Atatürk im Schatten Erdogans

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Atatürk im Schatten Erdogans

Von Arnold Hottinger, 21.02.2018

Gedanken zu einem Buch der Türkei-Kennerin Inga Rogg. Der lange Weg von Atatürks Modernisierungsprogramm zur Re-Islamisierung unter Erdogan.

Inga Rogg, ausgewiesene Kennerin, Augenzeugin  der gegenwärtigen Türkei und NZZ-Korrespondentin, hat ein Buch verfasst, dem sie den Titel gab: „Türkei, die unfertige Nation, Erdogans Traum vom Osmanischen Reich“.* Noch vor zwanzig Jahren hätte wohl niemand daran gedacht, gerade die Türkei als unvollendet zu beschreiben. Sie galt vielmehr als der wichtigste, vielleicht der einzige vollendete Nationalstaat im Nahen Osten. Damals bestand der Eindruck, dass die Türkei endgültig den Weg in die „westliche“, europäische Moderne angetreten und auch schon ein entscheidendes Stück dieses Weges zurückgelegt hatte.

Das Werk Atatürks hatte Früchte getragen, so sah es aus. Seine Sicht der Dinge, nach der es nur eine Zivilisation gab, die Zivilisation schlechthin, nämlich jene von Paris und von London, hatte sich durchgesetzt. Das mächtige Wirken des grossen Mannes der modernen Türkei hatte sein Land auf den Weg eines „westlichen“ Nationalstaates geschoben. Und in den zwei Generationen nach ihm war das Land auf diesem Weg weiter und entschiedener vorangekommen als alle anderen muslimischen Staaten des Nahen Ostens. Es war ein „europäischer Staat“ geworden und wollte es sein.

„Modern“ und „zivilisiert“ ohne Zweideutigkeit?

Dies in deutlichem Gegensatz zu den benachbarten Ländern der arabischen und der iranischen Welt, wo es tiefgreifende Zweideutigkeiten gab. Dort bestand Ungewissheit, weil beides angestrebt wurde: Macht, Ansehen, Wohlstand, Respekt in der „modernen“ gegenwärtigen Welt, aber auch Festhalten am eigenen Herkommen, von dem man wusste, es gehört zu einer anderen alteingesessenen eigenen Tradition, die man „arabisch“, „iranisch“ nannte, sowie auch „islamisch“ für die grosse Mehrzahl der Bevölkerungen und vielleicht eher „orientalisch“ im Falle der christlichen und der wenigen noch verbliebenen jüdischen Minderheiten.

Islamversprechen bringen Stimmen ein

Natürlich wussten auch damals alle Beobachter, die sich um Einsicht in die Türkei bemühten, dass „der Islam“ auch in der Türkei nach wie vor mächtig war. Dies liess sich objektiv nachweisen, weil deutlich war, dass türkische Politiker Wahlerfolge aufwiesen, wenn sie an den Islam der Türken appellierten oder wenn sie ihren Wählern „mehr Islam“ versprachen, mehr Moscheen, islamische Schulen für Geistliche, die Wiedereinführung einer Kleiderordnung, die als „islamisch“ gelten konnte.

Berücksichtigung der Scharia, des islamischen Gottesgesetzes

Als nach dem Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal echte Wahlen durchgeführt wurden – zuvor hatte es nur gelenkte Wahlen gegeben – gewann jene Partei, die mehr Islam in der Öffentlichkeit versprach, die damalige „Demokratische Partei“, 1946 zuerst den zweiten Platz und im nächsten Wahlgang, vier Jahre später, den ersten, mit einem weiteren Wahlsieg 1954, der jedoch nur eine relative Mehrheit hervorbrachte. 1960, unmittelbar vor den nächsten Wahlen, kam es zum Putsch durch die Militärs, gefolgt von einem Prozess gegen die Anführer der Demokratischen Partei mit lebenslänglichen Gefängnisstrafen und Todesurteilen, die an dreien der Parteiführer vollstreckt wurden: Ministerpräsident Adnan Menderes und seinem Aussenminister Zorlu sowie dem Finanzminister Polatkan.

Die Anklage hatte auf Bruch der Verfassung gelautet. Diese, aus der Zeit Atatürks, schrieb „Säkularismus“ und „Etatismus“ fest. „Säkularimus“ bedeutete Zurückdrängung des öffentlich in Erscheinung tretenden Islams und Unterstellung der Religion unter staatliche Aufsicht. „Etatismus“ war staatlich geleitete Wirtschaft. Beide Grundsätze hatte Menderes zu lockern versucht. Seine Regierung war in der letzten Phase, vor dem Staatsstreich, sehr selbstherrlich geworden, und er hatte versucht, seine Herrschaft mit undemokratischen Mitteln zu festigen. Doch die Diskussion über „den Islam“ war in der Öffentlichkeit und auch bei der Selbst-Rechtfertigung der putschenden Offiziere das überragende Thema.

Rehabilitierung des hintergerichteten Regierungschefs 

Ähnlich ging es der Nachfolgepartei der gestürzten Partei von Menderes, der Gerechtigkeitspartei, die ihren Namen erhielt, weil sie Gerechtigkeit für die Hingerichteten forderte. Unter ihrem neuen Chef, Süleyman Demirel, war sie erfolgreich. Demirel sollte fünfmal Ministerpräsident und sieben Jahre lang Präsident der Türkei werden. Er wurde auch zweimal durch Staatsstreiche der Armee abgesetzt, 1971 und 1980, und sah sich gezwungen, seine Partei jedes Mal neu zu benennen. Sie wurde 1983 die Partei des „Rechten Weges“, weil die Offiziere die Gerechtigkeitspartei verboten hatten. Seine Wahlerfolge verdankte er nicht allein der grösseren Islamfreundlichkeit seiner Partei. Doch diese spielte eine bedeutende Rolle bei seiner Beliebtheit im türkischen Volk und sie gehörte auch zu den Vorwürfen, welche die Offiziere gegen ihn erhoben.

Während seiner letzten Amtsperiode als Regierungschef wurden die hingerichteten Oberhäupter der Demokratischen Partei Menderes' rehabilitiert und erhielten Grabmonumente. Ihre Namen wurden Flughäfen, Strassen und Gymnasien in mehreren türkischen Städten gegeben.

Die Partei der Voll-Islamisten

Seit 1969 gab es in der Türkei eine viel stärker auf den Islam ausgerichtete Partei als die islamische Schlagseite, welche die Demokatische Partei von Menderes und ihre Nachfolgeparteien unter Demirel aufwiesen. Dies waren die Parteien Necmettin Erbakans, die nacheinander die Namen „Nationale Ordnungspartei“, „Nationale Rettungspartei“, „Tugend-Partei“ und „Glückseligkeitspartei“ erhielten. Die Namenswechsel waren jeweilen erzwungen, weil die Partei verboten und unter neuen Namen wieder gegründet wurde.

Ihre Ideologie hatte Erbakan 1969 niedergeschrieben und sie „Nationale Sicht“ (Milli Görüsh) genannt. Erbakan war Ingenieur und hatte in Aachen seine Ausbildung vollendet. Er war auch Mitglied einer Sufi- (Mystiker-)Gemeinschaft, die dem strenggläubigen Orden der Naqshbandi angehört.

Er strebte für sein Land eine Aussenpolitik an, die auf Zusammenarbeit mit anderen muslimischen Staaten hinauslief und sprach gegen Israel und gegen die Mitgliedschaftsbestrebungen bei der EU, welche die türkische Staatspolitik betrieb. Die „nationale“ und die „islamische“ Identität der Türkei gehörten nach seiner Ansicht untrennbar zusammen. Erbakan wurde auf Grund der Stimmen, die seine Parteien erhielten, dreimal Stellvertretender Ministerpräsident in den 70er Jahren und ein Jahr lang Ministerpräsident einer Koalitionsregierung vom Juni 1996 bis Juni 1997. Er wurde durch den „Putsch durch ein Memorandum“ der Militärs zum Rücktritt gezwungen, und seine Partei wurde verboten, um wie auch nach anderen zwei Verboten unter neuem Namen wieder gegründet zu werden.

Erdogan Aktivist unter Erbakan

Innerhalb der Erbakan-Parteien hat Recep Tayyeb Erdogan seine politische Laufbahn begonnen und seine ersten politischen Erfolge errungen. Er tat sich als Redner hervor, und er wurde gewählter Bürgermeister von Istanbul von 1994 bis 1998. Als solcher war er überaus erfolgreich und sanierte seine damals in vieler Hinsicht marode Vaterstadt. Er erlitt einen politischen Rückschlag. Seine Feinde, in erster Linie die Armeeoffiziere, strengten Klage gegen ihn an, weil er in einer Volksrede in der Schwarzmeerstadt Sinop ein nationalistisches Gedicht aus der Zeit vor Atatürk zitiert hatte, in dem die Minarette als die Speere der Türken und die Moscheekuppeln als ihre Schilde angesprochen werden. Dies wurde ihm als „Aufstachelung zum religiösen Hass“ ausgelegt, und er wurde zu einer halbjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, von welcher er vier Monate absitzen musste.

2001 verliess Erdogan die Partei Erbakans und gründete mit Gesinnungsgenossen seine eigene AKP (abgekürzt für „Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei“). Diese wollte er als islamische und demokratische Partei situieren, so – wie er damals oft sagte – wie die Christlich Demokratischen Parteien in Europa und ohne die säkularistische Trennung von Staat und Religion zu beenden. Seine Partei war von Beginn an den Urnen erfolgreich und hat seit ihrer Gründung nie eine Wahl oder ein Plebiszit – von denen er in kritischen Situationen mehrere durchführen liess – verloren.

Der Feuerwall der Armeeoffiziere

All dies sind Belege dafür, dass der Islam in der Türkei, trotz Atatürk, tief verwurzelt geblieben ist und daher nach wie vor als ein Instrument dienen kann, um ein politisches Echo zu finden, das sich unter guten Voraussetzungen als dominierend erweisen kann. Niemand konnte dies übersehen. Und ebenso deutlich war, dass die Armeeoffiziere als die letzte und wirksamste Barriere dienten, die mehrmals das Aufwallen von islamisch gefärbten politischen Tendenzen –wie immer diese Islam und Politik zu vereinen suchten –niederschlugen.

Diese Rolle war den Offizieren von Atatürk ausdrücklich anvertraut worden, und die Auswahl von Offizierskadetten sowie ihre Formation und Erziehung als Halbwüchsige in den Kadettenschulen wurden über sieben Jahrzehnte nach Atatürk dermassen gehandhabt, dass sie eine nationalistische und „säkularistische“ Ausrichtung des Offiziersnachwuchses garantierten. Offiziersanwärter, die sich nicht in das gewünschte ideologische Schema einpassen liessen, wurden ausgeschieden.

Von oben her angeordneter Übergang

Eine Dynamik des Schwankens zwischen einem Volksbegehren nach „mehr Islam“ und einer elitären Einschränkung dieses Begehrens im Notfall durch die Armee und im Normalfall durch die überwiegende Mehrzahl der Intellektuellen, die Bürokratie, das Rechtswesen, die Polizei und die Volksschule, wo sehr bewusst ein flächendeckender Atatürk-Kult betrieben wurde, war unverkennbar. Obwohl klar war, dass die „moderne Türkei“ unter Druck von oben zustande gekommen war und weiterhin unter – nach Möglichkeit sanfter gehandhabtem – Druck von oben fortgeführt wurde, nahmen doch die Beobachter in der Türkei selbst und noch mehr im europäischen Ausland sowie auch in den islamischen Nachbarstaaten weit überwiegend an, dass in der Türkei, dem Nato-Mitglied seit der Zeit von Menderes, der Übergang aus einem Land islamischer Zivilisation zu einem „modernen“ Nationalstaat, im wesentlichen europäischer Färbung, vollzogen sei.

Dieser Schluss drängte sich auf, weil die Sprecher der modernen Türkei und damit die Gesprächspartner ausländischer Beobachter weit überwiegend aus Eliten bestanden, die tatsächlich von modernen, ursprünglich aus Europa stammenden Vorstellungen und Idealen geprägt waren. Nur ganz selten begegnete man einem tiefblickenden Kenner des Landes, von dem zu vernehmen war, „der Islam ist hier so tiefverankert, dass ich nicht glaube, die Türken würden ihn je als entscheidenden Richtungsweiser ablegen“.

Und dann kam Erdogan und zeigte gerade diese fast allen Aussenstehenden als unwahrscheinlich oder unmöglich geltende „Re-Islamisierung“ als überaus erfolgreichen Weg zu seiner eigenen autoritären und absoluten Machtausübung auf.

Neue Gegenwart bringt eine neue Sicht der Vergangenheit

Das neue Buch von Inga Rogg zeigt, dass die neuen Gegebenheiten einer islamisch ausgerichteten Türkei unvermeidlich den Blick beeinflussen, den man aus der heutigen Warte auf die Gegenwartsgeschichte der Türkei und damit primär auf Atatürk und sein Erbe zurückwirft. Aus dem bisher als erfolgreich geltenden „modernen Nationalstaat“ pro-europäischer Ausrichtung ist plötzlich wieder eine, wie die Verfasserin sie bezeichnet und beschreibt, „unfertige Nation“ geworden.

Die neue Gegenwart wirft ein Licht zurück in die Vergangenheit, das dieser eine andere Färbung gibt als die bisher vorherrschende. Es war natürlich seit jeher bekannt, dass Atatürk seine Modernisierung des neuen Nationalstaates, den er gründete, mit brutalen Mitteln erzwang, wo immer ihm dies als notwendig galt. Wer sich weigerte, einen „zivilisierten“ Hut mit Krempe zu tragen, musste damit rechnen, vor ein Sondertribunal gestellt zu werden, das Todesstrafen verhängte. Doch solche Härten galten als die notwendigen Mittel, die es ermöglichten, den neuen türkischen Nationalstaat zu gründen und auf den „fortschrittlichen Westen“ hin auszurichten – kleine Unschönheiten, die einem grossen Ziel dienten.

Wenn sich jedoch herausstellt, dass dieses grosse Ziel schlussendlich und trotz mehrmaligem Gewalteinsatz durch die Armee drei Generationen lang angestrebt, aber zum Schluss nicht erreicht wurde, beginnen die Taten Atatürks in einem anderen Licht zu erscheinen. Die hässlicheren Aspekte werden sichtbarer, weil ihre Rechtfertigung durch den schlussendlichen grossen Erfolg verschwindet.

Kommandierte „Modernisierung“?

Das Buch von Inga Rogg erwähnt Dinge wie die brutale Verfolgung der aufständischen Kurden in den drei Kriegen, die Atatürk gegen sie führte. Es erwähnt den Druck, unter den die christlichen Minderheiten in der Türkei kamen – wenn nicht durch den Islam, so doch durch den zur Weissglut angefachten türkischen Nationalismus –, denn als wirkliche Türken wurden die Christen nicht angesehen. Die Massaker an den Assyrern und der Völkermord an den Armeniern aus der Vor-Atatürk-Zeit, die in der neuen Türkei unter den Teppich gekehrt wurden und dort geblieben sind bis auf den heutigen Tag. Die von Atatürk selbst mitgetragene „Sonnen-Sprachtheorie“, nach der das türkische Wort für „Sonne“ (günesh) beweisen soll, dass Türkisch die Ursprache der Menschheit gewesen sei.

„Ich bin Türke“ tagtäglich

Der „Schuleid“ zu Beginn eines jeden Schultages landauf landab war obligatorisch von 1933 bis 2013, 80 Jahre lang. Inga Rogg zitiert den vollen Text, der jeden Morgen von einem Buben und einem Mädchen vor der obligatorischen Büste Atatürks in einem jeden Schulhof und vor den militärisch aufgereihten Schulkindern rezitiert werden musste, im Wortlaut. Er beginnt mit dem Bekenntnis: „Ich bin Türke, ich bin ehrlich und fleissig ...“ Der eigentliche Schwur besteht aus der Anrufung „Oh grosser Atatürk! Ich schwöre den von dir geebneten Weg und das von dir gesteckte Ziel unentwegt weiterzuverfolgen. Mein Dasein soll ein Geschenk an die Existenz der türkischen Nation sein.“ Und er schliesst mit dem wohl berühmtesten Ausspruch Atatürks: „Wie glücklich, wer sagen kann: ‚Ich bin ein Türke!‘“

Die wirklichen Ziele der Schriftreform

Was die früher so sehr gepriesene Schriftreform angeht, so gilt sie der Verfasserin als einer der wichtigsten Schritte, die Atatürk unternahm. Doch sie glaubt nicht an die „Legende“, dass diese Reform der „eigentliche Grund für den Erfolg der türkischen Revolutionäre um Mustafa Kemal war“. Die wirkliche Bedeutung der Einführung des lateinischen Alphabets an Stelle der arabisch-persischen Schrift war – wie ein Zitat aus den Memoiren Ismet Inönüs, des engen Mitstreiters und Nachfolgers Atatürks, belegt – „nicht die Erhöhung der Alphabetisierungsrate“, sondern „für die neuen Generationen die Tür zur Vergangenheit zu schliessen, die Verbindungen mit der arabisch-islamischen Welt zu kappen und den Einfluss der Religion zu senken“.

Jedoch Erdogan und sein Erfolg haben dazu geführt, dass diese Zielsetzung ihr Ziel nicht erreichen konnte. Gerade diese Verbindung, die gekappt werden sollte, wird nun wieder angestrebt.

Erdogans Weg durch das Bildungswesen

Inga Rogg schildert ausführlich und präzise, wie Erdogan und die Seinen den Weg über das Erziehungswesen einschlugen, um Schritt für Schritt, die sie alle aufzählt, den Weg Atatürks zurückzuschreiten von der Aufhebung des Kopftuchverbots bis zur Vermehrung und Privilegierung der religiösen Predigerschulen und der Zulassung von privaten Universitäten, die den Weg für das Einfliessen der religiösen Kräfte weit öffnete.

Erst nach dem Wahlsieg von 2011, neun Jahre nach seinem Aufstieg zur Macht, spricht Erdogan seine Pläne offen aus. „Wir wollen eine religiöse Jugend heranziehen“, sagt er nun. „Erwartet ihr, dass die konservativ-demokratische AKP eine atheistische Generation heranzieht? Das mag euer Auftrag, eure Mission sein, aber es ist nicht unsere.“ 2017 verkündet er Tausenden von Schülern: „2053 ist euer Jahr.“ Das ist das 600. Jahr nach der Eroberung Konstantinopels. Bis dahin plant Erdogan an der Macht zu bleiben und seine Neo-Osmanischen Pläne voll zu verwirklichen.

Neuausrichtung des Bildungswesens

Die Umwälzung des Erziehungswesens beschreibt Inga Rogg im Detail, wie man es nirgends sonst dargestellt findet. Sie schliesst ab mit der Erwähnung der im Mai 2017 gegründeten Ibn Khaldun Universität. Ihre Trägerin ist die Jugendstiftung der AKP, welcher der Sohn Erdogans, Bilal, vorsteht. Katar finanziert diese neueste Privatuniversität. Ihr Ziel sei „intellektuelle Unabhängigkeit zu erlangen. Länder, die vom Westen unterdrückt und ausgebeutet werden, in die geistige Unabhängigkeit zu führen“, wie ihr neuer Rektor es formuliert. Die Universität, sagt er, werde, statt Theorien zu importieren, ihre eigenen „türkischen Ideen“ entwickeln und exportieren.

Inga Rogg fasst zusammen: „Die Folgen der islamistischen Bildungspolitik wird man in ihrer vollen Tragweite erst in zehn oder zwanzig Jahren erkennen. Doch dann ist es zu spät.“

Einblicke in alle Aspekte das gegenwärtige Ringens

Das Buch gibt Auskunft über vieles mehr. In ruhig formulierten, ausführlichen Informationen erfährt man Details über die Laufbahn Erdogans selbst und die seines einstigen Bundesgenossen und heutigen Erzfeindes, Fethullah Gülen, des „weinenden Predigers“, sowie die Funktionsweise seiner einst mächtigen, heute verfolgten Organisation. Die Verfasserin schildert den Entscheidungskampf Erdogans – unterstützt von Gülen – gegen die Macht der Offiziere und deren Entmachtung durch nach dem Staatsstreich-Versuch von 2016 als ungültig erklärte Monsterprozesse sowie die Ausnützung dieses Staatsstreich-Versuchs durch Erdogan, um gegen alle Feinde der AKP vorzugehen und durch den seither immer erneuerten Ausnahmezustand die Macht des Staatschefs noch weiter zu zementieren.

Der Kurdenkrieg und der fehlgeschlagene Versuch einer Aussöhnung, gefolgt von der Erneuerung dieses Krieges, wird dargestellt. Auch der Fehlschlag der Syrienpolitik der Türkei und des Versuches einer neuen Aussenpolitik, die der nun wieder abgesetzte Aussenminister und dann Ministerpräsident, Ahmet Davutoglu, erfunden hatte. Dieser Umbau sah vor: eine Türkei nicht mehr als Randstein Europas im Nahen Osten, sondern als Zentrum der Staaten der islamischen Welt. Auch der Palast kommt zur Sprache, den sich Erdogan in Ankara errichten liess: 1150 Zimmer, von denen 250 dem Privatbereich der Präsidentenfamilie dienen sollen. Was das gekostet hat, bleibt Staatsgeheimnis.

Die Vielfalt der Themen reicht bis hin zu den Fernsehfilmen über die spannenden Abenteuer in der islamischen und der türkischen grossen Vergangenheit, die beim türkischen Volk, das im Durchschnitt pro Tag 5,3 Stunden lang fernsehen soll, soviel Beifall finden. Der Einblick erstreckt sich, konzis gefasst, aber vollständig, über die ganze Dynamik der jüngeren und der jüngsten Zeit.

Unterwegs zu einem neuen Absolutismus

Noch hängen die Bilder Atatürks an der Wand, wenn Erdogan eine Volksrede hält. Auf dem riesigen Grabmonument des „Vaters der Türken“ in Ankara steht nach wie vor eine militärische Ehrenwache in Galauniform. Noch hat beinahe die Hälfte der Türken im Verfassungsreferendum vom April 2017 gegen die Pläne für praktisch uneingeschränkte Machtausübung durch Präsident Erdogan gestimmt.

Doch das Bild Atatürks hat sich subtil verändert. Plötzlich sieht es so aus, als sei er nicht der Gründer einer selbstbewussten nationalen neuen Türkei gewesen, sondern vielmehr der Beweger seiner Nation in eine bestimmte Richtung, die ihm als die einzig richtige und erfolgversprechende galt, gegen welche jedoch seine „unfertige Nation“ nach ihm wieder zurückkrebste, zuerst ohne Erfolg unter Erdogans pro-islamischen Vorläufern, jedoch seit 2002 mit bisher unüberwindlichem Erfolg unter ihm.

* Inga Rogg: Türkei, die unfertige Nation, Erdogans Traum vom Osmanischen Reich. Orell Füssli Verlag , Zürich 2017.

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