Leider bin ich Herrn Werner noch nie begegnet; weder verfüge ich über vertrauliche Informationen zu ihm, noch über Expertise. Immerhin aber bin ich ein leidenschaftlicher Verehrer aller seiner Bücher. Irgendwann in den späten neunziger Jahren nahm ich an einem Literaturfestival in meiner Heimatstadt Freiburg teil; in den Tagen dort fiel mir ein, den führenden Literaturkritiker Deutschlands, Helmut Böttiger – auch er Gast des Festivals (und alter Freiburger) – um eine Empfehlung zu bitten, wen oder was an aktueller deutschsprachiger Gegenwartsliteratur man lesen solle. Markus Werner, meinte er, ohne das leiseste Zögern. Ich nahm ihn beim Wort und kaufte sämtliche verfügbaren dtv-Ausgaben von Werners Romanen. Alle sind sie kurz, alle schnell, alle köstlich. Dafür wurde ich – und, wie mir scheint, auf eine Weise, wie sie nur Werner beherrscht – gefesselt, berührt, von Lachen geschüttelt. (Und als später ›Am Hang‹ erschien, las ich diesen Roman selbstverständlich auch, falls Sie jetzt denken, ich sei der Ansicht gewesen, ich hätte genug getan und einen Schlußstrich gezogen. Ganz und gar nicht: für mich würde die Welt mit jedem neuen Roman von Markus Werner zu einer besseren Welt, doch leider scheint es nicht ausgemacht, dass je ein weiterer folgen wird.) Eines Novembers erkor ich einen von ihnen im »Times Literary Supplement« zu meinem Buch des Jahres – ich habe so das Gefühl, es war ›Die kalte Schulter‹. Jahre später erinnerte sich Aaron Kerner während seiner allzu kurzen Zeit im Lektorat bei Dalkey Archive glücklicherweise daran und fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, einen Roman von Werner zu übersetzen. Leser – ich hätte ihm den Arm abgesägt, um an das Buch zu kommen.
Es ist die Literatur kleiner Länder, die uns lehrt, dass das Leben unmöglich ist. In großen Ländern werden einem solche Sachen nicht verraten – nicht von amerikanischen Autoren, auch nicht, meine ich, von chinesischen und indischen und brasilianischen Autoren, nicht einmal von russischen Autoren. Die kleinen europäischen Länder dagegen versorgen uns mit dieser Kritik des Lebens: Österreich, die Schweiz, Ungarn, Polen, Irland, Bosnien, die Tschechoslowakei. Wäre sie eine Religion, dann nähme Beckett (oder, nach anderen Darstellungen, Musil oder Robert Walser oder Kafka) den Platz des Heiligen Geistes ein, Bernhard denjenigen von Gottvater, und Elfriede Jelinek oder Herta Müller den Platz des Sohnes. Mit der Kritik des Lebens versorgen uns Bohumil Hrabal oder Tadeusz Konwicki oder Imre Kertész, oder ›Cloaca Maxima – Eine Seifenoper‹ von Vladimir Arsenijevic, oder die Gedichte von Valzhyna Mort. Zu dieser Gemeinde, zu dieser Gemeinschaft gehört auch Markus Werner. Ohne jeden Zinnober zeigt er, wie die Welt sich einen Menschen vornimmt (in diesem Fall eben Zündel, in dessen Namen der Funke, der Zünder, das Zündholz steckt), um ihn in aller Ruhe, in aller Herzlosigkeit auszudämpfen, auszudrücken, auszuquetschen, auszusondern. Äußerlich entspricht das der unberechenbaren, antizyklischen Irrfahrt der Kugel im Roulettekessel, nur dass die hier nicht auf einem kleinen numerierten Feld endet, sondern in den Ausguß führt.
›Zündels Abgang‹ verknüpft Farce und Reflexion, Tragödie und Humoreske in bestechender Weise. Hier der Zahn, der einem Mann ausfällt, als sehnte er sich nach einem Szenenwechsel, oder als wollte er einen Hilferuf loswerden, und dort die von Verzweiflung angetriebenen Gedankenfolgen, als ruderte man in einem Boot aus Beton: Zündel über das Militär, Zündel über den Krieg der Geschlechter, Zündel über Freundschaft und Liebe. Werner verfügt über eine Wachsamkeit gegenüber dem Grauen der Gegenwartssprache, die im Deutschen sonst nur die Gedichte von Hans Magnus Enzensberger kennen. Schreiben, würde ich sagen, bedeutet für ihn, der Sprache den Handschuh hinzuwerfen – alles Reden bringt seinen Protagonisten Zündel aus der Fassung, eine Zeitung stellt für ihn Folter dar – und doch gelingt es Werners Romanen, von der Handlung wie von der Betrachtung zugleich zu leben, voll mit wirklichen Ereignissen und wirklicher Intrige. Ich kann das Erscheinen dieser Übersetzung kaum erwarten, um dann mit Freunden zusammenzusitzen und – ein Quartettspiel ohne Karten – Szenen zu tauschen: der Finger im Klo; die Prostituierte in Genua; die dösenden Offiziere; Zündel und sein Freund, der Kleriker Busch, unser Erzähler, sowie seine verachtungsvolle Vroni; Zündel und Nounou in Rapallo, wo beide als Produkte auftreten: er als Teigware, sie als Kondensmilch. ›Zündels Abgang‹ ist ein kurzer Roman, der durch und durch aus Höhepunkten besteht, aus Glanzlichtern, und dennoch ist er locker genug gewebt, um Raum zu lassen für das, was die Russen abfällig als »Philosophieren« bezeichneten.
Zündel umweht eine gewisse Dandyhaftigkeit, wie alle Helden und Bücher von Werner, doch handelt es sich dabei um eine Art unpersönlicher Dandyhaftigkeit. Ein Aufschneider ist er – wie auch sein Autor – nicht, vielmehr ist er kompliziert, und er glaubt an die Tugendhaftigkeit des Kompliziertseins, der Empfindlichkeit, der unvorhersehbaren und gründlichen Erwiderungen. »Non (...) come bruti«, wie es bei Dante heißt. In seiner Tragik entspricht Zündels Drama der Begegnung eines hochentwickelten, unzeitgemäßen, wohlüberlegten, filigranen, grundmerkwürdigen Schweizer Uhrwerks mit – um Ursula Krechel zu zitieren – der Dampfwalze unserer alles planierenden Zeit.
Vorwort des Übersetzers zu ›Zündels Abgang‹, ›Zündel's Exit‹ von Markus Werner
Aus dem Englischen von Marcel Beyer

Zündel, der Held, Mitte dreißig, verheiratet, spürt in sich wie eine schleichende Infektion das Existenzzernagende des Lebensalltags. Gegen Katastrophen könnte man sich aufbäumen, was aber hilft noch gegen die kleinen und umso dreisteren Alltagsattacken, gegen die abgeklärte Robustheit des Normalen. Als die großen Ferien da sind und ihn nichts mehr hält, entfernt sich Zündel. Der Versuch einer Reise nach Griechenland scheitert, ein erneuter Anlauf bringt ihn bis Genua. Was ihm dort zustößt, ist nur noch für den Leser zum Lachen. Zündel will nicht mehr und geht ab.