In der selbst gestellten Falle

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In der selbst gestellten Falle

Von Urs Meier, 18.10.2016

Wenn das Publikum per TV-Voting Recht spricht, unterläuft das Fernsehen mit seiner Spielanlage die staatliche Gewaltenteilung.

Das erfolgreiche Theaterstück „Terror“ des Strafverteidigers, Schriftstellers und Dramatikers Ferdinand von Schirach hat als Fernsehspiel Millionen von Zuschauerinnen und Zuschauern gepackt. „Terror“ thematisierte in fiktionaler Form das fast unerträgliche Dilemma, in das geraten könnte, wer das Leben von Terrorgeiseln in der Hand hätte und entscheiden müsste, ob er sie opfert – im Glauben, so eine viel grössere Zahl von Menschen verschonen zu können.

Diese höllische Problematik, in der es kein schuldloses Verhalten gibt, hat von Schirach in der Gerichtsverhandlung über einen Kampfjet-Piloten verdichtet. Dieser Major der Luftwaffe hatte einen gekaperten Lufthansa-Airbus mit 164 Menschen an Bord entgegen dem ausdrücklichen Befehl der Verteidigungsministerin abgeschossen, als das Passagierflugzeug auf die mit 70'000 Menschen besetzte Münchener Allianz-Arena Kurs nahm.

Daniel Vischer hat die rechtlichen Aspekte des konstruierten Falls in seinem Beitrag dargelegt. Er kommt zum Ergebnis, der in Publikumsabstimmungen in der Schweiz, in Deutschland und Österreich herausgekommene Freispruch des Piloten sei falsch.

Problematische Spielanlage

Nicht nur der Freispruch des Piloten bedarf einer kritischen Betrachtung. Auch die Versuchsanlage des Fernsehspiels, dessen Ausgang von Publikumsvoten bestimmt wurde, muss unter die Lupe genommen werden. Der Richter-Darsteller wandte sich vor und nach der Verhandlung ans Publikum und wies ihm die Rolle von Schöffen (Geschworenen) zu. Väterlich mahnte er, man solle sich nur von den im Prozess geltend gemachten Fakten leiten und von nichts anderem beeinflussen lassen.

Was bei dieser richterlichen Anweisung an die Geschworenen fehlte, war zum einen eine Belehrung über geltendes Recht. Zum anderen entfiel – wohl mit Rücksicht auf die Situation der aus dem Fernsehspiel heraus Angesprochenen – eine Verpflichtung auf sorgfältige und unvoreingenommene Beratung unter den Geschworenen.

Mit der aus der Logik von Publikumsbindung und Zuschauerquoten geborenen Idee des Votings per Telefon und Internet sowie dem dadurch bestimmten Abschluss des fiktiven Prozesses stellte sich das Fernsehen selbst eine Falle. Aufgefordert, einen Wettstreit zu jurieren wie beim European Song Contest, durften die Zuschauenden entscheiden zwischen schuldig und nicht schuldig. Und genau da liegt der Hund begraben. Die an sich bewährte Versuchsanlage des Fernsehens, Millionen von Zuschauenden zu Beteiligten zu machen, missachtete in diesem Fall das wichtigste Prinzip staatlicher Ordnung: die Gewaltenteilung.

Missachtete Gewaltenteilung

Rechtsprechung ist von den staatlichen Gewalten die empfindlichste. Da sie direkt mit dem Leben einzelner Personen befasst ist, schlägt hier jeder Übergriff von gesetzgebender oder exekutiver Seite, ja nur schon jede diesbezügliche Unklarheit, zerstörerisch auf elementare Rechte und vitalen Schutz von Menschen durch.

Es ist absolut undenkbar, dass in einem Rechtsstaat von anderen Akteuren als regulären Gremien und Amtsträgern Recht gesprochen wird. Plebiszite oder die Orientierung an einer „öffentlichen Meinung“ haben hier nichts zu suchen. Die Versuchsanlage mit TV-Spiel und Recht sprechendem Publikum trägt in fahrlässiger Weise dazu bei, die in Zeiten des Populismus ohnehin prekäre Respektierung rechtsstaatlicher Grundprinzipien beiseite zu schieben.

Die zu erwartende Ausrede, das Ganze sei ja „nur ein Spiel“ gewesen und habe lediglich bezweckt, das Publikum die Schwierigkeit des Urteilens erleben zu lassen, würde den „Terror“-Abend nicht retten. Die Zuschauenden hatten die Wahl zwischen „schuldig“ und „nicht schuldig“. Für den Entscheid liess man ihnen ein paar Minuten. Nach den beiden eindrucksvollen Plädoyers der Staatsanwältin und des Verteidigers waren sie unmittelbar in der Rolle von Geschworenen. Für eine fundierte Entscheidung fehlte nicht nur die Zeit, sondern vor allem die eingehende Beratung im fachkundigen Kreis („Laien“-Richter sind zwar keine bestallten Juristinnen und Juristen, aber sehr wohl erfahren in ihrem schwierigen Geschäft).

Ein schlechter und zwei bessere Talks

Bei allen angeschlossenen Sendern wurde das Fernsehspiel im Anschluss diskutiert. SRF schob eine Spezialausgabe der „Arena“ nach, welche die Problematik hätte vertiefen sollen. Der Versuch scheiterte gründlich, und zwar am Setting wie am Personal. Die „Arena“ ist als Sendeformat der Ort des politischen Schlagabtauschs. Von der Studioeinrichtung bis zum Verhaltensrepertoire des Moderators ist alles auf die Inszenierung von Konfrontation getrimmt. Die Auswahlkriterien für die Gäste waren anscheinend gleich wie bei den üblichen Politdebatten.

Das ging nicht gut. Zäh schleppte sich die Diskussion über die Distanz von achtzig Minuten. Geradezu quälend war die Unfähigkeit der meisten Diskutanten, sich auch nur einigermassen eloquent auszudrücken. Die Politikerin und der Rechtsprofessor waren eine einzige Zumutung. Mehrheitlich schienen die Beteiligten sich auf die Annahme verlassen zu haben, gefragt sei lediglich ihr „gesunder Menschenverstand“; irgendwelche Expertise oder ausgebrütete Gedanken seien ohnehin nicht fernsehtauglich.

Dass es auch anders geht, zeigte „Das Erste“ mit der gleichzeitig laufenden Ausgabe der Talkshow „Hart aber fair“ mit Frank Plasberg. Mit dem alten Gerhart Baum, der Theologin Petra Bahr und weiteren fähigen Diskutanten dirigierte Plasberg eine Runde von ganz anderem Kaliber als sie Jonas Projer in der „Arena“ zur Verfügung stand. Auch der ORF führte zu „Terror“ mit einer Spezialausgabe von „Am Schauplatz Gericht“ unter der Leitung von Peter Resetarits eine ansprechende und anregende Debatte auf beachtlichem Niveau.

Als Fazit kann die von Gerhart Baum bei „Hart aber fair“ geäusserte Kritik stehen: Die Anlage des Stücks hat das Publikum durch Dramatisierung und Personalisierung der komplexen Problematik dazu verleitet, rechtstaatliche Prinzipien ausser Acht zu lassen.

Ich unterstütze diese Voten entschieden, weil ein eindrückliches "Spiel" (mit grossartigen Darstellenden eines hochdifferenzierten Textes) in eine populistische Falle geriet und daraus nicht mehr heraus fand, was gerade an der fast hilflos wirkenden "Verteidigung" durch den mutigen ExMinister Baum überdeutlich wurde. 149 gegen 70000, wer kann dieses "kleine" Opfer gegenüber der "Unzahl" Bedrohter verweigern...., wer kann so brutal sein und ein GANZES Stadion voll Menschen "opfern"... Kein Gedanke daran, dass das Flugzeug konkret vernichtet wurde, das Stadion aber immer erst ein potentielles Ziel geblieben war: der reale Tod also gegen eine wahrscheinliche tödliche Gefahr stand.... Und dann wusste der Verteidiger die Schlagworte gekonnt ad absurdum zu führen: wer will Menschen einem (blossen) Prinzip opfern; wer scheut im Zeitalter permanenter und politisch effizienter Lüge (Brexit! Trump! SVP-Initiativen und und...) eine lächerliche Lüge (sie ist keine, wenn mans merkt, sagt der Volksmund), wenn der Mann mit der Axt vor der Türe steht usw. (bei dieser Rolle hat der Scriptschreiber gemogelt!) Und plötzlich ging es gar nicht mehr um Recht (von Rechtsordnung, die stärker ist als wir, will sowieso niemand mehr etwas wissen), das ich nicht je nach dem respektieren kann; nicht mehr um die unverzichtbare Differenz von Recht und Moral; nicht mehr um die Bedeutung eines Rechtsurteils gegenüber der Frage der angemessenen Bestrafung; der Täter wurde zum Held (er war doch so mutig, und im Gewissenskonflikt...), dem man es nachsehen wollte, dass er den Herrgott spielte, souverän über alle Verfassung hinweg mit deutlichen Folgen: da gab es doch schon die Militärs, die sich gar nicht der Verfassung beugen wollten und in der talk Runde gab es schon den realen Verteidigungsminister, der sich über sie stellte...
Nur Min. Baum rief ungehört dazwischen: Verfassungsbruch! Und dabei hätte der Held durchaus geschont werden können, nicht zulasten des Rechts, sondern zulasten eines Strafmechanismus.
Aber dann waren längst über 8o % für den gesunden Menschenverstand, der den Populismus landauf landab so erfolgreich sein lässt, koste es was es wolle. Dafür stellen wir Minarett und Burka in die Verfassung und verbeugen uns vor diesem potpourri....
A.Imhasly

Ich bin eigentlich mit allem einverstanden, was die Herren Meier und Fischer äussern. Ich bitte einfach um etwas mehr Gelassenheit. An den Stammtischen werden juristisch heikle Fälle auch laufend diskutiert, ebenfalls ohne grosse Differenzierung, ohne Sachkenntnis und ohne Weitblick. Es geschieht trotzdem. Meine <Generalklausel für solche Fälle>: Ein guter Richter folgt dem Gesetz, ein schlechter der öffentlichen Meinung.

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