19.-22.2.2017 – erste Reise allein

19.2.2017

Der Morgen hatte einen anderen Tag versprochen. Offen und frei und hell vom Weiß an allen Zweigen. Das Gras knistert, der Boden ist hart.
Über dem Wald steht die Sonne so weiß wie ein Mond. Vor dem Wald ein feiner Nebelschleier, der sich in vielen Schichten im hellen Grau verliert. Dieses Bild möchte ich bewahren. Doch bis ich die Kamera darauf gerichtet habe, ist es weg. Keine Sonne mehr da, kein Wald, und so und noch grauer ist es noch immer.
Sonntag ohne Sonne.
Gestern ist eine Hoffnung gestorben. Ich sah einen schwarzen Vogel von der Größe einer Amsel oder eines Stars – war im Gegenlicht schwer zu erkennen – auf der alten Telefonleitung, die schon längst keiner mehr braucht, gegenüber den Starenkobeln sitzen und hoffte, es wäre ein Star, der sein Haus für dieses Jahr beziehen will. Bitte, bitte, ich wünsche es mir so sehr. Ein paar Minuten lang. Dann ist die Amsel mit einem Schwung verschwunden. Vielleicht war sie es, die am Abend auf der Tanne gesungen hat. Ich höre ihr ganzes Lied. Aber das Pfeifen der Stare höre ich hier vielleicht nie mehr. Ob das Wünschen noch hilft?
Wie lange werde ich es vermissen. Wann hört das auf? Hört es überhaupt auf?

20.2.2017

Montags nie? Oder doch?
Als ich gestern nicht einschlafen konnte, hätte ich die Zeit so gerne schnell weitergedreht, um aufstehen und weitermachen zu können. Hier.
Womit fange ich an?
Es ist Unsicherheit im Kopf und in den Füßen. Angst vor Löchern oben und Glatteis unten. Gefühlt. Es ist wie Gehen auf einem noch nicht ganz zugefrorenen See mit der Absicht, ans andere Ufer zu kommen. Hab ich mal gemacht, bin aber nach drei Vierteln der Strecke umgekehrt, als ich offenes Wasser gesehen habe. Wieder am Ufer kam mir ein Junge entgegen: das war aber gefährlich! Ich gab ihm Recht, ich sollte mich schämen, aber es hatte wohl sein müssen.

Heute habe ich Angst, wenn sich der feste Boden für mich so anfühlt und greife nach jedem Geländer, das es gibt.
Und ich will – noch – Ski fahren?!? Immerhin hat da das Wegrutschen Methode. Laufen, gehen mit dem Hund, fast immer gut, niemals schlecht, also.

Ich möchte Jerusalem ein Bild mitgegeben, das ich noch heraussuchen muss. Das Heraussuchen ist kein Spass. Es war die Zeit, als ich noch die Minox und Umkehrfilme verwendet habe. Ich finde Negative mit Kontaktstreifen in Ordnern, Zeit und Ort stehen drauf. Gut.
Für Jerusalem möchte ich Bilder von meiner ersten Reise, 1991, nach dem ersten Golfkrieg, wo die Hoffnung, die mit der Friedensbewegung gewachsen war, in wenigen Nächten zusammenbrach. Kurz danach habe ich den Palästinenser aus Nazareth kennen gelernt, der mein Freund wurde, und nach dem Sommer wollte ich nach Israel. Fand, dass es höchste Zeit dafür war.
Also wo sind die Bilder. Die Kontaktstreifen sind da, die Negative nicht. Wirklich nicht. So verschwunden wie der Text über die ganze Reise zwei Jahre später durch Israel, Ägypten, Jordanien und Syrien. Immer wenn ich wieder nach ihm suche, erinnere ich mich, wie oft ich schon vergeblich danach gesucht habe, weil ich es niemals glauben will. Nein, nein! Das darf nicht sein!
Ausgerechnet dieser Text, der nicht der erste und nicht der letzte war, sondern ganz systematisch von mir wie alle anderen Texte behandelt wurde. Im Rechner, als Manuskript und auf einer CD. Das Manuskript gibt es mehrfach, die CD ist weg. Und im Rechner, wie auch in seinen beiden Vorgängern keine Spur mehr von borderline. Meine Reise nach Palästina. Ich werde scannen müssen.
Tipp vom Feldweg: Schau bei gelöschten Dateien! Auf dem Rechner von vor zehn Jahren? – ja, klar. Hab ich gemacht: nix da. Der Papierkorb ist leer.

Und jetzt noch die Negative von Jerusalem, Bethlehem, Nazareth, Haifa, dem See Genezareth und dem Toten Meer. Und von mir mit Khalils Familie. Es gibt eine lückenhafte (?!) Serie kleiner Bilder und wenige große. Ich vermisse viel. Auch da: ich werde scannen müssen.
Ich bin wieder da, wo Khalil und ich nicht weiter gekommen sind. Wo das Ende da war, ohne dass man es sich gesagt hat. Wörter, Bilder, Auto sind mitgegangen. Ich habe nicht mehr nachgefragt, wusste ich doch, was kommen würde: ein vorwurfsvoller Blick, weil ich gefragt habe, wo ich hätte verstehen müssen. Groß geworden in einer christlichen Familie in Israel ist es vielleicht so – ich versuchte mir das Unverständliche verständlich zumachen – als hättest du gar kein Recht und deshalb jedes. Als glaubte er, ein besonderes Recht zu haben, und war gekränkt, wenn ich nicht verstand. Mein Auto zuletzt. Wie wäre er dagestanden mit dem kleinen Käfer, den ich ihm als Ersatz und Geschenk vorgeschlagen hatte, wenn seine Mutter und seine Tante ihn besuchen kämen.
Ich glaube, ich habe viel verstanden, aber leben konnte ich es nicht. Weiß nicht, was er von mir verstanden hat.
Weiß es auch heut noch nicht…

21.2.2017

Die Skier stehen wieder im Stall und warten aufs Laufen. Wir können los, wenn wir wollen, wann wir wollen. Mit neuen Füßen, die scharren schon. Mach dir nix vor!
Heute bitte nicht mehr suchen. Ist so anstrengend, ermüdend, enttäuschend.
Und dabei immer das Gefühl und das Wissen, dass das Suchen weiter zunehmen wird. Und die Angst davor auch. Die Angst vor dem Vergessen ist genauso schlimm wie das Vergessen selbst.

22.2.2017

Was soll das für ein Tag werden, den ich damit beginne, dass ich die Banane in den Kaffee schnibble? dass kann ja heiter werden.
Alles nochmal auf Anfang.

Schneeglöckchen sind über Nacht hervorgekommen. Wir gehen durch den Wald hinauf. Das Lot sinkt zehn Jahre tiefer. Bis Griechenland. Meine erste Reise allein. Getrennt, geschieden, umgezogen. Neues Auto: ein roter Fiat Panda mit Faltdach. Der Volvo, den ich von meiner Mutter zur Magisterprüfung bekommen hatte, war von meinem Noch-Mann auf dem Rückweg von seiner neuen Frau zum Totalschaden geworden. Ihm war nichts passiert.

Ich habe gelernt, allein zu reisen. Der Trauspruch galt nicht mehr: Wo du hingehst, da will ich auch hingehn.
Stattdessen: Die Welt ist weit und Rettung lauert überall (geklaut) Ich fing mit einem FIAT Panda noch einmal klein an.
Weil man in dem Panda die Rückbank umklappen und nach hinten legen konnte, hatte ich mit zurück gelegtem Vordersitz genügend Platz zum Schlafen. Fahren ohne Tagesziele, nur ein Ziel für alle Tage: Athen!
Auf dem Autoput über den Balkan, die schnellste Verbindung zwischen Deutschland und der Türkei, hatte ich das Gefühl, mindestens zehn Zentimeter gewachsen zu sein. Dann wäre ich 1,86. Und der Autoput die Sozialisation zu einer emanzipierten Mitteleuropäerin. Ich war fast 40.
Für die erste Tankfüllung in Jugoslawien musste ich viel bezahlen. Die Uhr muss schon bei 10 Litern gewesen sein, als sie zu laufen anfing. Ich hab’s ich als Eintrittsgeld verbucht, wie später noch öfter, wenn eine neue Währung kam. Als müsste ich für den Übertritt bezahlen, Bußgeld – an wen? Egal.
Was ich wirklich lernen musste, war, dass ich mir meinen Schlafplatz schon bei Tag aussuchen musste. Das lange Herumfahren im Dunkeln fand sein Ende, als ich eines Morgens aufstand – das Meer lag vor mir, wunderbar! – und sah, dass nach drei Metern die abschüssige Straße abbrach. Sie muss mal weggespült worden sein. Ein paar Meter tiefer ging es weiter, ohne Straße.
Oh. Jetzt durfte ich nichts mehr falsch machen. Handbremse ganz langsam lösen und Gas geben, nicht zu viel, nicht zu wenig. Und vor allem: die Luft anhalten. Mit atmen war da nichts mehr.
Als die Straße eben war, konnte ich stehen bleiben. Mich umschauen, wo ich gewesen war. Und wieder durchatmen.
In Athen habe ich dann mal mein Auto lange nicht wieder gefunden. Das passiert mir manchmal, wenn mir das Ankommen ganz selbstverständlich ist. So war es in Athen aber nicht, es war ein großes Staunen: ich – jetzt – hier. Und damit das wirklich war, musste ich loslaufen, die Stadt unter die Füße nehmen, gedankenlos. Dass ich mir die Straße oder markante Punkte nicht gemerkt hatte, fiel mir erst auf, als es zu spät war. Es gab noch lange keine Schlüssel, mit denen man sein Auto aufrufen kann, wenn man in seine Nähe kommt. Was sollte ich der Polizei sagen, wenn ich mein Auto nicht fand? Irgendwann muss ich davor gestanden sein.
Athen ging in Piräus zu Ende: auf der Fähre die Küste entlang mit Station in Dubrownik, wo man noch auf Marmor spazieren ging, vor dem großen Krieg. Dann weiter Im Scirocco über Hvar, Split, Rijeka bis Triest, dann hinauf zum Brenner in die Kälte. Plötzlich war ein T-Shirt gar nichts mehr. „Sie müssen krank sein“ meinte der Tankwart dort, als ich schlotternd sagte: „bei euch ist es aber kalt!“
Mein Auto war voll bis unters Dach mit Griechenland, Mitbringseln, Erinnerungen. Stolzes Auspacken, Verteilen.
Der Panda war gut, und wir gehörten jetzt zusammen.

Mein Auto war voll bis unters Dach mit Griechenland, Mitbringseln, Erinnerungen. Stolzes Auspacken, Verteilen. Der Panda war gut, und wir gehörten jetzt zusammen.

Von einer Tagung zu Kafkas hundertstem Geburtstag in Wien fuhr ich weiter nach Prag. Hatte wieder keine Lust, den Zeltplatz zu suchen, wusste aber nicht, was erlaubt oder verboten war, schlafen im Auto vielleicht.

Es zog mich zu der Brücke, die Kafka vor den Augen hatte, wenn er aus dem Fenster sah, als er Das Urteil schrieb, um Georg fallen zu lassen.

„Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!“
Georg fühlte sich aus dem Zimmer gejagt…
Aus dem Tor sprang er, über die Fahrbahn zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das Geländer fest, wie ein Hungriger die Nahrung. Er schwang sich über, als der ausgezeichnete Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war. Noch hielt er sich mit schwächer werdenden Händen fest, erspähte zwischen den Geländerstangen einen Autoomnibus, der mit Leichtigkeit seinen Fall übertönen würde, rief leise: „Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt“, und ließ sich hinabfallen.
In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.

Unter diese Brücke stellte ich mein Auto für die Nacht. Natürlich konnte ich erst mal gar nicht schlafen. Da klopfte es an das Fenster: zwei Männer in Uniform, Miliz. Fragen etwas, ich erkläre mit der Wange auf meinen Händen, dass ich nur schlafen will. Sie nicken, verbeugen sich mit der Hand an der Mütze, drehen sich um und gehen wieder. Und mir blieb das Gefühl: die passen jetzt auf mich auf.

Draußen bläst es durch die Bäume. Die Luft wird laut.


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de