13.-20.12.2017 – Wahloma

13.12.2017

Ich trinke meinen Kaffee am Fenster vor dem schwarzen Wald und schreibe vom Dunklen ins Helle. Aufs Papier. Noch kann ich das, was ich schreibe, nicht lesen, aber bald.
Mondlicht lag noch auf meinem Bett, als eine Sternschnuppe mich in den Tag geholt hat. Sie war nicht weit vom Mond entfernt – ein paar Millionen Jahre nur – und zog einen strahlenden Streifen in die hohe, alte Tanne.
Was ich gerade so vor mir sah, eignet sich gut für einen Wunsch. Unsere Begleiter stehen schützend um uns: das Kind ohne Namen, dessen Wahl­-Oma ich sein soll, seine Eltern und mich. Ich freue mich, mein Wahl-Enkelkind kennenzulernen.
Die „Wahloma“ – von meiner Großnichte dazu gemacht – wird gerufen, weil Hilfe gebraucht wird. Die beiden richtigen Omas haben schon viel geholfen, jetzt komme ich dran. Aber werde ich helfen können? Die Mutter sieht in jedem Tag nur Entscheidungen, die sie überfordern, in der Angst davor bleibt sie stecken. Da ist vor allem der Name, inzwischen stehen noch zwei zur Wahl. Es läuft immer so ab: Wenn für den einen entschieden werden soll, ist sofort vielleicht doch der andere der richtige.
Es kann das Richtige gar nicht geben.

Jetzt kann ich schon die Zeilen erkennen. Auf den Tag kann ich mich verlassen.
Um sieben Uhr einundzwanzig kommt der erste Vogel geflogen.
Die Sichel verbleicht.

14.12.2017

Jedes Mal wieder
musst du
in den Himmel springen
um über die nächste Latte
zu kommen

Gilt dieses Motto eigentlich noch immer, wie ich es einmal vom Stabhochsprung abgeschaut habe?
Oder soll ich mit 75 besser am Boden bleiben und aufpassen, dass ich da nicht hinfalle –

Es hat geschneit, gestürmt und geschüttelt, auch geblitzt. Ein Regensturm, bei dem der Hund auf der obersten Treppenstufe umkehrt.
Jetzt – zwei Stunden später – ist der Himmel wieder offen, nichts weiter als blau von Horizont zu Horizont.

Jetzt ist mir auch die Buchung bei der DB gelungen, mit der ich stundenlang gekämpft habe.
Ich bin ganz sicher, dass es nicht mein Fehler war. Alles rot Unterstrichene war richtig, und als es funktioniert hat, habe ich nichts anders gemacht.
Erst der Rechner, jetzt die DB. Vielleicht haben die sich ja auch zusammengetan. Gegen mich.
Denn der Rechner spinnt wirklich. Vorgestern musste ich ihn mit ungespeicherter Arbeit brutal ausschalten. Nur dieser Knopf hat noch reagiert, sonst gar nichts, keine Taste, kein Trackpad, nichts. Dann habe ich alles gemacht, was bei der letzten apple-Sitzung geholfen hat, und es hat funktioniert. Ich habe die Arbeit noch einmal gemacht. Das Backup war wieder ansprechbar, ich habe es angesprochen und ihn dann zufrieden zugeklappt. Hab mich gefreut über das Selber-Machen-Können.
Gestern mache ich ihn wieder auf, und finde das letzte Backup nicht. Dabei ist es eine unangenehme Arbeit gewesen, die ich zweimal gemacht habe: die vielen Fehler im konvertierten Mauretanien-Text.
Ich entschließe mich, den Text vom Papier abzuschreiben. Old school. So sagt man doch. Soll heißen, dass etwas so wie früher ist oder gemacht wird. Der Begriff ist dabei in der Regel positiv konnotiert – sagt mir Wikipedia.
Also tippen, einfach nur tippen. Der digitale Text ist spurlos aus allen Rechnern verschwunden.
Einen Termin mit einem leibhaftigen apple-Techniker habe ich morgen.

Wieder einmal habe ich mich gefragt, was es mit uns macht, wenn wir uns so einem unberechenbaren Rechner ausliefern. Womit findet man sich da ab? Aber ohne diese Abfindung, wenn ich tobe und schimpfe, komme ich gar nicht weiter.

20.12.2017

Ich hätte eine Hilfe sein sollen, wo nicht zu helfen ist. Dasein muss reichen.
Die Mama geht durch die Hölle. Angst, Panikattacken, die Gedanken laufen im Kreis, Verzweiflung. Jeden Tag und jede Nacht. Hermetisch verschlossen. Medikamente für alles. Fast bis zur Betäubung. Und da ist das Kind, das heute ein Vierteljahr alt wird.
Ich kann nichts weiter tun als da sein, wenn Alltägliches nötig ist. Und dann gehe ich wieder, verlasse diese Hölle, die ich gesehen und gespürt habe, und habe ein schlechtes Gewissen, weil ich das kann.
„Klinik“ taucht auf als Weg zu einer Hoffnung. Ich darf die Zeiten nicht verwechseln, es ist viel geschehen, seit einer über das Kuckucksnest flog. Was geblieben ist: auch heute wird niemand einen Rosengarten versprechen.

Ich komme wieder, wie ich abgefahren bin. Im Dunkeln und allein auf dem kleinen Bahnhof. Ich lasse Yalla von der Leine, sie rennt sofort zum Auto.
In der Nacht vor meiner Abfahrt konnte ich erst gar nicht schlafen, dann aber doch. Mein Zug soll um 6.16 abfahren. Ich stelle den Wecker im Handy auf 5.30, obwohl ich mich darauf verlassen kann, rechtzeitig aufzuwachen. Sicherheitshalber. Ich wache um 5.33 auf, es hat nicht geklingelt. Ich muss ihn falsch eingestellt haben. Macht nix. Den Kaffee trinke ich beim Anziehen, entschließe mich doch noch, den versteckten – wo eigentlich? – Laptop in den zu großen Koffer zu tun, den kleineren haben die Mäuse unbrauchbar gemacht.
Lege die externe Festplatte mit den Backups zwischen das Geschenkpapier in die Schublade. Schreibe Geschenkpapier auf einen Zettel, weil ich mich daran erinnere, eine versteckte Festplatte schon einmal tagelang gesucht zu haben. Auf den Zettel schreibe ich mit kräftiger, entschlossener Schrift Haare dazu. Mit Koffer und Hund zum Auto. Da ist eine Maus in die Falle gegangen, die muss ich noch „entsorgen“, damit die Falle frei ist, falls es noch eine Maus im Auto gibt, die sonst tagelang fressen und … würde. Dann wäre der Gestank kaum auszuhalten. Noch die beiden Tore abschließen und los. Was?!? 6.05?!? Aufs Gas. Der Feldweg wird zur Rennstrecke. Kurz vor dem Dorf reißt eine Frau ihren Hund zur Seite. Und das bei mir, die ich das Auto bei jedem Hund fast zum Stehen bringe. 6.14.  6.15. Ich stehe auf dem P&R Platz, als der Zug einfährt. Greife den Koffer, muss nur einen Graben überqueren, die erste Tür ist kaputt, ich soll die nächste nehmen, ruft der Zugführer aus seinem Fenster. Mach ich – wo ist der Hund? Yalla! Hier! Hier! Yalla! Ein Schatten zwischen den Autos. Ich schreie immer lauter Yalla! Hier! Es nützt nichts. Eine Frau ruft: Hier ist er! Das kommt aus der Richtung, wo mein Auto steht. Ich muss den Zug aufhalten, stelle meinen Koffer in die offene Tür und renne zum Auto, schnappe den Hund unter den Arm und zurück. Da will der Zugführer gerade den Koffer aus der Tür nehmen, er schimpft: 100 Leute! Der nächste Zug kommt in 15 Minuten! Ja – aber – ich muss dreimal umsteigen! Ich lasse mich auf einen Klappsitz fallen. Mein Hals tut weh vom Schreien. Ich denke: An dieser Verspätung ist die Bahn mal nicht schuld. Aber das wird ihr keiner glauben.
An der Verspätung, die mich drei Stunden später als geplant ankommen lässt, war sie es wieder. Der ICE fängt zwischen Göttingen und Hildesheim an zu ruckeln, einmal, nochmal, dann bleibt er auf freier Strecke stehen. Ein technisches Problem, das der Zugführer zu beheben versuchen wird, sagt eine Frauenstimme. Sagt es einmal und noch einmal und noch einmal. Nach einer Stunde: Der Zugführer wird versuchen, mit dem Zug nach Göttingen zurückzufahren. Da sieht man ihn schon vor den Fenstern entlanglaufen. Nach einer Weile bewegt sich der Zug ganz langsam dorthin zurück, wo wir hergekommen sind.

Bei der Rückfahrt hatte ich Herzklopfen bei jedem Umsteigen, aber nur beim dritten und letzten Mal gab es eine Verspätung. Ich musste nur noch unser Auto erreichen. Keine Maus in der Falle. Wir fahren heim.
Das Haus ist kalt, 6 Grad.
Da liegt der Zettel: Geschenkpapier. Haare. Aber warum Haare??? Mir fällt beim besten Willen nicht ein, was ich da gemeint habe. Wie war das: „Du musst aufschreiben, was du nicht vergessen willst!“
Ich füttere den Hund, esse Nüsse und trinke Rotwein im Stehen und gehe mit einer Wärmflasche ins Bett. Haare.


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de