Was das vollkommene Gedicht betrifft, gibt es bei uns viele Theorien. Verslehren finden sich noch und noch, auch Analysen der lyrischen Klangfolgen und der rhythmischen Kadenzen. Gegenüber der vollkommenen Prosa aber ist es anders. Da magert die ästhetische Reflexion rasch ab. Dass es auch hier ein absolutes Maß gibt, weiß man zwar, aber man drückt sich darum, es zu benennen. Es fehlt auch die Terminologie. Man hält sich an das, was erzählt wird, als ob das, was erzählt wird, nicht erst bedeutungsvoll würde durch die Art, wie es erzählt wird. Auch die Erzähler selbst reden selten von der Beschaffenheit ihrer Prosa, im Gegensatz zu den Lyrikern, die immer mit Begeisterung über das Wesen des Gedichts referieren. Wir müssen schon zu den Briefen Gustave Flauberts greifen, um in dieser Frage fündig zu werden. Da geht es dann allerdings tüchtig zur Sache. Schon wenn er die Frage nach der vollkommenen Prosa aufwirft, tut er es mit einem Satz, der gleich selbst verwirklicht, was er zur Debatte stellt: »Quelle chienne de chose que la prose!«[1] Das kann man zwar in seiner Bedeutung ungefähr übersetzen, nicht aber in seiner hinreißenden Form. Dass die Prosa eine hundsföttische Sache sei, ist als Aussage sicher interessant, aber der Ausruf: »Quelle chienne de chose que la prose!« wird allein schon durch seine Verbindung von Derbheit und Klanggewalt zu einem ästhetischen Ereignis. Anderswo, an einer unvergesslichen Stelle, schildert Flaubert, wie sich ihm das vollkommene Schreiben einmal bildhaft vergegenwärtigt habe. Er sei in Athen zur Akropolis hinauf gestiegen und habe dabei zu seiner Linken eine Mauer gesehen, kahl, ohne jede Verzierung. Aber diese Steine seien in der Präzision ihrer Fügung, in ihrer komponierten Ordnung und im geglätteten Glanz der Oberflächen so vollendet gewesen, dass er von einem wilden Glücksgefühl erfasst worden sei. Eine göttliche Kraft, etwas Ewiges habe ihn hier berührt, und es gehe nun darum, auch beim Schreiben, ganz unabhängig vom Inhalt, diese zwingende Form zu erreichen.[2]
Wo die Theorie versagt, springt die Vision ein. Diese ist bei Flaubert nicht mythologisch. Er redet nicht von den Musen oder der Leier des Apollon, sondern von einer Sache, die er mit eigenen Augen gesehen hat. Empirisch. Der wissenschaftliche Blick seiner Zeit schafft hier ein Zeichen, das eine der schwierigsten Frage der Kunst erklärt: die Ästhetik der Prosa. Was hat das mit Thomas Hürlimann zu tun?
Thomas Hürlimann zwingt uns durch sein Schreiben zur Reflexion auf dieses Schreiben. Die Bildhauerarbeit des Streichens, die harten Fügungen, das Gewicht eines kurzen Satzes, das plötzliche Wort, das uns in der Hand liegt wie ein vom Gletscher geschliffener Stein – dies alles erfasst uns als gesetzte Gestalt. Als ein Gewolltes und langsam Gemachtes. Dieser Autor versteckt die Arbeit nicht, die seine Kunst erfordert. Das ist ein moderner Zug. Zu den Merkmalen der Moderne gehört, dass sie sich auflehnt gegen das alte Axiom: Ars est celare artem – Kunst heißt, die Kunst zu verbergen. Mit der Moderne beginnt die Gegenparole: der Akt des Schaffens soll im Geschaffenen sichtbar bleiben: Ars est ostendere artem. Der rinnende Farbtropfen wird nicht mehr von der Leinwand getilgt, die Spur des Meißels nicht von der gehauenen Figur. So kann in einer Geschichte Hürlimanns jederzeit der Autor selbst auftreten. Ohne Bedenken spricht er in den eigenen Text hinein und redet darüber und berichtet Dinge aus seinem Leben. Der Erzähler wird von einer narrativen Funktion zu einem privaten Ereignis, und doch bleibt er ein Element der Kunst. Denn das Durchbrechen der Regel Ars est celare artem ist nun selbst ein ästhetischer Wert.
Damit sind wir bei der Frage, wovon denn dieser Romancier und Novellist überhaupt erzählt, woraus dieser Dramatiker eigentlich seine Stücke fertigt. Die erste Antwort liegt auf der Hand, weil es alle sagen: Er schreibt von der eigenen Familie, von den eleganten Hüten der Mutter, von der steilen Karriere des Vaters, vom traurigen Sterben des Bruders. Aber genau diese Antwort, die sich jedem Leser aufzudrängen scheint, geht an der Sache vorbei. Denn in Hürlimanns Schreiben überlagern sich die Erfahrungs- und Erkenntnisebenen. Sie bilden unterirdische Magnetfelder, welche das Figurenspiel seiner Werke oben, auf der Bühne des Romans oder des Theaters, lenken. Diese Felder vernetzen sich. In die Szene, die vom einen Feld bestimmt wird, schlägt plötzlich ein anderes Feld durch. In den Magnetfeldern verdichtet sich die intime, die gesellschaftliche, die politische und die philosophische Existenz des Autors. Hier ballen sich die Energien, die den Eros des Gestaltens entzünden. Einfacher gesagt: sie zwingen Thomas Hürlimann zu schreiben.
Was besagt das nun konkret? Da gibt es zum Beispiel das politisch-historische Feld. Es betrifft die Weltgeschichte in der Lebenszeit des Autors. Die Lebenszeit, die wir als zu uns gehörig erfahren, beginnt ja nicht mit den persönlichen Erinnerungen. Sie beginnt mit der Jugend der Eltern, auf die wir durch deren Erzählungen zurückblicken als auf einen auch mit uns verbundenen Raum. Die Weltgeschichte zur Zeit des eigenen Lebens und desjenigen der Eltern ist das, was uns historisch und politisch unmittelbar angeht, vitaler als alle früheren Epochen. Das zeigt sich an der Art, wie die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs und in der Wirtschaftswunderzeit bei Hürlimann vergegenwärtigt wird. Sie brennt ihm förmlich auf den Nägeln. Das von Diktaturen eingeschlossene Land, das bereit war, sich zu verteidigen, und gleichzeitig mit Schlauheit, Tricks und verdeckten Kooperationen den Angriff zu verhindern suchte – nach der Logik: solange eine nichteroberte Schweiz für Hitlerdeutschland nützlicher ist als eine eroberte, können wir vielleicht davonkommen –, dieses Land, das in die Weltgeschichte auf eine so merkwürdige Weise verstrickt war, beschäftigt Hürlimann seit den Anfängen seines Schreibens. Jenes Stück, das ihn als Dramatiker berühmt machte, Großvater und Halbbruder, spielt in expressiven Verkürzungen während des ganzen Krieges, und die Schweizer schauen immer mit Feldstechern über die Grenze, dorthin, wo Hitler sein Reich aufbaut und wo es zuletzt niederbrennt. Immer wieder wird diese Grenze in Hürlimanns Werk vergegenwärtigt, zeichenhaft, und das zweideutige Zeichen steht für die Realpolitik der Schweiz in der Hitlerzeit.
In genau dieses politisch-historische Feld gehört nun exemplarisch der Vater in Hürlimanns Werk. Er steht aber zugleich in der Mitte des Magnetfelds Familie, so dass sich in ihm das Politische und das Private kurzschließen. Der Vater als Offizier an der Grenze wird mit der gleichen harten Realistik beschworen wie der werbende, balzende Vater mit der schönen Mutter im Bett. Dieser Vorgang, den Freud die Urszene nannte, ist ein Kernereignis in Hürlimanns Erzählen von der Familie, ein skandalöser Refrain. Er verknüpft nicht nur das Intime mit dem Öffentlichen, sondern auch die Sexualität mit der politischen Macht. Denn der Vater ist eine nachgerade allegorische Verkörperung der bürgerlichen Karriere schweizerischer Prägung: der Aufstieg in der Armee beflügelt den beruflichen Erfolg des Juristen und dieser wiederum jenen des Politikers. Das greift hier alles so effizient ineinander, dass der Mann tatsächlich bis in das höchste Amt des Landes aufsteigt: Bundesrat und Bundespräsident. Wie die Folklore der Macht dann wieder mit den Ritualen der Ehe und der Familie kollidiert, das wird im Schreiben des Sohnes zu einem unheimlich komischen Schauspiel. Ich habe in der Schweiz, wenn vom Vater in Hürlimanns Büchern die Rede war, oft den kritischen Satz gehört: »So war der ja gar nicht.« Das stimmt durchaus. Aber es ist eine biographische Erkenntnis, keine literaturkritische. Die Überlagerung der Felder verwandelt im literarischen Werk alle Figuren aus der Lebenswelt ins Exemplarische, und das unbändig komödiantische Talent des Autors verleiht ihnen ein Profil, das nicht nur aus einer Schweizer Kleinstadt stammt, sondern auch aus der Commedia dell’arte und ihrer strahlenden Transfiguration bei Molière. Nicht zuletzt gilt dies von der Mutter in Hürlimanns Werk, aber wenn ich hier auch noch von ihr reden sollte, käme niemand mehr rechtzeitig nach Hause.
»Das unbändig komödiantische Talent« – es hat bei Hürlimann einen barocken Hintergrund. Die Gegend der Schweiz, aus der er stammt, ist geprägt von katholischer Bilderlust. Ihre vielen Kirchen und Kapellen wurden in den Zeiten der Gegenreformation mit ungeheurer Verschwendung über Hügel und Täler hin ausgesät, in wildem Trotz gegenüber dem Bilderverbot der protestantischen Brüder in Christo, denen man zwischendurch auch blutige Schlachten lieferte. Die Kirchen in Hürlimanns Jugendwelt wimmeln von Heiligen, Engeln und Teufeln. Das kriecht die Wände hoch und tropft von den Decken. Karnevalistisch leuchtet es in allen Farben – und redet doch immer auch von der Vergänglichkeit, vom kommenden Ende aller irdischen Dinge. Das Fest steht im Zeichen der Vanitas. Vergänglichkeit und Tanz sind alte Geschwister. Im Volksstück Der Franzos im Ybrig feiert Hürlimann noch einmal diese Welt, deren fröhliche Kirchen heute unaufhaltsam den bleichen Banken weichen müssen. Das Thema der Vergänglichkeit aber bildet nach der Politik, der Familie und dem Karnevalistischen ein viertes bedrängendes Kraftfeld in den Tiefenschichten seines Schaffens. Es wird monumental in der frühen Geschichte von der Tessinerin, im sterbenden Unternehmer aus dem Stück Stichtag und im zerfallenden Vater in der Meisternovelle Das Gartenhaus.
Wir sind in Lübeck, und Thomas Hürlimann erhält den Thomas-Mann-Preis. Als Thomas Mann starb spielte Hürlimann kaum eine halbe Eisenbahnstunde entfernt mit seinen Dinky Toys. Fast Landsleute also. Was immer sie sonst verbinden und trennen mag, sei dahingestellt. Ganz sicher ist nur, dass sich beide in tiefer Überzeugung und mit grimmiger Heiterkeit zu dem Satz bekannt hätten: »Quelle chienne de chose que la prose!«
Peter von Matt
[1] An Louise Colet, 22. Juli 1852
[2] An George Sand, 3. April 1876