Des Mörders betörender Duft

Patrick Süskinds erstaunlicher Roman „Das Parfum“ – Eine Rezension vom März 1985

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Vorbemerkung der Redaktion: Zum 70. Geburtstag von Patrick Süskind am 26. März 2019 erinnern wir hier mit einer erneuten Publikation an die Rezension, die Marcel Reich-Ranicki am 2. März 1985 über dessen dann bald weltweit verbreiteten Roman „Das Parfum“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichte. Weiter Hinweise dazu stehen unter dem Text. T.A. 

Also das gibt es immer noch oder schon wieder: einen deutschen Schriftsteller, der des Deutschen mächtig ist; einen zeitgenössischen Erzähler, der dennoch erzählen kann; einen Romancier, der uns nicht mit dem Spiegelbild seines Bauchnabels belästigt; einen jungen Autor, der trotzdem kein Langweiler ist.

Als ganz jung kann er, Patrick Süskind, allerdings nicht mehr gelten. Denn er wurde 1949 geboren – im Herzen des Bayernlandes, am Starnberger See. Merkwürdig: Früher, als alles auf Erden besser war, debütierten deutsche Schriftsteller im Alter zwischen zwanzig und fünfundzwanzig – Thomas Mann und Hauptmann, Heinrich Mann und Hermann Hesse, Schnitzler und Hofmannsthal. Als Böll und Andersch, Nossack und Arno Schmidt anfingen, da waren sie schon erheblich älter. Wir wussten, warum: Der Krieg hatte die Verspätung verschuldet, das „Dritte Reich“. Und heute? Obwohl allesamt natürlich nach 1945 geboren, sind unsere Anfänger beinahe ausnahmslos zwischen 30 und 40. Da ich für diese Verschiebung keine Gründe zu finden vermag, habe ich einige solide Kenner zu Rate gezogen – und bin so klug als wie zuvor. Ich weiß nur: Diese Startverschiebung ist mehr als merkwürdig, sie ist beunruhigend.

Auch Patrick Süskind gehört zu den Spätentwicklern. Er begann mit dem inzwischen nicht nur in der Bundesrepublik erfolgreichen Ein-Personen-Drama „Der Kontrabaß“, einem – das ist nicht beleidigend gemeint – kabarettistischen Stück mit Pfiff und Charme und mit leiser, gleichsam lächelnder Melancholie. Dreierlei wurde hier deutlich: Süskinds Humor, sein nahezu diebisches Vergnügen an der Sprache und seine keineswegs larmoyante und eher an Tschechow erinnernde Schwäche für die Benachteiligten und Zukurzgekommenen.

Ein wahrlich Zukurzgekommener, ein von der Natur auf schon grausame Weise Benachteiligter steht im Mittelpunkt auch seines Buches „Das Parfum“. So fängt es an: „Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche gehörte. Seine Geschichte soll hier erzählt werden.“ Das mag eine schlichte Eröffnung sein, aber sie deutet ein ästhetisches Programm an – ein unmissverständliches, ein vielleicht trotziges Bekenntnis zum traditionellen Erzählen. Tatsächlich schreibt Süskind, als hätte er nie Kafka gelesen und nie von Joyce gehört. Seine Vorbilder sind eher bei den Romanciers des 19. Jahrhunderts zu suchen, zumal den französischen von Balzac bis Victor Hugo. Einiges mag er auch, bewusst oder unbewusst, von Marcel Proust gelernt haben.

Sicher ist: Um die verschiedenartigen Mittel und Errungenschaften, um die ausgeklügelten Techniken und raffinierten Tricks der modernen Prosa kümmert sich dieser Autor nicht einen Pfifferling. Er verzichtet auf den inneren Monolog, den übrigens schon Schnitzler um 1900 in die deutsche Literatur eingeführt hat. Den Perspektivenwechsel, den schon Tolstoi kannte, braucht er nicht. Der Vorwurf, er spiele den allwissenden Erzähler und sei somit ein ganz altmodischer Kerl, scheint ihm herzlich gleichgültig. Er beginnt die Geschichte seines abstoßenden Helden mit dessen Geburt und schließt sie mit dessen Tod, er berichtet geradlinig und in chronologischer Reihenfolge, von Rückblenden will er nichts wissen, nie weicht er von seinem Thema ab. Schilderungen, die, wer will, als genüsslich beanstanden mag, fürchtet er so wenig wie kleine, freilich eher makabre Idyllen.

Ich sage nicht, dass man heutzutage so erzählen soll. Aber ich meine, dass man auch heute so erzählen darf – vorausgesetzt, dass man es kann. Und dass moderne Epik zwar nicht unbedingt gut, aber gute stets modern ist – oder es zumindest immer sein sollte. Was taugt die Prosa von Patrick Süskind?

Hier zunächst ein Stilbeispiel: „Es stanken die Straßen nach Mist, es stanken die Hinterhöfe nach Urin, es stanken die Treppenhäuser nach fauligem Holz und nach Rattendreck, die Küchen nach verdorbenem Kohl und Hammelfett; die ungelüfteten Stuben stanken nach muffigem Staub, die Schlafzimmer nach fettigen Laken, nach feuchten Federbetten und nach dem stechend süßen Duft der Nachttöpfe. Aus den Kaminen stank der Schwefel, aus den Gerbereien stanken die ätzenden Laugen, aus den Schlachthöfen stank das geronnene Blut. Die Menschen stanken nach Schweiß und nach ungewaschenen Kleidern … Es stanken die Flüsse, es stanken die Plätze, es stanken die Kirchen, es stank unter den Brücken und in den Palästen. Der Bauer stank wie der Priester, der Handwerksgeselle wie die Meistersfrau, es stank der gesamte Adel, ja sogar der König stank, wie ein Raubtier stank er, und die Königin wie eine alte Ziege, sommers wie winters.“

So beweist Süskind, dass er auch dem Gestank mit schönen, geradezu eleganten Sätzen gerecht werden kann. Er hat einen ausgeprägten Sinn für den Rhythmus der Sprache, den er oft mit insistierenden und doch nicht störenden Wortwiederholungen erreicht und der weder hämmernd noch stampfend wirkt und gleichwohl unüberhörbar ist. Seine Sätze sind niemals schwerfällig, auch wo sie sich zu langen Perioden auswachsen, bleiben sie makellos durchsichtig. Süskinds Diktion ist geschmeidig und anmutig und dennoch genau: Der verführerische Wohlklang vieler Seiten seines Buches geht nicht auf Kosten der Deutlichkeit des Ausdrucks. Die einnehmende Musikalität dieser Prosa lässt vermuten, dass von allen Sinnesorganen ihres Autors das Ohr am besten entwickelt ist.

Der Mann, dessen erschreckenden Lebensweg der Roman „Das Parfum“ vor uns ausbreitet, verfügt über Fähigkeiten, die er ebenfalls einem einzigen, freilich außerordentlichen Sinnesorgan verdankt: der Nase. Es handelt sich um Jean-Baptiste Grenouille, der im Jahre 1738 inmitten von Paris, „am allerstinkendsten Ort des gesamten Königreichs“, zur Welt kam – nämlich auf einem Markt, wo sich der Gestank der verfaulenden Fische mit dem Leichengeruch vom benachbarten Friedhof vermischte.

Dieser Grenouille, ein ungewöhnlich hässliches Geschöpf, eine Missgeburt sondergleichen, lässt an andere widerliche Individuen denken, an Scheusale, die sich schwerlich vergessen lassen – an Quasimodo etwa, jenes abstoßende Findelkind, das in Victor Hugos Roman zum Glöckner von Notre Dame aufsteigt, oder gar an den Herzog von Gloster, den nachmaligen König Richard III., den die Natur so entstellt hat, dass Hunde bellten, wo er vorbeihinkte. Was blieb dem Unglücklichen anderes übrig, als ein Bösewicht zu werden und sich an der Welt zu rächen?

Grenouille will sich ebenfalls rächen, aber vorerst auf ungleich harmlosere Weise als das Shakespeare’sche Ungeheuer. Er, der Held Süskinds, der selber nach gar nichts riecht, indes, mit einer exquisiten Nase begnadet, alles riechend aufnimmt, und der nicht glauben kann, was sich nicht riechen lässt – er strebt, sage und schreibe, eine Revolution an. Doch was der Gedemütigte, der aus dem Gestank Kommende, revolutionieren möchte, ist vorerst nur die Welt der Düfte.

So rücksichtslos wie einsam geht Grenouille, der Besessene, seinen Weg zum Erfolg und zum spektakulären Triumph. Er kann Liebe weder empfinden noch wecken, er hat weder Freunde noch Partner. Und Süskind ist konsequent genug, auf eine Gegenfigur zu verzichten: Nur Chargen tauchen in der Umgebung des Unmenschen auf – diese indes, eine robuste Amme, ein kahlköpfiger Pater, ein strenger Gerbermeister, ein talentloser Parfumeur, sind mit wenigen sicheren Strichen glänzend gezeichnet, sie erinnern hier und da an die unheimlichen Figuren E. T. A. Hoffmanns.

Auch den meist düsteren Hintergrund, das Paris des 18. Jahrhunderts, hat Süskind mit zärtlicher Akkuratesse und nicht ohne Grimm und Ironie entworfen. Trifft dieses Bild zu? Und woher stammt des Dichters Wissen? Was hat er historischen oder literarischen Quellen entnommen, was hingegen haben wir seiner Phantasie zu verdanken? Ich kann dies alles nicht beurteilen, und es scheinen mir auch recht unwichtige Fragen. Denn dieser Autor kann beglaubigen, was er zeigen will; mit Hilfe seiner überaus sinnlichen Prosa bietet er uns eine Darstellung von erfreulicher und bisweilen bewundernswerter Anschaulichkeit.

Aber des Lebens ungemischte Freude wird uns Lesern der zeitgenössischen deutschen Romane nur sehr selten zuteil. Wer die erste Hälfte dieses Buches geradezu mit roten Backen zur Kenntnis genommen hat, der muss später einige Enttäuschungen in Kauf nehmen. Nachdem Grenouille eine Unzahl herrlicher Parfums produziert und seinem geizigen Arbeitgeber zu Geld und Ruhm verholfen hat, erfährt er, dass in der Stadt Grasse ein geheimnisvolles Verfahren zur Gewinnung feinster Blumendüfte erfunden wurde – und er kehrt bald Paris den Rücken. Dies aber war keine glückliche Entscheidung des Autors Süskind. Denn kaum hat sein Held Frankreichs Hauptstadt verlassen, da schwinden mit der Unmittelbarkeit und Suggestivität des Romans auch dessen Schlüssigkeit und Überzeugungskraft.

Grenouilles Erlebnisse und Abenteuer werden immer phantastischer, doch leiden die überreichlich offerierten Bilder und Symbole nun an einer gewissen Beliebigkeit. Es fällt auch auf, dass der ausgezeichnete Stilist sich jetzt Beschreibungen leistet, die nicht eben von drakonischer Selbstkontrolle zeugen: „Sein Herz war ein purpurnes Schloß. Es lag in einer steinernen Wüste, getarnt hinter Dünen, umgeben von einer Oase aus Sumpf und hinter sieben steinernen Mauern. Es war nur im Flug zu erreichen. Es besaß tausend Kammern und tausend Keller und tausend feine Salons.“ Da runzeln wir nachdenklich die Stirn und gehen etwas verwundert zur Tagesordnung über.

In dieser zweiten Hälfte mutet Süskinds Prosa ein wenig epigonal an. Aber wen ahmt er nach? Keinen anderen als sich selber. Er wiederholt sich. Und warum, ist ihm etwa die Puste ausgegangen? Ich glaube, es gibt da noch einen anderen, vielleicht triftigeren Grund. Die Biographie des Mannes mit der einzigartigen Witterung ist zwar von Anfang an als Gleichnis angelegt, doch sind die parabolischen Elemente vorerst noch dezent: Es triumphiert immer wieder das artistische Temperament eines Erzählers, dem es Spaß macht, den Lesern allerlei vorzuflunkern und sie damit vorzüglich zu unterhalten. Nachher hingegen ist es umgekehrt, Süskind bemüht sich jetzt in wachsendem Maße um den gleichnishaften Charakter seiner Geschichte. Dieser wird tatsächlich immer deutlicher – und leider auch immer aufdringlicher. So paradox dies auch anmuten mag: Wo er dem Spieltrieb nachgibt, da gerade hat seine Prosa Gewicht, wo er aber um den tieferen Sinn seines Buches besorgt ist, da wird es oberflächlicher und auch artifizieller.

Und worin besteht dieser tiefere Sinn? Der Epiker hat das Recht, die Beantwortung einer derart plumpen Frage zu verweigern, der Kritiker darf nicht kneifen. Die Sehnsucht nach dem Absoluten, ihre Ursachen und ihre Folgen – so ließe sich mit dürren Worten das Muster des farbenprächtigen Teppichs andeuten, den Süskind vor und für uns aufrollt. Dem Monster Grenouille genügen nicht die aparten Parfums, mit denen er Paris beglückt hat. Er ist auf der Suche nach einem Duft, mit dem er die Menschen betören und betäuben könnte. Sie sollen ihn nicht nur als ihresgleichen akzeptieren, ihn vielmehr „lieben bis zum Wahnsinn, bis zur Selbstaufgabe, zittern vor Entzücken sollten sie, schreien, weinen vor Wonne, ohne zu wissen, warum …“

Er tötet unschuldige Mädchen, um sich deren Duft anzueignen, und stellt aus ihm das Parfum her, „das vor den Menschen beliebt macht“. Schließlich wird er gefasst und zum Tode verurteilt. Doch als er auf dem überfüllten Hinrichtungsplatz erscheint, da geschieht ein Wunder: „Den Nonnen erschien er als der Heiland in Person, den Satansgläubigen als strahlender Herr der Finsternis, den Aufgeklärten als das Höchste Wesen, den jungen Mädchen als ein Märchenprinz, den Männern als ein ideales Abbild ihrer selbst. Und alle fühlten sie sich von ihm an ihrer empfindlichsten Stelle erkannt und gepackt, er hatte sie im erotischen Zentrum getroffen.“ Die geplante Hinrichtung artet zu einem gigantischen Bacchanal aus: Der Massenmörder „hatte sich eine Aura geschaffen, strahlender und wirkungsvoller, als sie je ein Mensch vor ihm besaß … Ein Wink von ihm, und alle würden ihrem Gott abschwören und ihn, den Großen Grenouille, anbeten.“

Dass man viel Energie benötigt, um einen Roman zu Ende zu schreiben, dass irgendwo in der zweiten Hälfte der Autor der Sache satt ist und schon etwas ganz anderes machen möchte – Thomas Mann hat mehrfach darüber geklagt. Auch dem Anfänger Süskind blieb diese Erfahrung offensichtlich nicht erspart: Immer neue und häufig an den Haaren herbeigezogene Motive sollten ihm aus der Not helfen. Doch gegen Ende des „Parfums“ ist ihm in jener Szene, in der die Sensationssüchtigen vom plötzlich wohlduftenden Grenouille nichts wahrnehmen „als seine angemaßte Aura“, eine Apotheose von mythologischem Rang gelungen, eine grandiose Darstellung des Massenwahns, der Verführbarkeit der Menschen; genauer: der kaum zu begreifenden Wirkung eines widerlichen und verabscheuungswürdigen Verbrechers auf ein zivilisiertes Volk inmitten Europas. Muss man sagen, welches Ungeheuer Patrick Süskind meint, auf welches Volk sein Gleichnis vor allem abzielt?

Jedenfalls ist es schön, endlich einmal feststellen zu können: Unsere Literatur hat ein Talent mehr – und ein erstaunliches obendrein. 

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension ist zuerst erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. März 1985, Bilder und Zeiten. S. 5 (zu Patrick Süskind: Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Diogenes Verlag, Zürich 1985). Der Roman war ab dem 16. Oktober 1984 in dieser Zeitung in Fortsetzungen vorabgedruckt worden und fand schon da eine außergewöhnliche Resonanz – bevor er dann zu einem weltweit verbreiteten Best- und Dauerseller (und auch verfilmt) wurde. Reich-Ranicki hat sich später wiederholt über Süskind geäußert, u.a. 2006 in der Serie „Fragen Sie Reich-Ranicki“. Seine Rezension wurde zuletzt nachgedruckt in Marcel Reich-Ranicki: Meine Geschichte der deutschen Literatur. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Thomas Anz. Deutsche Verlagsanstalt, München 2014. S. 541-547. Die erneute Veröffentlichung in literaturkritik.de erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Carla Ranicki.