Aus literarischer Sicht ist diese friedlose Zeit ein großer Glücksfall gewesen, liefert sie doch die Grundlage für die Geschichten, die die Isländersagas erzählen, Geschichten von starken Männern und Frauen und ihren Kämpfen um Liebe, Einfluss, Wohlstand, Recht und Familienehre, die uns einen Eindruck davon vermitteln, wie die Isländer in ihrer Anfangszeit ihr Gemeinwesen organisiert haben.
Oder, besser gesagt, organisiert haben könnten, denn inwiefern die Sagas von wirklichen historischen Ereignissen berichten, ist heute kaum noch nachvollziehbar. Die ältesten erhaltenen Manuskripte der Isländersagas sind im dreizehnten Jahrhundert entstanden, über dreihundert Jahre nachdem die ersten Siedler Island erreichten. Wie hatten die Saga-Autoren von den längst vergangenen Ereignissen erfahren, über die sie schrieben? Wurden die Geschichten aus der Landnahmezeit über drei Jahrhunderte mündlich tradiert? Lagen den damaligen Autoren heute verlorene schriftliche Quellen vor oder haben sie sich größtenteils auf ihre Fantasie verlassen?
Sicher lässt sich vor allem eins sagen: Die Sagas sind Weltliteratur. Hier spielen nicht, wie man es aus der europäischen Literatur des Mittelalters kennt, Heilige, Ritter oder Könige die Hauptrolle, sondern einfache Bauern, und diese Bauern sind vielschichtige Charaktere! Auch bei heutiger Lektüre fällt sofort auf, wie wichtig den Saga-Autoren das Vergnügen ihrer Leser war. Wieder und wieder lockern humorvolle Episoden oder Lyrikpassagen die Handlung auf, und wann immer sich dadurch die Spannung erhöht, gibt es unheilvolle Weissagungen, retardierende Momente und Perspektivwechsel wie im modernen Roman. Hinzu kommen ironisch-nonchalante Gewaltdarstellungen, deren moderner Humor eher in Filme wie Pulp Fiction zu passen scheint als in das späte Mittelalter. Ein für die damalige Zeit unerhört realistisches, psychologisch einfühlsames Erzählen, das es auch heute möglich macht, die Isländersagas mit Spannung zu lesen.
Zu zeitgenössischen Texten werden die Isländersagas durch diese erzählerischen Mittel natürlich nicht. Dazu glauben zu viele Sagahelden an Geister, fürchten sich vor Schadzaubern, achten die Ehre der Familie mehr als ihr Leben oder nehmen wissentlich den Tod in Kauf, weil sie glauben, dem Schicksal nicht entrinnen zu können. So überraschend modern die Isländersagas teilweise erzählt sein mögen, entführen sie ihre heutigen Leserinnen und Leser doch in eine rätselhaft fremde Welt.
Kristof Magnusson, im Juni 2014

Isländersagas
Ungemein spannend und modern berichten die mittelalterlichen Texte vom Leben der ersten Siedler auf Island und von ihren Fahrten, die von Schottland und Grönland bis nach Amerika führten. Dashiell Hammett hat ihre Dialoge, Borges ihren zynischen Realismus bewundert, und ihre Gegenwärtigkeit verblüfft.