Radikaler Ausbruch aus der Zivilisation

„Wild“ von Nicolette Krebitz zeigt die verstörende Liebe einer Frau zu einem Wolf

Von Swenja LohrengelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swenja Lohrengel

Wenn eine junge Frau auf die Idee kommt, einen wildlebenden Wolf einzufangen, um ihn in ihrer Plattenbauwohnung zu halten, tut sich schnell der Verdacht auf, es handle sich hierbei um einen Fall von Geistesgestörtheit. Dass diese Frau zusätzlich auf abstruseste Weise ihre sexuellen Phantasien auf das Tier projiziert und dazu übergeht, selbst immer mehr zu verwildern, offenbart jedoch viel mehr als die irritierende und ganz persönliche Obsession einer Wahnsinnigen. Auf ebenso radikale wie reizvolle Weise zeigt Regisseurin Nicolette Krebitz in ihrem im Frühjahr 2016 erschienenen Film „Wild“, wie sich eine Frau aus den kontrollierten Zwängen der Zivilisation befreit, indem sie ihrer eigenen wilden Natur freien Lauf lässt – und inszeniert damit ein überraschendes und ungewöhnliches Werk, das bei genauerem Hinsehen jeglichen Klassifizierungs-Versuch sprengt.

Wer bestimmt eigentlich, was Liebe ist und was nicht? Im Falle der Hauptdarstellerin Ania (Lilith Stangenberg) kennt auch die Liebe zu einem Wolf keine Grenzen. Weder räumlich, noch emotional, und schon gar nicht – die Bilder sprechen eine schaurig deutliche Sprache – in sexueller Hinsicht. Schließlich ist er es, der sie erst wachrüttelt, ihre unzivilisatorische Seite zum Vorschein bringt, ihr zum Ende hin gar Essen macht, bedeutet: ihr eine Ratte fängt. Denn Ania ist zu Filmbeginn alles andere als trieb- und lustvoll. Wie betäubt nimmt sie die täglichen Aufgaben und Schikanen ihrer Arbeit in einer Kreativ-Agentur wahr. Dazu gehört insbesondere die respektlose und erniedrigende Behandlung vonseiten ihres Chefs (Georg Friedrich), der ihr als Zeichen immer dann einen Ball an die Glaswand klatscht, wenn sie ihm einen Kaffee bringen soll. Erst die zufällige Begegnung mit dem Wolf veranlasst Ania, zu rebellieren, gegen die gesellschaftlichen Normen und gegen sich selbst als gezähmte, systemimmanente Kreatur. Der zunehmende Verfall ihrer äußerlichen Erscheinung, die Vernachlässigung ihres Jobs und ihrer Pflichten und die sie einholende Verarmung sind Begleiterscheinungen, die für Ania kaum noch eine Rolle spielen. Sie verwandelt sich in eine verwahrloste Frau, die rohes Fleisch verspeist und anderer Leute Beute, sei es Geld oder Essen, klaut. Sie und der Wolf, auf engstem Raum in ihrer Plattenbauwohnung hausend, werden sich überhaupt immer ähnlicher. Ihren innersten Trieben folgend und ohne Rücksicht auf Verluste, nimmt sich Ania, was sie will. Als ihr Chef sie nur mäßig sexuell befriedigt, zeigt sie ihm gleich darauf, was sie von ihm hält – und brennt sein Büro nieder.

Wer bei „Wild“ zuerst mit einer romantischen Liebesgeschichte zwischen einem Mädchen und einem Wolf rechnet, wird ziemlich schnell wachgerüttelt von den kalten, teils drastischen Bildern. Sind die ersten Begegnungen mit Ania und dem Wolf noch von Kratzern, Bisswunden, diversen Prellungen und Platzwunden am Kopf gekennzeichnet, entwickelt sich ihre „Beziehung“ zunehmend zu einer abstrus-sexuellen Zwangsgemeinschaft, innerhalb der sich das Tier zurück in den Wald, Ania sich aber vor allem nach dem Wolf sehnt. Die raue, kompromisslose Sprache des Films wird von Lilith Stangenberg in bemerkenswerter Weise transportiert, und zwar ohne gewollte Übertreibung. Dass dies der Film auch gar nicht nötig hat, zeigen insbesondere einzelne kleine Szenen wie etwa die, als Ania in die Zoohandlung geht und zwei niedliche Kaninchen kauft, nur um sie anschließend eiskalt dem Wolf zu servieren.

Durchbrochen wird diese naturgegebene Härte wiederum durch einige, unweigerlich komische Situationen. So bereitet Ania sich und dem Wolf wie einem Liebespaar das obligatorische Frühstück mit Rührei, nachdem sie sich zuvor sexuell auf dem Treppengeländer ihres Hochhauses ausgelebt hat. Wie sich Ania jeglichen Konventionen entzieht, so tut es auch die Regisseurin Nicolette Krebitz selbst. Mit „Wild“ werden nicht nur stilistische und inhaltliche Rahmen überschritten, sondern auch Grenzen des guten Geschmacks ausgelotet. Und trotz des naheliegenden Verdachts, der Film würde ganz nach dem Buch „Women who run with the wolves“ von Clarissa Pinkola Estés den Archetypus der wilden Frau darstellen, ist „Wild“ mehr als ein bloßes Zeugnis der Verbundenheit zwischen einer Frau und einem Wolf. Gänzlich entromantisiert wird mit Ania keine jener „Wolfsfrauen“ nachgezeichnet, die die Kraft weiblicher Urinstinkte repräsentieren. Stattdessen zeigt Krebitz einen Menschen, der auf radikalste Weise dem folgt, was durch die Natur bestimmt ist, etwas, das für Frau und Mann gleichermaßen gilt. Damit gelingt es der Regisseurin auf großartige Weise, die sonst so symbolhaltige Frau-Wolf-Konstellation aufzubrechen und einen Film in die Kinos zu bringen, der noch lange im Gedächtnis haften bleibt.

Wild Starttermin: 14.04.2016
Länge: 97 min.
Regisseurin: Nicolette Krebitz
Schauspieler: Lilith Stangenberg, Georg Friedrich, Silke Bodenbender u.a.

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