Stiefeln in die Stube, Sätze auf den Tisch gelegt, provozieren mit Rücksichtslosigkeit und Sinnfreiheit. Letztlich ist es die klassisch konservative Verweigerung der Diskussionen: Ich bin hier auf meinem Gut, ich brauche nicht kommunizieren.
Elements of Style[5]
Zum Beispiel gilt im Gedicht wie bei seiner Besprechung: Quäle nicht deine Mitmenschen vorsätzlich, also ertappe selbst deine sadistischen und deine dummen Tendenzen, deine Exhibitionismen, wenn sie nicht mehr anmutig, deine Protzereien, wenn sie nicht mehr frisch sind, ertappe deine Fehler und eliminiere sie, bevor du sie öffentlich vertrittst (es ist ja dann schwer, zurückzurudern). Langweile nicht, sei respektvoll, missbrauche nicht deine Macht, überschätze nicht deine Macht, sei umsichtig, etc.
Problem Freiheit
Als wäre die Willkür nicht geil genug, wird in der Lyrikwelt die poetische Lizenz sogar als Lizenz zum gezielt toxischen sprachlichen Handeln missbraucht. Die Freiheit wird als Gelegenheit zur Durchführung von sprachlichen Handlungen benutzt, gegen die es wirklich gute Gründe gibt. Enthemmung! Schluss mit dem guten Benehmen! Füße auf den Tisch und eine Zigarre angezündet! Das hat das deutsche Gedicht nicht nur mit dem Karneval, sondern ironischerweise auch mit dem Internet gemeinsam. Es sind quasi die kürzesten und längsten Extremformen von ansonsten nicht definiertem Text. Wenn nun seit etwa zwanzig Jahren Pilotversuchen das Internet auf Gedichte losgelassen wird, bedeutet es philosophisch und praktisch gesehen eine Diskussion darüber, was Freiheit ist.
Manche Leute verstehen halt jede Gelegenheit zur spielerischen Übung der Freiheit als ein längst festgelegtes, also durchkodiertes Spielfeld. Sie packen sofort das übliche Rugby-, Cricket- oder Snookerzeug ihrer Urteile aus und sehen sich nach Gleichgesinnten um. Das sind tendentiell die Leute, die der unerschütterlichen Meinung sind, man beteilige sich ab der ersten Zellteilung an der kapitalistischen Marktwirtschaft. Für sie gibt es kein sprachliches Handeln, das nicht irgendwem etwas wegnimmt oder irgendwem etwas auf Kredit gewährt, es wird unausgesprochen in diesen Psychen ständig Buch geführt. Das kann nun positiv sein in der Form eines Händlerdenkens, oder an Problemen orientiert wie bei Blutsfehden oder dem alten Ehrenkodex, allerdings auf kleinteiligster Ebene wie eine automatisierte Börsensoftware.
Motivationen
Elias Canetti spricht vom Befehl als Stachel, als Kränkung. Der zum Stachel-Relais erzogene Mensch, auch autoritärer Charakter genannt, wird nie in der Lage sein, einfach Sachen zu machen. Die Sachen, die er macht, sind immer in irgendeine Rechnung einbezogen – sonst hätten sie für ihn keinen gefühlten Sinn. Ich spreche hier schon auch von der Selbstbeobachtung: Emanzipation von diesen Gewohnheiten bekommt man nicht über Nacht ins Haus geliefert. Aber die in und von dieser symbolischen Ordnung lebenden Existenzen können sich nur durch in der Stachelwirtschaft wohlbekannte Rollen und Sinngebungen überhaupt zum Handeln motivieren. Ich weiß es genau, denn in selbstmotivierten, respektgetränkten Handlungsräumen stehe ich selbst erst mal ratlos in der Gegend herum und suche den Gegner. Friede ist viel schwieriger als Krieg.
Soweit ist es aber leider noch nicht im Literaturbetrieb, sondern hier herrscht noch massivster Anzugträgerzirkus, ererbt von den Vätern, den Kindern der Kriege. Erstaunlich voll auch noch mit der Rhetorik der Bismarckzeit.[6] Was jenseits und außer Reichweite dieses Regiments, dieses geordneten Kampffelds stattfindet, ist ausgeschlossen.
Weiberzeug. Angelegenheiten von Bauern, Kindern, Heiden. Ungültige, namenlose Sachen, weil nicht Teil des Wertschöpfungsprozesses, und wiederum genau dadurch nicht Teil des Wertschöpfungsprozesses. Es lebt in den Seilschaften weiter. Die Lyrik arbeitet ihre Seilschaften allerdings aus Seidenfäden und Gaze, hier ließe sich babyleicht ein Umdenken üben, und es ist auch schon im Gange.
Sprache an sich schon umweltschädlich
Auch wenn man nämlich nicht explizit so denkt wie ein voll ausgebildeter autoritärer Charakter – und bei LeserInnen von Gedichten würde das in der Tat überraschen –, dieser ständig ablaufende Schacher mit Ehre, Prinzipien und selektiver Gültigkeit ist tief in die Kultur oder Unkultur des geschriebenen Worts verwurzelt, vergraben, verfilzt. Nicht nur in Europa oder im sogenannten Abendland, sondern überall, wo geschrieben wird, findet man die toxischen Auswirkungen der Vorstellung, es gäbe herausgehobene Wichtigkeit.
Komischerweise kann unter Umständen die Idee heiliger Texte als Gegengewicht zur Ehrenwirtschaft wirken, denn wenn man etwas Göttliches gelten lässt, kann wenigstens eine kurze Zeit lang so etwas wie eine angemessene Demut vor allen Teilen der Welt gedeihen.
Was ist so provokativ an Sinnlosigkeit?
Ein Gedicht – wenigstens ein halbwegs gutes, also gedichtförmiges – muss so einen Stachelhändler provozieren. Dieses Faktum macht die Gedichtbesprechungskunde produktiv. Er kann das Gedicht nicht auf sich sitzen lassen. Er muss eine, seine Lesart dem Gedicht und anderen potentiellen Gedichtrezipienten gegenüber durchsetzen. Bestätigen und absichern lassen, dann kann er ruhig schlafen. Mehrdeutigkeit ist deswegen so beliebt wie Prostituierte. Das motiviert ihn nämlich wieder: ein Text, den man so auslegen kann, wie man will. Das reine Lesen erscheint ihm sinnlos, unangenehm. (Hier bin ich übrigens dʼaccord.) Wenn er Gedichte liest, phantasiert er immer sein Urteil darüber. (Auch das kenne ich. Habe ich doch, wie viele Frauen, den Weg gewählt, möglichst großes Geschick im Emulieren männlichen Gehabes zu kultivieren, um aus der langweiligen Frauenschiene zu kommen und mich frei in der Welt bewegen zu können. Ich urteile gerne, weil ich gerne Sachen aus dem Weg räume. Ich bin aber nicht ganz sicher, ob dass der richtige Grund ist, den man fürs Urteilen haben soll, denn es hat mit richtig und falsch nichts zu tun.)
Höchstens kann es sein, dass dieser Stachelhändler ganz privat doch etwas leicht Gefährliches tut, nämlich, im Rahmen eines kleinen Spiels der Selbstprovokation, Ideen und Bilder in sich aufzunehmen.[7] Was das Gedicht hier darf, darf niemand anderer, kein Freund, Kollege, gar Vorgesetzter, nicht einmal ein Sexualpartner. Niemand darf zusehen. Das ist der geheime Sinn auch des »poetischen Acts«.
Das Gedicht als nicht satisfaktionsfähiges Objekt ist also doch ein wichtiges kleines Ding, zumal – sofern Musik ohne deklarierten Sinn – Trickster-Götter, die provokativen Nichtsnutze in Lokalen und so weiter zusehends wegfallen, je mehr eine Gesellschaft durchrationalisiert wird. Seit auch Frauen als satisfaktionsfähige, also vollgültige, Geschöpfe gelten, können nur mehr Kinder und Hunde den Narren spielen, sie tunʼs aber nicht so qualifiziert wie eine ganze Klasse von Intelligenzen, also die Frauen fehlen als Unterströmung, seit sie auch oben schwimmen dürfen. Nun bleiben nur mehr Gedichte, um Sachen mitzuteilen, gegen die man sich nicht verteidigen kann, weil es schon peinlich wäre, sie auszusprechen. So kommt es vielleicht, dass in den Dichterberuf Leute gefunden haben, die ein besonders sensibles Organ für Kränkungen auszeichnet, und wenn etwas sie im Dunklen kränkt, müssen sie es ins Licht der Öffentlichkeit zerren, damit sie die Kränkung loswerden. Auch wenn es für sie eigentlich peinlich ist, das ist ihr Mut. Wahrheitsliebe und »das Konto begleichen« sind für sie eins. Für all das scheint das Gedichtebesprechforum ein Raum zu sein.
Zuletzt will ich uns mit einem Bild aus der kanonischen altchinesischen Gedichtsammlung, übersetzt von Arthur Waley, erfreuen. In den Vorworten zu dieser Gedichtesammlung schwärmen alle vom Humor kollektiver Situationen, wofür die Schönheit der Natur manchmal drollige Bilder abgibt, zu denen aber auch das Ziehen in einen Krieg gehört, der nur den Fürsten interessiert. In diskreten Liedern fragen die Bauern sich und einander, wann sie wieder ihre Felder bestellen dürfen. Diese Lieder sind sehr schön. Sie sind effektive Kommunikation, inoffiziell, effektiv. Man grinst traurig, als Leserin im Kollektiv.
[1] http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=5515&ausgabe=200212
[2] Von wem ist dieser Satz noch mal?
[3] (Genaugenommen muss man wiederum die Beobachtung hinzufügen, dass der bindende Spruch, der Schwur oder Zauberspruch, schon im Oralen fixiert und daraus wohl die Vorstellung auf die Schrift angewendet wurde – außer man schrieb in den Sand und in Knoten – aber das ist ja nicht überliefert ...)
[4] Für Hinweise auf die Quelle bedankt sich die Autorin.
[5] Stilfragen als Grundsatzfragen zu behandeln (und nicht als zu bewahrende Werte) ist logischerweise ein wichtiges Thema besonders für die Amerikaner, die sich die Frage beantworten müssen, inwieweit sie die bürgerlichen Sitten Europas nachbilden wollen. Das maßgebliche Werk für literarischen Stil aller Arten ist dort Strunk and Whiteʼs »Elements of Style«.
https://faculty.washington.edu/heagerty/Courses/b572/public/StrunkWhite.pdf
Aber auch der russisch-amerikanische Mathematiker Polya hat zu diesem Thema sich einen irgendwie typisch amerikanischen Merksatz geschrieben: »The first rule of style is to have something to say.«
[6] (Ich verwende noch diese Maschine. Gedichte zerlegen sie längst. LyrikerInnen legen die Bauteile in ihrer Schönheit auf saubere Tücher, als wären sie friedfertig. Sie lächeln einander friedfertig an. Noch in den Goethe-Instituten werden die Bauteile als harmlose Maschinenteile verkauft. Nur ich meine die Schussmacht der zusammengebauten Kampfrhetoriken noch in der Wirklichkeit zu brauchen. Gegen die KritikerInnen, die auch noch offen mit Waffen sprechen, vorallem aber gegen die latente Gewalt der bürgerlichen Existenzform, für die die Lyriker der Schmuckdeckel sind. Vielleicht aus Paranoia nehme ich von den ach so harmlosen Kollegen und Vorgesetzten nur die Fratzen wahr. Ich will den Gedichten helfen, indem ich mit eroberten Waffen noch ein paar Gegner des Friedens erledige. A. braucht nur ein Wort für meine Tätigkeit: Friedenstruppen. Diese Fußnote: ein Bunker. Reiche mir jemand eine weiße Blume und ich höre auf zu reden.)
[7] Etwas in sich aufzunehmen außer Essen, wie beispielsweise beim Analsex, ist etwas traditionell als Demütigung benutzbares, vielleicht weil es heikel und zart ist und man dabei leicht Schaden nehmen kann, wenn es achtlos oder brutal geschieht (Salmonellen, Kinder, Bakterien, Schmerzen). Die Glorie des Penetrierens hängt damit zusammen und die ebenfalls alte Abwertung von Frauen gegenüber weiblichen Jungfrauen, während es bei männlichen Hetero-Jungfrauen genau umgekehrt gewertet wird. Wäre ich eine bessere Mathematikerin, könnte ich sagen, warum sich evolutionär kein Jungfernhäutchen am Arsch entwickelt hat, das muss in der Kombinatorik erklärlich sein.
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Kommentare
Hendrik Jackson
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