Leserbriefe zur Rezension

Weltprozess nach dem Hiatus

Über Peter Sloterdijks „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne“

Von Roman Halfmann


Ingeborg Gollwitzer schrieb uns am 12.08.2014
Thema: Roman Halfmann: Weltprozess nach dem Hiatus

So könnte man wohl nahezu alle Schriften Sloterdijks überschreiben: "Achselzucken des Zyniker". Das ist es, was Sloterdijk seinen Lesern zumutet: Denn, was nützt es, wenn er was Richtiges denkt, oder gar, wie hier etwas Wichtiges feststellt, wenn die meisten es überhaupt nicht verstehen bzw. nachvollziehen können. Warum hängt er nicht, endlich menschenfreundlich geworden, am Ende seine Texte eine allgemein verständliche Zusammenfassung an.

Man sollte Bücher, die die Allgemeinheit dringend angehen und die aus purer Eitelkeit des Autors (fast) niemand verstehen kann, überhaupt nicht veröffentlichen.

Denn das Thema ist eines der wichtigste unserer Zeit: Es ist, als ginge ein Riss durch einen Erdteil und man könnte die Kommunikation nicht mehr herstellen - und das Auseinanderdriften hat obendrein eine unglaubliche, nie zuvor erreichte Geschwindigkeit.

Das alles wird noch insofern auf die Spitze getrieben, dass kaum jemand diesen Riss realisiert. Eigentlich müssten ja sonst wenigstens leichte Panik und Rettungsversuche aufkommen. Stattdessen lebt man einfach so weiter wie immer. Denn auch Sloterdijk hat ja in dieser Hinsicht nichts Ersprießliches anzubieten.

Ingeborg Gollwitzer


Bernd A. Laska schrieb uns am 15.08.2014
Thema: Roman Halfmann: Weltprozess nach dem Hiatus

Nachdem ich gut ein Dutzend Besprechungen des Buches gesehen habe, stelle ich an der vorstehenden von Halfmann eine bemerkenswerte Besonderheit fest: sie ist die bisher einzige, in der der Name Stirner fällt. Bemerkenswert ist dies, weil Stirner der Autor ist, mit dem sich Sloterdijk in diesem Buch am intensivsten befasst (452-470), der Autor, auf den er mit  vielerlei labyrinthischen Umwegen zusteuert, um ihn am Ende als den einzigen zum Thema einschlägigen Denker herauszustellen: Bereits bei Stirner, in dessen 1845 erschienenem Werk "Der Einzige und sein Eigentum", so Sloterdijk, "erreicht das schreckliche Kind der Neuzeit seine Reflexionsgestalt." (468) Halfmann geht auf diese zentrale These des Buches nicht ein. Deshalb mögen ein paar ergänzende Hinweise von Nutzen sein.

Was wurde aus dieser Reflexionsgestalt in den folgenden gut eineinhalb Jahrhunderten? Wurde sie als solche erkannt? Wurde sie weiterentwickelt? Sloterdijk hält sich da an ein Werk, dessen Autor beansprucht, die Rezeptionsgeschichte von Stirners "Einzigem" in Hinblick auf ihre Bedeutung für die Gegenwart dargestellt zu haben, auf rund 1000 Seiten: Alexander Stulpe, "Die Gesichter des Einzigen" (2010). Sloterdijk zitiert zustimmend, welche Gesichter, welche "Masken moderner Subjektivität" laut Stulpe dem "Einzigen", dem "schrecklichen Kind der Neuzeit", zur Auswahl standen und stehen: "Anarchist, Übermensch, Psychopath, Sozialist, Kleinbürger, Intellektueller, Faschist, Genie, Paranoiker, Bohemien, Satanist, Existentialist, Individualist, Terrorist, Mittelständler, Totalitarismus-Kritiker, Solipsist, Prophet, Nihilist, Metaphysiker." (469) Es gibt wohl noch weitere. Demokrat etwa? Eine Note fügt Sloterdijk hinzu: "Die Gutmenschenverspottung auf deutschem Boden beginnt im Herbst 1844." (469) Gehören also die Gutmenschen nicht zu den schrecklichen Kindern der Neuzeit?

Der Clou bei Stulpes Gewaltakt ist die Methode. Er arbeitet, da sich explizite Stirner-Anhänger historisch kaum finden lassen, fast ausschliesslich mit Hilfe der "Askription". Schon Friedrich Engels schob um 1890 den um die Gunst der Arbeiterschaft konkurrierenden Anarchisten den geächteten Stirner per Zuschreibung unter, mit Erfolg: allenthalben wird Stirner noch heute Anarchist genannt. Der Marxist Hans G. Helms erklärte dann 1966 ("Die Ideologie der anonymen Gesellschaft", 600 S.) ebenso unbelegt Stirner zum heimlichen Erzideologen von  Faschisten und Nationalsozialisten - und auch von deren Erben im damaligen Westdeutschland. Auch er hatte damit insofern  Erfolg, dass nicht wenige ihn ernst nehmen, darunter auch Sloterdijk (465f). Und 2010 askribiert Stulpe allen möglichen Figuren (s.o.) Stirnerianismus und stempelt den  grassierenden Pseudoindividualismus des Westens zu unbewusstem  Kryptostirnerianismus. Den Mangel an Belegen erklärt er so: "Stirner ist heute vergessen, weil der Einzige selbstverständlich geworden ist." (zit. 469 n.)

Sloterdijk nimmt nun bereitwillig an, dass Stulpe in seinem "breitangelegten Werk" diese "These" ausgiebig "entfaltet " hat. Doch diese These steht gegen alle ideenhistorische Evidenz. Das 20. Jahrhundert wurde nun mal, was Sloterdijk mit Stulpe völlig ausblendet, ganz offenkundig ideologisch nicht von Stirner geprägt, sondern von seinen massenwirksamen Intimfeinden Marx und Nietzsche. Die Pointe des Vorgehens von Sloterdijk liegt dann darin, dass er zwar intuitiv Stirner als Schlüsselfigur der "Neuzeit" resp. "Aufklärung" wahrgenommen, ihn aber zum säkularen Bösen, zu einer Art Fürst der Finsternis stilisiert hat. Anders interpretiert, böte Stirner jedoch den Schlüssel zum Verständnis des historischen Vorgangs, den Sloterdijk ins Visier nehmen wollte: die Selbstsabotage der Aufklärung, deren Resultat einem mit den "schrecklichen Kindern" ins Auge springt.