Ein Interview mit dem Autor und Unternehmensberater Jochen May
Jochen May, Jahrgang 1956, sammelte nach seinem wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Studium an der Universität Erlangen-Nürnberg erste Praxiserfahrungen als Personalleiter unter anderem bei Adidas. Danach wechselte er als Berater zu Towers Watson bevor er sich 2003 mit seinem eigenen Beratungsunternehmen “Jochen May Human Resources Consulting” selbstständig machte.
Herr May, Sie haben ein Buch über Schwarmintelligenz geschrieben. Mein erster Impuls war: Nicht noch eins! Was ist an Ihrem Buch neu?
Für Romanautoren à la Schätzing mag das Thema ja durch sein. Der Einsatz von Schwarmintelligenz im betrieblichen Alltag hat hingegen noch gar nicht richtig begonnen. Mutter Natur feiert seit Jahrmillionen großartige Erfolge mit Schwarmintelligenz. Das unternehmerische Potenzial von Schwarmintelligenz hat trotzdem bisher leider nur unzureichend Beachtung gefunden. In meinem im Mai erscheinenden Buch “Schwarmintelligenz im Unternehmen” findet der Leser, egal ob Manager oder Mitarbeiter, nicht nur Grundlegendes zur Schwarmintelligenz, sondern auch ein umsetzbares Programm für den Einsatz auf der Arbeit. Denn Schwarmintelligenz macht den Alltag effizienter und reibungsärmer, Leistungen werden Empfänger-gerechter. Unsere Industrie braucht mehr Mitarbeiter-Entrepreneurs, dazu möchte ich mit meinem Buch beitragen.
Sie behaupten also, das Potenzial der Schwarmintelligenz sei in den Unternehmen noch gar nicht erkannt. Wie kommen Sie darauf?
Zündende Ideen oder Verbesserungsvorschläge kommen nicht auf Bestellung. Schon Aristoteles hat erkannt, dass durch die Vernetzung verschiedener Talente Normalsterbliche mehr erreichen können als ausgesuchte Spezialisten. Der Schwarm erweitert individuelle Blickwinkel, die Kreativität ist größer als bei Einzelpersonen. Das wiederum vermehrt die Chancen, neuartige, weniger offensichtliche, in jedem Fall aber viel versprechende Wege zu finden. Vor allem in den täglichen Arbeitsprozessen kann die Schwarmintelligenz Leistungen verbessern und Abläufe beschleunigen. Unter den heutigen Lean-Management-Bedingungen kriegen Chefs, so schätzt man, jedoch höchstens noch fünf Prozent aller Vorgänge in ihrem Bereich zu Gesicht. Wie sollen die unter diesen Umständen ohne Zutun der Mitarbeiter alle Verbesserungspotenziale realisieren?
Soweit die Theorie. Aber jetzt mal praktisch: Wie soll Mitarbeiter das machen?
Der Schlüssel liegt darin den Arbeitsauftrag zu verändern. Klassisch lautet der in etwa so: “Bearbeiten Sie acht Stunden pro Tag Bestellungen nach dem Prozesshandbuch”. Das orientieren an solchen Regeln aber entmündigt Mitarbeiter und lässt keinerlei Spielraum für Schwarmintelligenz. Orientiert man sich hingegen am Ergebnis und trifft Servicelevel-Vereinbarungen nach dem Motto: “Ich sorge dafür, dass alle Bestellungen binnen 24 Stunden ausgeliefert sind und die durchschnittliche Bearbeitungsdauer pro Auftrag 5 Minuten nicht überschreitet”, fordern Sie die Schwarmintelligenz geradezu heraus. Mitarbeiter entwickeln dabei ein Eigeninteresse an Prozessverbesserungen, weil sie so die versprochenen Servicelevel leichter erreichen oder sogar übertreffen können. Innovation wird für alle Beschäftigten zur Kernaufgabe.
Das klingt noch ein wenig nach Arbeitsvermeidungsstrategie, Motto: “Wie kann ich mir den Job leichter machen?” Wie profitieren davon die Unternehmen?
Marktgerechtere Produkte, verbesserte Produktivität, schnellere Reaktion auf neue Kundenwünsche, Abbau von Bürokratie – all das winkt als Belohnung. Die innere Flexibilität im Unternehmen steigt durch Schwarmintelligenz. Sie steht für intelligenteres Arbeiten: nicht mehr Schweiß, sondern vor allem mehr Köpfchen.
Ihr Buch wird dazu einige Führungsinstrumente vorstellen. Welche davon gehören denn noch nicht zum Einmaleins der Managens?
Um Schwarmintelligenz zu nutzen, müssen Führungskräfte umdenken. Ihre Rolle wandelt sich vom vermeintlich allwissenden Spielmacher zum Impulsgeber und Coach. Schwarmintelligenz – das kann man sich in der Natur abgucken – funktioniert nur, wenn feste Ziele mit Freiheitsgraden gekoppelt sind. Was erreicht werden soll, muss feststehen; wie muss dagegen abdingbar bleiben. Um diesen Balanceakt bewältigen zu können, empfehle ich die bereits erwähnten Servicelevel-Vereinbarungen. Die kennen manche schon aus Outsourcing-Verträgen, als innerbetriebliches Führungsinstrument eingesetzt aber sind sie total neu.
Was noch?
Zum Beispiel müssen Schwärme kompetenter über den Bedarf ihrer Leistungsempfänger, also etwa der Kunden, Bescheid wissen. Die Kommunikation darf deshalb nicht länger sternförmig nur auf die Führungskraft ausgerichtet sein. Bei kontroversen Meinungen etwa benötigt der Schwarm autoritätsfreie Abstimmungsprocedere. Dabei lassen sich nur teilweise bekannte Managementtechniken einsetzen. So entsteht zum Beispiel die Frage: Wie können sich Vorgesetzte sicher sein, dass sich der Schwarm in die richtige Richtung bewegt und keine Negativeffekte produziert? Das klassische Instrument – strikte Kontrolle im Detail – würde hier alle Freiräume zurücknehmen und das zarte Pflänzchen der Schwarmintelligenz gleich wieder eingehen lassen. Ich empfehle einen anderen Weg: Die Handlungsfreiheit im Schwarm wird von der Kompetenz seiner Mitglieder abhängig gemacht. Heißt: Nur wer eigenständig testen kann, ob sein Handeln mit dem Bedarf seiner Leistungsempfänger kompatibel ist, erhält größeren Entscheidungsspielraum. Die Leser erwartet also ein praxisnahes Programm, um Schwarmintelligenz im Unternehmen zu aktivieren.
Disclaimer: Obwohl unsere Namen bis auf einen Buchstaben identisch sind, haben wir uns vor dem Interview nicht gekannt. Die Namensverwandschaft war aber ein amüsanter Einstieg, auf den aus Sachgründen hier jedoch verzichtet wurde.
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Stefan Landwehr
Schön wär’s!
Fangen wir bei der (vorgeblich) erstrebenswerten Entwicklungsstufe an: Wo sind sie denn, die Beispiele aus der Natur? Fische, die im Schwarm scheinbar synchron die Richtung ändern? Kann man mechanistisch erklären! Ameisenvolk? Funktioniert nach einem einfachen Regelwerk!
Ich denke, da kommen wir nicht weit? Warum? Weil wir das Informationsmeer, in dem der Schwarm schwimmt noch gar nicht ausreichend kennen und beschreiben haben. Sinnbildlich die Uferlinie, die Tiefen und Untiefen, die chemisch-physikalischen Eigenschaften des Wassers etc.
Mein Plädoyer lautet: Bevor wir über (Schwarm-) Intelligenz, Emergenz und Ähnliches sprechen, lassen sie uns erst mal die Hausaufgaben machen: Jammern nicht alle, dass sie Infos nicht finden, hat sich nicht jeder schon einmal am Inhaltsverzeichnis für den Musterordner versucht? Gerne stehe ich Ihnen für ein Interview zur Verfügung, in dem es um solche Grundlagen – ich nenne es “qualitative Informationslogistik” – geht. Das könnte den Homo sapiens für seine Arbeit ertüchtigen – und dann kommt irgendwann mal der Schwarm.