Auch der Erzähler aus ›Donnie‹ sucht die menschlichen Abgründe, nicht mehr ganz so verbummelt, nicht als Spaziergänger, er scheint schon gezielter darauf zuzugehen, ist journalistischer Rechercheur einer Geschichte über Fremdenlegionäre, weniger über das, was sie dazu gemacht, sondern wie die Tätigkeit des Fremdenlegionärs sie geformt hat, wie sie in ihnen weiterwirkt. Wie macht man das? Leute umbringen und danach weiterleben? Indem man eine menschliche Ohrenkette trägt beispielsweise, ein merkwürdiges Tattoo am Bauchnabel zeigt, das eine Verbindung schafft zu einem besonders grausamen Ereignis? Oder eben nicht über die »ungeheure Sicherheit, die das Töten verleiht«, spricht, sondern andauernd von Donnie erzählt, der geliebten, längst verstorbenen Dogge? »Die Erinnerung von Gotthard, dem Fremdenlegionär, ist wie eine Kasbah, in die er sich verirrt hat, und an jeder Gasse steht dieser Donnie«, wird es Sherko Fatah in einem Gespräch lachend auf den Punkt bringen. Das Handwerk des Tötens als Begleitmusik einer sentimentalen Reise zurück zum geliebten Hund? Was wie eine Farce klingt, ist der Realität menschlicher Empfindungsmöglichkeiten geschuldet. Gotthard ist mittlerweile Wirt eines Gasthauses in einem nicht näher beschriebenen Dorf, das irgendwo in Mitteleuropa liegt. Die Abgründe kommen aber nicht durch ihn dorthin, sie sind schon längst da, in der Mitte der angeblich harmlosen Dorfgesellschaft, als hätte die Brutalisierung des Fremdenlegionärs dort nur eine Entsprechung gefunden und sich niedergelassen.
Es herrscht eine unheimliche Ökonomie in Fatahs Texten. Man hat das Gefühl, da ist kein Wort zu viel, mehr noch, die Wörter befinden sich in einem Magnetfeld, das ihnen einen genauen Platz zuweist. Sie haben eine Richtung, die schwer bestimmbar ist. Sie setzen uns einer Sogwirkung aus, die Fatahs Texte zu einem merkwürdigen Leseerlebnis machen, denn zugleich weiß man nicht, was man da eigentlich tut in dieser Lektüre. Sich einfühlen? Abstand suchen? Oder Orientierung? Sich erschrecken? Scheinbar führt sie einen in andere Welten, den Nordirak zum Beispiel, das Dreiländereck zwischen Iran, Irak und der Türkei, man ist im »Grenzland«, wie der erste Roman Fatahs auch heißt, irgendwo in der relativen Nähe von Kirkuk, Mosul oder Arbil, und steht doch vor der eigenen Haustür. Die Logik seiner Protagonisten, deren Verstrickungen sind uns nur allzu bekannt, auch führen seine Geschichten stets zu uns zurück, sie landen in Deutschland, wo sie eben auch hingehören. Eine Art Nebenatem, ein sogenannter Leseatem, entsteht, der über die bloße Lektüre andauert und einen beschäftigt hält.
Seiner Literatur wohnt eine Dringlichkeit inne, und es ist auch die Frage nach der Dringlichkeit, die in dieser Laudatio den schwierigsten, heikelsten Platz einnehmen muss. Schwer fällt es, aus ihr eine ästhetische Kategorie zu machen, die nicht etwas Beliebiges enthält oder einen in Romantisierung abdriften lässt. Ich wusste von Anfang der Lektüre an, dass ich mit ihr nicht fertig werde, schon gar nicht während einer Rede. Ich darf mit ihr auch nicht fertig werden, aber ich habe sowieso erst mal alle Hände voll zu tun mit anderen Dingen. So viel muss gesagt werden, und so wenig Zeit bleibt mir dafür. Dass Sherko Fatah Berliner ist, mit irakischen Wurzeln, 1964 in Ostberlin geboren, dort auch aufgewachsen, dazwischen immer wieder im Irak, dann 1975 mit der Familie über Wien in den Westen Berlins übergesiedelt ist, dass er aber Reisender blieb, nach Indien, nach Nepal und Bangladash, und immer wieder in den Irak, dass er Philosophie und Kunstgeschichte studiert hat, über Heideggers Technikbegriff promovieren wollte. Dass er hin und her zwischen den Welten unterwegs war, seine Sujets, wie man so schön sagt, gut kennt. Dass er sechs Bücher geschrieben hat, eine schmale Erzählung und fünf sehr unterschiedliche Romane, darunter ›Ein weißes Land‹, sein großes historisches Werk über den Irak der 1930er Jahre und dessen Beziehungen zum Hitlerdeutschland. Alleine dieser Roman zeigt, was für ein Glücksfall Sherko Fatah für die deutschsprachige Literatur ist. Der historische Stoff, diese Geschichte des Irak und diese Geschichte Deutschlands werden ihn, soviel hat er mir verraten, weiter beschäftigen. Ich werde so viel zu sagen haben, dass ich gar nicht so leicht den Weg finde zu jener Augenhöhe, auf der sich seine Figuren mit uns stets befinden und die ebenfalls unheimlich ist. Schließlich sind seine Figuren allesamt Beobachter, wer weiß, vielleicht sehen sie auch uns an? Was sehen sie da? Blicken sie uns wirklich nur kurz an und sagen: »Basra« ist nur ein anderes Wort für »Bamberg«? So einer der Gedanken, die wir in der Jurydiskussion formuliert haben.
Es sind oftmals epische Erzählformen, die mit einer schlafwandlerischen Sicherheit komponiert zu sein scheinen. Doch nichts ist sicher in Fatahs Welt, die wir als die unsere erkennen müssen, sie ist eine Welt, in der sich alles zum Schlechteren wenden kann, blitzartig, schnell, wir sehen es schon an den Gesichtern, die uns entgegenkommen, die sich nicht unbedingt verdüstern, eher verschließen, wir weichen dem unbewusst aus, so lange wir können. Wir sind in jenem Moment mehr denn je die Zukunftsgetriebenen, die Antizipationskünstler, von denen anfangs die Rede war. Ob wir die Berliner Nachbarin sind, die sich nur morgens um acht aus dem Haus traut, oder ob wir ein Jugendlicher sind, der weiß, welchen Weg er zur Schule nehmen muss und wen er dabei ansehen darf. Ja, es ist eine Welt, die wir erschreckenderweise relativ gut kennen, auch wenn wir sie automatisch immer mit dem Fremden, dem Anderen identifizieren und angestrengt von uns weghalten. Und doch: Auch wir versuchen uns ein wenig in ihr zurechtzufinden, zu lernen, wie man sich in ihr verhält, ohne uns zu sehr zu Komplizen zu machen. Warum ist diese Schule der Gewalt, die Fatahs Protagonisten durchlaufen, auch so verdammt plausibel für uns?
Es ist eben nicht alleine der Irak, der seine Bücher zusammenhält wie eine Klammer, es ist auch nicht der verstörte Blick auf eine nachzuholende Modernisierung, die nicht und nicht gelingen will aufgrund fundamentalistischer Strömungen. Aufgrund einer maroden Staatsorganisation oder des internationalen Embargos. Und es ist auch nicht der deutsche Teil dieser Geschichten, die Gegenwart der deutschen Profiteure am System. Es handelt sich in seinen Texten auch nicht um die oft nacherzählte Parabel des Herzens der Finsternis, doch finden wir durchaus die mit ihnen verbundenen vielen kleinen Wartezeiten auf das Schreckliche, die Unklarheit, das diffuse Licht, das die Welt mehr verschleiert als offenbart. Wartezeiten, bis das Gegenüber wieder anfängt zu sprechen, bis der Bus mit den Gefangenen endgültig gefahren sein wird, das Grüppchen der Versprengten verschwunden und auch nichts mehr zu hören sein wird von jenen Hunden, die uns eben noch bedrohten. Wartezeiten, bis es wieder auftauchen wird, das sogenannte Mit-Menschliche, das uns so oft verlorengeht.
»Der Schmuggler wusste nicht, woher der Mann kam, aber er ahnte, dass er jene andere Seite gesehen hatte, die sich immer und überall hinter den Alltagsworten und den friedlichen Häusern zeigen konnte«, schreibt Fatah im ›Grenzland‹, das die Arbeit eines Schmugglers zwischen der Türkei und dem Irak beschreibt, und zwar nicht als einfachen Transport von Waren, sondern als einen riesigen Verschiebebahnhof der Antizipation und Beobachtung. Ständiger Begleiter ist die Unsicherheit, der der Schmuggler im Dreiländereck ausgesetzt ist, welcher Schritt dabei zu machen, welcher Pfad zu nehmen ist. Er ist ausgesetzt der Gefahr, die das plötzliche Auftauchen anderer Pfade, anderer Lebenszeichen in den Minenfeldern im Niemandsland, im Grenzland bedeutet.
Es passiert in Sherko Fatahs erstem Buch nicht viel mehr als diese ständige Pfadabwägung. Wie kann eine sichere Passage durchs Gelände gewährleistet werden, in dem Soldaten, Fremde, Versprengte, wie er einmal sagt, plötzlich auftauchen können? Da ist die Geldfrage, die Angst vor Raub, ständig diese Angst vor Verlust. Erst aus ihr folgt die Beobachtung einer Veränderung der Gegend. Auch die Einsamkeit habe sich verändert, heißt es einmal, und dies versteht der Schmuggler als warnendes Zeichen. Seine Wahrnehmung der Gegend als immer fremde, neu zu erforschende, passt genau zu der Position des Autors, der sich fremd machen, zum Tier machen muss, an der Grenze zwischen Tier und Mensch sich aufhalten muss, wie es der französische Theoretiker Gilles Deleuze einmal von den Schriftstellern gefordert hat: Sie seien verantwortlich vor den Tieren. Sherko Fatah stellt sich dieser Verantwortung, und so ist es kein Wunder, dass andauernd Tiere in seinen Texten auftauchen: Katzen und Hunde, es gibt einen Schwan, der ermordet wird, eine verzweifelt kalbende Kuh, Schafe, die plötzlich aus dem Nichts auftauchen, dastehen und einen wecken können. Diese Tiere sehen uns an und entdecken nichts Menschliches mehr an uns, könnte man sagen. Wir sind es losgeworden und stehen nur noch eine Weile in deren erstaunten Blick, einem hilflosen Bollwerk gegen das Töten, das längst begonnen hat und fortgeführt wird.
Tiere sind Teil dieser Geschichte der Brutalisierung, der Fortsetzung von Gewalt, die Fatah schreibt. Eine Erforschung der Grenzgänge der Menschen, wie man so schön sagt, wenn es um Joseph Conrad oder Louis-Ferdinand Céline geht, Grenzgänge, die eigentlich gar keine Grenzgänge sind, sondern im Grunde zum Normalisierungsprogramm unserer spätkapitalistischen Gesellschaft gehören. Vom ersten Roman an interessiert Sherko Fatah ganz zentral diese Frage nach der ständigen Möglichkeit von Gewalt, die subkutan unter der dünnen Decke an Zivilisation ihr Unwesen treibt – und nicht etwa schlummert, wie gerne vermutet. Eine Decke, die wir uns in unterschiedlichen Formen erarbeitet haben. Eine Decke, für die es immer weniger Existenzgründe gibt, dafür sorgen wir in unserem spätkapitalistischen Monster, das wir rund um uns hochziehen. Sie wird immer dünner, das wissen wir, auch wenn es über die Jahrhunderte verteilt anders aussehen mag. Aber ich verteile ungerne Blicke über die Jahrhunderte und mache lieber vor den Körpern halt, die da geschunden werden, gepfählt und zerrissen, als lebten wir im Mittelalter, das wir doch andauernd für vergangen erklären. Und doch: Von Folter bis zur körperlichen Einschüchterung ist alles vorhanden in den Verteilungskriegen unserer Zeit.
In dieser Gefahrenlage ist Fatah ein äußerst umsichtiger Erzähler – Informationen werden nicht einfach unter dem Aspekt der Suspense einem untergejubelt, häppchenweise, damit man dranbleibt, sondern folgen einer Ökonomie des Gerüchts, der vorsichtig gesetzten Kolportage. Denn es zeigt sich uns eine Welt, in der Informationen mit Bedacht weitergegeben werden, als trügen sie immer einen gewissen Wert in sich. Über-Lebensgeschichten, so erfahren wir bald, werden nicht einfach erzählt, sondern müssen ausgegraben werden, das Wissen der Welt liegt eben trotz Internet und Vernetzung nicht allzeit vor jedermann zum Zugreifen bereit, das macht uns Fatah in aller Deutlichkeit klar. Und auch wenn wir als Leser im Kosmos der Ahnungen und Antizipationen zurückbleiben, uns mit seinen Figuren vorwärtstasten, kann man nicht behaupten, seine Figuren wüssten nicht, wohin sie gehen. Und doch bewegen wir uns auf ihrer Augenhöhe. Wie kann das sein? Er gibt uns diesen Wissensabstand weiter, der einen in gewissen Situationen das Leben kosten kann. Den wir oftmals nicht wahrzunehmen in der Lage sind, es meist auch nicht müssen, doch wenn, dann würden wir auf ihn zu spät reagieren. Dieser Abstand regelt die Frage nach dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem zu Wissenden und dem Falsch-Vorweggewussten, und Fatah führt diesbezüglich eine Art Reparaturarbeit durch, ähnlich jenen Präzisionsarbeiten, wie sie notwendig werden, wenn aufgrund eines Wirtschaftsembargos die Ersatzteile fehlen und neue Geschäftszweige entstehen lassen. Denn wir bedürfen dieser Wahrnehmungskorrektur, uns fehlen auch sozusagen immer öfter die Wahrnehmungsersatzteile, und gesellschaftlich notwendige kritische Techniken müssen ausfallen. Diese von mir gezogene Analogie will nicht darauf hinaus, dass es sich hier um einen Schatten- oder Schwarzmarkt der Literatur handelt, so eine Art Secondhanduniversum: Nein, hier ist von dem Herzen der Literatur die Rede, das nicht anders schlagen kann als unter dem Diktat der Notwendigkeit, das im Vorzimmer des Reiches der Freiheit eben nur einen anderen Aggregatzustand annimmt.
Durch die behutsame und erst nach und nach wahrnehmbare aufwendige Dramaturgie seiner Romane, die Kenntnis seines Stoffs, die viel vom Wagemut des Autors und seiner Kunst zuzuhören erzählen, seinen Mut, sich auf Fragen einzulassen, Fragen, die mir Angst machen würden, wird uns eine Verstrickung klar, eine Verhältnismäßigkeit, die uns zu Taten zwingt, zu Gesten, zu Entscheidungen, die Gewalt zur Folge haben, auch wenn wir selbst das nicht wünschen, ja, nicht einmal sehen. Diese Erforschung vom Entstehen und vom Leben der Gewalt ist auch ein Fragen nach ihren Rahmen. In Zeiten wüster Globalisierung und Radikalisierung religiöser Kräfte, in einer Situation der Verelendung vieler, des Fundamentalistisch-Werdens als Reaktion auf marode politische Verhältnisse, in Zeiten von Ausbeutung und Profitstreben sind diese Rahmen immer größer und kleiner zugleich und scheinen nie ganz zu passen. Keine Eindeutigkeit stellt sich her, wie sich das beispielsweise kausal verfolgen lässt. Welche Grammatik der politischen Gefühle man daraus ableiten kann, bleibt immer ambivalent. Wie der Krieg sich fortpflanzt, und zwar auch inmitten unserer befriedeten Gesellschaft, ist eine undeutliche Geschichte, der kein irgendwie gefasster Plot Herr werden kann.
Und so liegt in Fatahs Werk das Nichtgeschehen gleich neben dem Geschehen, nicht umsonst nehmen Reise, Flucht, Verschleppung und Kriegsbewegung einen zentralen Raum ein. Fatahs Reisende sind nicht mehr jene Bildungsbewegten, die bei ihrer glücklichen Heimkehr mit Erfahrung vollgesogen hervortreten, als die wir sie in der Literatur der Aufklärung kennengelernt haben, sie sind nicht quasi proaktiv Handelnde der Managementseminare unserer Zeit, sie sind auf ihren Reisen dem Warten Unterworfene, ja, nur durch jede Menge Nicht-Geschehen lassen sich Fatahs Reisen überhaupt durchführen. Kein Wunder, dass Entführung und Verschleppung immer wieder eine Rolle spielen: Nicht nur der Deutsche aus Fatahs jüngstem Roman ›Der letzte Ort‹ wird zusammen mit seinem Dolmetscher entführt und quer durch den Irak verschleppt, auch die Reise von Kerim, Fatahs Hauptfigur in ›Das dunkle Schiff‹, nimmt ihren Anfang in einer Entführung von sogenannten Gotteskriegern. Sie hat eine Flucht aus dem Land zur Folge, »organisiert wie eine normale Touristenreise mit dem Unterschied der Illegalität«, so Fatah, aus einem Land, in dem alte Frauen aus Hubschraubern gestoßen werden und willkürliche Vorteilsnahme mit Gewalt durchgesetzt wird. Er tritt eine lange Reise nach Deutschland zu seinem Onkel auf dem Landweg an und, für ihn als Nichtschwimmer noch prekärer, setzt sie auf dem Wasser im Bauch eines Containerschiffs fort. Diese Reise wird in Berlin noch lange nicht zu Ende sein. Er wird anders untergehen, metaphorisch gesprochen, auf einem anderen Schiff, das andere Orientierungsmöglichkeiten verspricht und doch nur alte Bekanntschaften erneuert. Er wird nicht mit dem Nicht-ankommen-Können gerechnet haben.
In ›Onkelchen‹ geht die Reisebewegung von Deutschland aus in Richtung Sulaimania, zum Ort des Roten Hauses, dessen Bedeutung auch die titelgebende Figur erfahren musste. Immer wieder ist es die Neugier, die Fatahs Protagonisten ins Unglück treibt. Ob es Kerims Neugier ist, die ihn in die Nähe des Gefangenenbusses bringt, oder Michaels, die ihn anfangs in einem »unbefestigten« Zustand, wie es einmal heißt, einfach in eine Wohnung eindringen lässt und ihn am Ende beinahe ebenfalls in jenes Rote Haus führt, das eine entscheidende Rolle in Fatahs Büchern spielt. Immer wieder taucht es auf, gleich einem kafkaesken Symbol, es ist die Verkörperung der Macht schlechthin, ein Unort, in dem gefoltert wurde, den man im Grunde nicht betreten oder verlassen konnte, Saddams Geheimdienstkerker, ein »Archiv der Schmerzen« – eben einfach eines der vielen Zentren der organisierten Gewalt in unserer Welt. Während rund um dieses Rote Haus herum noch Pfade existieren, Beziehungspfade, Wege durch das Niemandsland, Schmugglerpfade, verschluckt es alle Wege, es macht Schluss mit jeder möglichen Bewegung. Michael weiß am Ende seiner Reise, warum er es nicht als Tourist besichtigen möchte. Zu diesem Zeitpunkt hat er schon das Wesentliche gelernt in »dem dauernden Gefühl, nicht anwesend zu sein, das ihn hier befallen hatte«. Der britische Kriegsfotograf, mit dem er durch die Stadt streift, wird antworten: »Man meint, unsichtbar zu sein, bis man etwas abbekommt.« Michael bekommt etwas ab, nur was? Auf die Erinnerung ist dabei kein Verlass, das weiß auch sein irakischer Freund Rahman, mit dem zusammen Michael von Berlin aus aufgebrochen ist und die Möglichkeit von Freundschaft, von Loyalität, von gegenseitigem Verständnis, auch bei disparaten Lebensläufen, auslotet. Wie so oft in Fatahs Büchern stößt diese Freundschaft an ihre Grenzen, was unweigerlich Distanznahmen nach sich ziehen wird. Die Vor- und Nachgeschichten der Freundschaften drängen in seine Bücher hinein, als wollten sie diese zum Verschwinden bringen, und, je länger man in einem gemeinsamen Raum bleibt, wendet sich eigentlich alles gegen Verständnis, gegen Zugeneigtheit und gegen Loyalität. Diesen Moment erkundet vor allem sein jüngster Roman, ›Der letzte Ort‹, in dem die Beziehung zwischen den beiden Entführten, dem deutschen Albert und seinem irakischen Dolmetscher Osama im Zentrum steht. Er überlässt uns die Antwort, ob am Ende nur noch ein Netz an Gefälligkeiten übrigbleibt, dem das bekannte Netz an Gewalttätigkeiten gegenübersteht, anonym und plötzlich, unvorhersehbar, gewissermaßen die logische Konsequenz im Alltag spätkapitalistischer Systeme. »Du gehörst zu niemandem und niemand gehört zu dir«, wird der Dieb Malik dem Erzähler Anwar von ›Ein weißes Land‹, sagen. Wie man dieses Prinzip durchbrechen und einander ertragen kann, selbst diese brennende Frage muss sich immer wieder auflösen und verschwinden, verbrennen in den Zeitläuften, die über einen hinweggehen. Menschlichkeit wirkt in diesem Stoff wie ein Goldrand, der von woanders herzukommen scheint.
Was die Freunde oft anfangs verbindet, die schon erwähnte Neugier, trägt anscheinend das Zerstörerische bereits in sich. Es wissen zu wollen, nachzuforschen jenseits eines professionellen Rahmens, wie er dem britischen Kriegsfotografen in Sulaimania zu eigen ist, ist in unserer Welt allzuoft gefährlich. Es bringt Unruhe in bestehende Verläufe. Ein Störfaktor, der nicht geduldet werden kann. Dies macht auch nicht vor poetologischen Fragen halt: Seine Erzählung ›Donnie‹ enthält eine ganze Anklage, absurderweise vom Dorfhalbstarken an den Erzähler, der sich professionell für die Geschichte der Fremdenlegionäre interessiert und somit selbst Gewalt zu reproduzieren scheint. Als Schriftsteller sieht sich Fatah ständig vor die Frage gestellt, ob man durch den Import von Gewalt in Geschichten nicht sofort Teil des Systems wird. Das verbindet sich auch mit der Frage, was passiert, wenn jemand nur durch einen spricht? Wird man nicht ein Teil von ihm? So lautet zumindest die Vermutung in ›Onkelchen‹. Wie man dem entkommen und doch wissen wollen kann, das ist eine der Grundfragen der Aufklärung, der wir in Fatahs Büchern so intensiv begegnen. Der distanzierte Blick darf es nicht sein, und doch ist Distanz vonnöten, ansonsten befindet man sich wie Kerim plötzlich nicht mehr im Zentrum, sondern kriecht in den Kopf eines anderen. »Das erschien ihm wie ein sicheres Vorzeichen seines Todes.« Klar ist, dass hier schon lange nicht mehr die Rede von Recherchetrophäen sein kann.
Ich habe mich immer gefragt, was literarischen Mut ausmacht, und ich denke, da gibt es viele Spielarten, Facetten, Formen. Es ist der Blick der Medusa, den wir Schriftsteller fürchten müssen, wir sind immer auf dem besten Weg zu versteinern, gleich Michael, der am Ende feststellt, dass eine kleine Stelle an seinem Körper hart geworden ist. Wer es schafft, der Versteinerung zu entkommen und doch von dem zu erzählen, was sie ausgelöst hat, ist wahrhaftig mutig. Das ist der Moment, in dem man von Kunst sprechen kann. Sherko Fatah verfügt über diese Möglichkeit, er hat diesbezüglich viele Pfade beschritten und lässt uns durch ein fulminantes Kaleidoskop aus Überlebensgeschichten, Orientierungsläufen, Fluchtlinien und Weltuntergangspanoramen blicken, die eben nicht einfach so zu erzählen sind, sondern vom Autor aus einem Gewebe aus Antizipation, Gerücht, Sorge und genauer Beobachtung behutsam herausgearbeitet wurden. Er weiß eben, dass uns die Zukunft im Nacken sitzt. Sherko Fatah zeigt das wie kein anderer. Er traut sich was, da hat er all meinen Respekt, und insofern freut es mich ungemein, ihm im Namen der Jury und der Akademie der Künste den Fontane-Preis, den Großen Kunstpreis Berlin 2015, zusprechen zu dürfen.
Erstmals abgedruckt in: Broschüre zum Kunstpreis Berlin 2015. Jubiläumsstiftung 1848/1948. Herausgegeben von der Akademie der Künste, Berlin, zur Verleihung des »Kunstpreises Berlin« am 18. März 2015.

Politisches Denken und radikales Sprechen – Kathrin Rögglas Essays und Theaterstücke.
Unsere Realität gleicht einem Katastrophenfilm, einem worst-case-Szenario, einem Shakespeare’schen Königsdrama: Wirtschaftskrisen, Medien-Hysterie, private Paranoia. Kathrin Röggla setzt ihre kritische Phantasie und ihre kluge Sprachkunst dagegen. Sie analysiert und seziert den Zustand unserer Zeit: fiktive Alarmierungen, reale Ängste und falsche Sehnsüchte. Lustvoll und konsequent, geistreich und spielerisch durchleuchten ihre Essays und Theaterstücke unsere Gegenwart.