Michael Köhlmeier: Madalyn

Muss man Michael Köhlmeier noch vorstellen?
Ein paar Daten der Vollständigkeit halber: Der Autor wurde 1949 in Hard am Bodensee geboren. Er studierte Germanistik und Politikwissenschaft in Marburg/Lahn sowie in Philosophie und Mathematik in Gießen. Verheiratet ist er mit der Schriftstellerin Monika Helfer. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Vorarlberg und in Wien.

Köhlmeiers Publikationsliste ist lang. Zuletzt erschienen der Roman „Abendland“ (2007), „Idylle mit ertrinkendem Hund“ (2008) und „Mitten auf der Straße. Die Erzählungen“ (2009).

In „Madalyn erzählt der Ich-Erzähler Sebastian Lukasser die Geschichte der ersten Liebe der vierzehnjährigen Madalyn.
Madalyn wohnt im gleichen Haus wie er nur einen Stock tiefer. Sie ist Einzelkind, geht ins Gymnasium und hat etwas eigenartige Eltern. Die Mutter geht lieber ins Fitnessstudio als sich um das Kind zu kümmern und sagt Sätze wie: „Kinder zu haben ist eine Art von Depression.“
Als das Mädchen fünf Jahre alt ist, muss Lukasser mitansehen, wie sie beim Fahrradfahren von einem Auto erfasst wird. Er leistet erste Hilfe und begleitet sie ins Krankenhaus – daraus entwickelt sich eine Freundschaft, in der er als „Schutzengel“ Madalyns gesehen wird.

Mit 14 erzählt sie ihm von ihrer ersten Liebe. Moritz geht in dieselbe Schule wie Madalyn. Er wurde dort wegen seines langen Sündenregisters sozusagen als seine „letzte Chance“ aufgenommen, stiehlt, trinkt und lügt. Madalyn ist allerdings von einem Gedicht, das er angeblich geschrieben hat, fasziniert.
Die beiden werden ein Paar, was nicht ohne Probleme abgeht. Madalyn verheimlicht den Eltern die Beziehung, kommt zu spät heim, treibt sich mit Moritz herum. Sie selbst beschäftigen ganz andere Sachen, denn bei Moritz kann sie nie sicher sein, ob er ihr die Wahrheit erzählt und vor allem, ob sie seine einzige Freundin ist.
Die Situation spitzt sich dramatisch zu als der Vater der Familie eröffnet, dass sie aus beruflichen Gründen ins Ausland gehen sollen.

Sebastian Lukasser kennt der Köhlmeier-Leser schon aus „Abendland“. „Madalyn“ spielt zeitlich später, klar datiert mit 2009.

Köhlmeiers Erzählstil zu beschreiben fällt schwer. Klar, ruhig, genau und immer so, dass ich gerne weiterlesen wollte. Dazu kommt, dass durchaus Spannung daraus entsteht, dass man als Leser recht schnell anfängt, Madalyn als Informantin zu misstrauen. Erzählt sie wirklich die Wahrheit? Lukasser berichtet ja oft nur das, was er von Madalyn weiß. Die Ergänzungen aus seiner eigenen Beobachtung sind spärlich, wenn auch für ein vollständiges Bild ausreichend.

Eine Liebesgeschichte, insbesondere eine Teenager-Liebesgeschichte, unkitschig zu erzählen ist schwierig. Köhlmeier ist das auf eine berührend-realistische Weise gelungen.

Mir hat auch gefallen, wie Wien unaufdringlich als Kulisse benutzt wird. Alle beschriebenen Orte wie die Heulmühlgasse, in der die Protagonisten wohnen, die Schule in der Rahlgasse, das Lokal „Neni“ am Naschmarkt oder das „Flex“ am Donaukanal gibt es wirklich. Besonders hübsch ist Madalyns Buchkauf in der real existierenden Buchhandlung „Anna Jeller“, in der auch die Buchhändlerin einen kleinen Auftritt hat.

Noch eine nette Kleinigkeit aus dem Buch: Die Deutschlehrerin hat eine besondere Idee für ihre Schüler.
„Sie hatte vorgeschlagen, jeder in der Klasse solle sich ein Gedicht besorgen, das Internet sei voll von Gedichten, das könne man sich ausdrucken und in die Hosentasche stecken und immer wieder herausziehen und lesen, in der U-Bahn, oder wenn man an der Kasse im Supermarkt wartet oder wenn der Spielfilm im Fernsehen von Werbung unterbrochen wird. Sie ließ Kopien mit einer Reihe von Internetadressen herumgehen und sagte, sie habe das einmal ein ganzes Jahr lang durchgezogen, jede Woche ein anderes Gedicht in der Tasche, es sei wunderbar gewesen.“

Wie soll man von einem Roman, in dem derartige Ideen vorkommen, nicht begeistert sein?

Diese Besprechung erschien zuerst bei „Das Wortreich“, einem Portal für deutschsprachige Literatur. Von dort habe ich ein Rezensionsexemplar bezogen. Wenn ihr auch Interesse habt, dort Bücher zu besprechen, informiert euch bitte hier.

8 Gedanken zu “Michael Köhlmeier: Madalyn

  1. entegut schreibt:

    Ich habe von Köhlmeier „Geschichten von der Bibel“ gerade in der Reißen. Ich mag auch seinen unterhaltsamen Erzählstil.

    Deine Buchbeschreibung liest sich so, als könnte man das Werk auch in den Bereich Jugendliteratur ordnen. Würdest du einem jungen Mädchen dieses Buch empfehlen? Burschen lesen ja keine Herzschmerzgeschichten in diesem Alter. 🙂

    PS: Den Tipp mit dem Gedicht nehme ich auf und suche mir gleich ein schönes für die Hosentasche aus. Was mache ich, wenn ich ein Kleid oder einen Rock trage? -> ins Geldbörsel stecken.

  2. leselustfrust schreibt:

    Hmmm… Jugendliteratur. Schwierige Frage. Eher nein. „Romeo und Julia“ ist ja auch nicht primär ein Stück für Jugendliche obwohl Julia noch so jung ist.
    Köhlmeier schreibt nicht so simpel wie es in diesem Bereich üblich ist, sowohl stilistisch als auch von den Interpretationsmöglichkeiten her. Außerdem wird die Geschichte von Lukasser, einem Erwachsenen, erzählt.

    Empfehlen würde ich das Buch auf jeden Fall Erwachsenen, die gerne Young-Adult-Bücher lesen und einmal etwas Anspruchsvolleres ausprobieren wollen. Bei einem jungen Mädchen würde ich vorher fragen, was sie sonst noch so liest. Eine realistische Liebesgeschichte ist ja nicht jedermans Sache.

  3. bibi bachel schreibt:

    madalyn

    ich finde schon,dass es auch für junge leser geeignet ist. sozusagen als warnung vor den eigenen gefühlen, auf die man sich noch nicht verlassen kann, wenn man noch so wenig übung hat wie madalyn – ausserdem hat sie ja bei ihren eltern gar keinen emotionalen halt, weil sie selber noch in kinderschuhen stecken – wie soll sie dann bitte wissen wer sie ist, was sie fühlt? und dann sucht sie geborgenheit und liebe bei einem dem selbst alles fehlt, was es zum menschwerden braucht! schade, dass die störungen der eltern die kinder ausbaden müssen, die dann gar nichts mehr auf die reihe kriegen, weil sie sich dauernd um ihre eltern kümmern müssen – dabei wäre es umgekehrt so viel einfacher: wenn eltern eltern sind und wirklich da sind für ihre kinder in guten und in schlechten zeiten. denn dann bekommen die kleinen erdenbürger das nötige vertrauen in sich und die nötige selbst- und menschenkenntnis, die man braucht, um mit anderen erwachsen statt kindisch umzugehen.
    lies nach bei franz ruppert über heilung von ererbten traumen! er schlägt vor,d ass die eltern eine therapie machen,d amit die schwierigkeiten der kinder verschwinden! wie cool! und das fällt einem erwachsenen ein und auf! das reicht für den mom!tut was liebe eltern!

    M. Köhlmeier schreibt solche traurigen Bücher wie Madalyn u.a., weil er selbst eine Tochter verloren hat, die mit 21 bei einem Wanderunfall ums Leben kam. Seine Bücher vor dem Tod seiner geliebten Paula waren heiterer, lebensfroher, unbeschwerter.

  4. leselustfrust schreibt:

    Also, zwei Punkte:

    Der, der mit dem Buch nichts zu tun hat: Franz Ruppert werde ich ganz gewiss nicht lesen. Familienaufstellung, brrrr, esoterischer Kram , und frauenfeindlich dazu. Mir reicht, dass ich mir Hellinger angetan hab.

    Der zeite Punkt: ich halte deine Ansichten für Überinterpretation des Buches. Warnung vor den eigenen Gefühlen? Es ist eine Geschichte über eine erste Liebe! Dass die meistens nicht gut ausgeht, ist völlig normal. Dass Köhlmeier so brutal moralisiert, wäre mir auch neu.

    Ebenso normal ist, dass ein Mädchen mit 14 keine Ahnung hat, wer sie ist – es ist doch ihre Aufgabe in dieser Zeit, das herauszufinden!
    Die Eltern sind zwar ein wenig seltsam, aber eben nur ein wenig. Das „Innenverhältnis“ zwischen Madalyn und ihrer Mutter ist ebenfalls relativ normal, die heftigen Streitereien zB kommen in der Pubertät einfach vor.

    Köhlmeier hat mE die Familiensituation nur gaaanz leicht eigenartig gestaltet damit es die für die Geschichte nötige Stimmigkeit und Dramatik erhält. Mehr nicht. Traumatisiert ist Madalyn nicht, nur eine Spur vernachlässigt.

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