Es gibt tausend Arten wie man Entschuldigung sagen kann. Aber nur eine, wie einem auch verziehen wird. Christiane Janke kennt sie. Die 41-Jährige ist Zugansagerin im Kölner Hauptbahnhof, und wenn ein ICE mal wieder mit mehr als zehn Minuten Verspätung überfällig ist, dann muss sie die verstimmten Kunden am Bahnsteig nicht nur um „Verständnis“ bitten – dann geht es darum, Reputation zu retten. Dann wirbt Janke um Exkulpation. Feinfühlig zwar, aber bestimmt. Andernfalls drohen die Kollege am Gleis zum Prellbock wachsender Wut zu werden.

„Ich stelle mir dann vor, wie sich die Kunden fühlen“, sagt Janke, die den Job im Stellwerk schon seit 20 Jahren macht. Vor ihrem geistigen Auge ballen übellaunige Fahrgäste dann ihre Fäuste in den Taschen, wippeln wegen des schlechten Wetters schlotternd hin und her und sind stinksauer, weil sie fürchten, zu spät zur Arbeit zu kommen oder ihren Ferienflieger zu verpassen. Christiane Janke versucht dann „ganz ruhig zu sprechen“, das Wort „Entschuldigung“ betont sie dabei besonders deutlich und senkt am Schluss die Stimme. Nur so bekomme die Bitte auch den nötigen Nachdruck.

Ob wir sprechen, singen, schreien, seufzen oder stöhnen – das menschliche Gehirn verarbeitet jedes artikulierte Wort bereits nach 140 Millisekunden. Nur konzentrieren sich die meisten dabei viel zu sehr auf die Wirkung der Worte – und vergessen die Kraft des Klangs.

In Zeiten, in denen wir uns weder auf den Wahrheitsgehalt von Worten noch die Beweiskraft von Bildern verlassen können, bekommt die Stimme ein völlig neues Gewicht. Sie ist nicht nur eindeutiges Erkennungsmerkmal, sondern nahezu unverfälschlich und damit eine ebenso authentische wie „intime Visitenkarte“ der Persönlichkeit, sagt etwa der Flensburger Stimmforscher Hartwig Eckert. Mit Hilfe unserer Stimme bestimmen wir maßgeblich, wie wir auf andere wirken, ob wir sie überzeugen, uns durchsetzen, ihnen sympathisch werden oder nicht. Über die Stimme bekommen wir unmittelbaren Zugang zu den Gefühlen unseres Gegenübers. Sie ist ein unterschwelliger Türöffner, ein Eisbrecher, ein Brückenbauer. Sie wirkt auf den beruflichen Erfolg genauso wie bei der Partnerwahl – und: Sie kann sogar den Charakter eines Menschen verändern. Darüber habe ich gerade einen längeren Artikel in der aktuellen WirtschaftsWoche geschrieben.

Die Stimme ist aber auch ein gefährlicher Verräter. Sie entlarvt die Gemütslage des Sprechers ebenso wie dessen Absichten. Das Limbische System, die Schaltzentrale für Gefühle, wirkt auf sämtliche Zwischentöne: Ist jemand traurig oder niedergeschlagen, so erschlafft seine Sprechmuskulatur automatisch, die Stimmlippen reagieren verzögert und vibrieren sanfter. Prompt klingt die Stimme tiefer, kraftloser, undeutlicher. Desinteresse oder Frust dagegen machen die Stimme flach und monoton, der Sprachmelodie fehlt jede Modulation. Wer gestresst oder nervös ist, klingt wiederum gepresst und dünn, dem Sprecher schnürt es sprichwörtlich die Kehle zu.

Diese Stimmlippenbekenntnisse sind global gleich und unabhängig vom Kulturkreis. Eines der bekanntesten Experimente dazu lieferte vor einigen Jahren der Psychologe Klaus Scherer von der Universität Genf: Er ließ Schauspieler inhaltlich sinnlose Sätze aus Elementen verschiedener Sprachen auf Band sprechen und dudelte das Kauderwelsch Menschen diverser Nationen vor. Obwohl allesamt kein Wort verstanden, erkannten sowohl Engländer wie Spanier, Italiener, Franzosen oder Deutsche sofort, ob die Mimen erfreut, verärgert, traurig oder ängstlich waren.

Selbst ungeübte Ohren können aus der Stimme das Alter eines Menschen heraushören, das fand etwa der Berliner Sprachforscher Markus Brückl kürzlich heraus. Das Bemerkenswerte an Brückls Studien ist: Was wir heraushören, ist weniger das chronologische Alter eines Menschen, dafür aber sein biologisches, also wie fit der Sprecher ist. Dieses biologische Alter kann im Schnitt bis zu vier Jahre vom numerischen abweichen, was zugleich bedeutet: Durch gezieltes Stimmtraining lässt sich das persönliche Image um einige Jahre verjüngen – oder altern. Je nachdem, was einem nützt.

Jüngste Forschungsergebnisse deuten gar darauf hin, dass selbst einzelne Charakterzüge einer Person hörbar sind. Die Vermutung steckt bereits im lateinischen Wortstamm „per-sonare“, dem „Durchtönen“. Der Berliner Kommunikationswissenschaftler Walter Sendlmeier wollte es jedoch etwas genauer wissen und hat dazu erst vor wenigen Wochen eine Versuchsreihe gestartet, in der er untersucht, ob und wie sehr sich die in der Psychologie verwendeten „Big Five“ der Persönlichkeitsmerkmale – Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, soziale Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit – durch die Stimme reflektiert werden.

Bei einem Versuch mussten sich elf ausgewählte Sprecher zunächst selbst einschätzen und danach drei Stimmproben aufnehmen: einen Vokalton von sechs Sekunden Dauer, einen vorgelesenen Text und einen Freitext. Aus den beiden Textproben wurden jeweils 17-sekündige Fragmente kopiert, die inhaltlich so gut wie keine Rückschlüsse auf die Sprecher zuließen. Anschließend wurden alle drei Aufnahmen 30 Hörern vorgespielt, die die Sprecher charakterisieren sollten. „Schon bei dem gehaltenen Vokal gab es eine erkennbare Korrelation zwischen der Eigen- und der Fremdwahrnehmung“, sagt Sendlmeier. Vor allem aber das Maß an Neurotizismus und Extraversion wurde in den Hörproben deutlich erkannt. Oder anders formuliert: Wer psychisch labil oder stabil, wer introvertiert oder extrovertiert war, der klang auch so.

Man muss sich das so vorstellen: Jede Emotion aktiviert in unserem Gehirn spezifische Neuronen, die Impulse in einem spezifischen Rhythmus ausstrahlen und deren Frequenz sich auf die Stimme überträgt. Diese emotionalen Muster können menschliche Ohren hören, Computer aber noch viel genauer interpretieren.

Talk2meWas davon möglich ist, kann derzeit jeder im Internet ausprobieren: Auf der von Gold-Gate betriebenen Webseite Areyoutalking2me können Interessierte ihre Stimme kostenlos analysieren lassen – etwa, um herauszufinden, wie sie auf andere wirken, warum ihre Präsentationen nicht ankommen oder warum sie den Chef bei der letzten Gehaltsverhandlung einfach nicht überzeugen konnten.

Die Testsprecher brauchen dazu nur ein hochwertiges Mikrofon oder Headset, das sie an den Computer anschließen. Anschließend müssen sie sich eine Gratissoftware zur Stimmerkennung auf den Rechner laden und können dann völlig anonym Texte von sieben oder 26 Sekunden Länge online aufsprechen. Schon nach dieser kurzen Sequenz sei das Programm in der Lage, „die aktuelle Gefühlslage zu erkennen sowie welche Motive der Sprecher verfolgt“, sagt der Gold-Gate-Geschäftsführer Erik Feingold. Das Programm wurde bereits an rund 40.000 Probanden getestet und lernt mit jedem weiteren Online-Test dazu. Derzeit liege die Trefferquote bei rund 85 Prozent.

Ich habe das übrigens selbst ausprobiert und muss sagen: Bei mir traf es häufig zu und war zugleich ein großer Spaß.