
Kommentare
Dem Neuroflaneur ist nichts zu schwör
Wie oft dort, wo sie hingehören, bergen auch hier die Reime das Geheimnis des Gedichts und geben ihm zugleich als Geheimnislosigkeit Laut. Vom Flanieren ist die Rede? Gut, vielleicht von genervtem! Ich HASTE eher mit. Und erkenne das Suchen wieder. Handkes "Stunde der wahren Empfindung" ist diesem nervösen Suchen gewidmet. Einmal mehr freue ich mich an der allenthalben zwischen den Silben hervorleuchtenden Grauzone, nachmittags.
»Bain de foule« hieß das Konzept ursprünglich beim Kollegen Baudelaire, das Bad in der Menge. Das Grausame, Leidige, unabwendbare, was schließlich in der kläglichen Bitte mündet, noch »quelque beaux vers« schreiben zu dürfen, damit der Dichter sich nicht hinter alle von ihm verachteten Menschen stellen muss. Das Ich wirft Wellen, geht weiter. Auf den Trottoiren, wo der abermalige Kollege Gerard de Nerval, zur Verwunderung etlicher Passanten, seinen Hummer an einer Leine spazieren führte.
der einleitende Ton der Abstraktion (abstrahiert wird von Person, Ort, Zeit und Anlass) erschließt sich mir gar nicht: warum nicht: "Es gibt Tage, da hilft mir nur das Laufen"? ich finde es eigentlich eine fast notwendigen Verfahrensansatz, das Ich aus Gedichten erst einmal rauszuhalten. Subjektivität zu meiden. aber dann muss auch etwas Nicht-Subjektives in den Blick kommen. hier wird aber etwas "Privatistisches" aufgeblasen zum Allgemeinsatz. natürlich gilt so ein Satz für mehr als einen, natürlich ist das ein vielleicht sogar typisches Verhalten, aber die Frage ist doch, welchen Akzent setze ich. und hier das Allgemeine hier zu setzen, fügt dem Persönlichen, das hier stehen könnte, nichts hinzu, im Gegenteil, es ist schwächer. ja klar, es gibt halt so Tage. es gibt viele Tage, an denen irgendwas für irgendwann das Beste oder Unausweichliche ist. hier wird im Ton einer Weisheit gesprochen. das ist schwere Kost für den Anfang, aber wir sollten natürlich abwarten was kommt. jedenfalls weckt das gleich mein Misstrauen.
Laufen,Laufen – diese simple Wiederholung dessen, was aufgerufen wird (Bein vor Bein, also Wiederholung) hat etwas naiv Umgesetztes, das mir gefällt: zumal eben die Wiederholung wiederholt wird, die Monotonie anmonotonisiert wird. doch dann "süchtig". das steht nun in Gegensatz zu "hilft nur". oder aus der Not eine Notgeilheit gemacht? dann fehlt ein Komma (nach bist) – Absicht? aber es erschließt sich mir nicht ganz: dies Laufen-Müssen erschien mir ein Notreflex, nun ist es eine fast lustvolle oder zumindest masochistische Sucht nach Gesichtern.
und ein Läufer schlägt wirklich eine "Schneise"? womöglich teilt er gleich die Wogen der Passanten wie Moses? das wäre dann wenigstens richtig dick.
Stadt wird zur offenen Psychatrie scheint mir auch etwas schief, oder besser übertrieben. was ist der Mehrwert einer so tragend-klagend ausgesprochen Hypertrophie?
das "trägst du, was du nur tragen kannst" ist dann schon so, dass ich es hier nicht mehr auswalzen kann, ohne selbst Schaden zu nehmen.
ich finde das Motiv, das Thema eigentlich interessant: es ist nicht sehr leicht umzusetzen, denn es handelt von etwas, was nur schwer zu versprachlichen ist: einem unmittelbaren Puls, einer psychen instabilen Lage, die durch Wiederholung und Rhythmus sich wieder ins Lot laufen will. das scheint nur auf den ersten Blick geschaffen für "das" Gedicht mit Rhythmus und Reim, denn eigentlich lassen es sich solche emotional angeballte Zustände gerne angelegen sein, die Wörter abzustoßen, ins Leere greifen zu lassen. zu viel, das in einem solchem Moment im Kopf rumschwirrt, als dass es sich ohne endlose Kontextualisierung in ein Gedicht packen ließe und zugleich der Kopf mit jedem Schritt leerer und leerer – wie sollen da Worte greifen. also hochinteressant sich so so einem Zustand mit Versen zu nähern.
nur deshalb hole ich hier so weit aus und kritisiere auch. weil sich hier haarfein zeigen lässt, wie der Ansatz stimmt, wie immer auch wieder einzelne Motive treffen und doch gerade das Detail entscheidet, ob etwas dann gelingt oder nicht. und gelingen hieße z.B. das anregen, was von Herausgeberseite gewünscht wird für die Kommentare: Weiterführendes, Erweiterndes. aber die ungelenken Details lenken mich ab, so muss ich mich von dem Gedicht rügend abstoßen, um in die Erweiterung vorzustoßen.
auch der Satz mit der Mathematik scheint mir viel zu groß und ungelenk. für wen soll so etwas gelten (und er kommt doch mit Geltungsanspruch daher). vorher kommt dann immerhin der Mann, der Mengen teilt, allerdings doppeldeutig, hier ist gemeint, was jeder mit den anderen teilt, die Schnittmenge Einsamkeit. auch das klingt in meinen Ohren etwas lamentierend, oder irre ich mich? auch hier wäre eine kleine Verschiebung im Gestus, in der Intonaton womöglich schon genug. aber der belehrende Ton blüht jetzt richtig auf: Die Lösung hieß: Laufen, Laufen.
da hat jemand also die Lösung gefunden, teilt sie uns mit und was sollen wir nun damit anfangen? auswendig lernen für die nächste Klassenarbeit?
wozu so einen konditonierten, doch eher für alltäglichen Betrieb in der Schule oder Universität angebrachten Duktus? oder lese ich etwas falsch?
Was ist Ich, wie leicht, wie schwer, wie einsam, wie leer? Und die Psyche, ist sie ein Wesen oder nicht? Vielleicht kommt man einer Antwort am nächsten, wenn man sich selber vergisst. Anonym in der Menge, beim Laufen ohne Ziel und Zweck. Darüber reflektiert das Gedicht, indem es Erinnerung miteinbezieht. In paradoxen Formulierungen - "Einsamkeit war die Menge, die jeder teilte" - tastet es sich an schmerzlich konkrete Erlebnisse aus der Vergangenheit heran. Das anfänglich Gewichtlose bekommt Gewicht und Verankerung. Man sieht ihn, den Jungen, laufen, laufen, "durch die Stadt in konzentrischen Ringen". Und ungewollt stellt sich eine Rilke-Reminiszenz aus dem "Stundenbuch" ein: "Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen...".

