Kein gutes Ende
Zur Neuauflage einer Sammlung von Geschichten von Hermann Peter Piwitt
Von Jörn Münkner
Die auf dem Buchumschlag als „Miniaturen“ bezeichneten 38 Geschichten von Hermann Peter Piwitt müssen sich verkaufen. Sonst hätte sie der Wallstein Verlag nach der Erstauflage 1998 kein zweites Mal herausgebracht. Womöglich steckt auch anderes Kalkül hinter der Entscheidung. Eingängig sind die zumeist kurzen Texte nicht gerade. Zwar wird ohne Umschweife loserzählt, doch worin genau das Anliegen besteht und was die Texte in eine Episodenreihe stellt, ist nicht so leicht zu sagen. Sollte ein Farbton den Lektüreeindruck anzeigen, wäre er grau. Ein ermatteter, zum Teil frustrierter, aber auch unbestechlicher Erzähler beobachtet und beschreibt Szenen aus einer Welt, der nicht viel abzugewinnen ist.
Da wären, um Merkmale des Buches zu benennen, die in Großbuchstaben gesetzten Einzelwörter und Nominalphrasen, die den Miniaturen Quasi-Überschriften verpassen. Thematisch unternimmt der Band so etwas wie eine Bestandsaufnahme des wiedervereinigten Deutschland nach 1989 − mit den Eindrücken und Erfahrungen aus der ersten Post-Wende-Dekade (vgl. Datum Erstauflage). Ein eigentümlicher Reisender liefert als Ich- oder Er-Erzähler Berichte aus unterschiedlichen Regionen des so bezeichneten „Territoriums“, inklusive seines „erweiterten“ Teils mit der „neuen Hauptstadt“. Aber auch aus Fernost, wohin ihn die Einladung einer asiatischen Universität verschlägt, ohne dass er den Flughafen verlassen wird. Ganz am Anfang der Episodenreihe schaut der hier namenlose 60-jährige Erzähler zurück in seine eigene Kindheit. Seine Erinnerung hängt sich dabei an Ditschi, „ein schlaksiger Junge mit einer brillantinegestärkten Schmachtlocke auf der Stirn“, der an einem Frühlingsmorgen 1945 am Rand einer Wiese auftauchte, auf der sie Fußball spielten. Aus Ditschi wird später ein Fußballstar, Ehrenbürger der Stadt und Besitzer mehrerer Mietshäuser, der Mietschulden auch persönlich eintreibt, wobei nicht verraten wird, wie er es anstellt, dass sich die Betroffenen nach seinem Besuch sogar geschmeichelt fühlen. Viele Jahre sind seitdem vergangen, Ditschi lebt schon nicht mehr, der Erzähler sitzt mittlerweile öfter auf einer Grünfläche in der Stadt, wo man Ditschis mit einer Inschrift gedenkt. Bei Gesprächen mit Passanten geht ihm durch den Kopf, ob „junge Frauen mit noch ganz anderen Ruinen rumrappeln“ und „was wohl Ditschi zu all dem sagen würde.“ Derart binnenkausal lose geknüpft und vage bis gar nicht an andere Episoden anschließend, sind die meisten Geschichten gestaltet, die sich aber sämtlich durch Lakonie und treffsichere Beschreibungen auszeichnen.
Im Spektrum der Überschriften dominieren „GESCHLOSSENE GESELLSCHAFT“, „FREIBAD“, „VOM REISENDEN“ und „SÜDLICH DES TERRITORIUMS“. Einsprengsel mit putzigen Titeln wie „DIE SCHÖNE DROGISTIN“, „PITIPITIPITI“, „MJAM MJAM“ oder „STIEFEL“ artikulieren zum einen die Diskrepanz zwischen einer weiblichen erotischen Ausstrahlung und der alltagsgebundenen Erdung schöner Frauen; zum anderen ringen sie mit dem Dilemma der Unerreichbarkeit von in Aussicht gestellter Geilheit für den alternden Beobachter. Mehrmals geht es ins „FREIBAD“, wo die Besucher taxiert und ein kleines Panorama der Freibadgänger und deren Kultur gezeichnet wird. In den Fahrten durch das neue Deutschland ohne geografische Nomenklatur gibt der „REISENDE“ Einblick in das, was sich in dem „Territorium“ abspielt, mal in den Gegenden „südlich davon“, mal im „erweiterten Teil“ beziehungsweise in den „einverleibten Terrains“, mal auch in einer der Wohnungen, „wo Künstler und andere kleine Leute hartnäckig darauf bestanden, man könne, grade so wie der Hochadel, sich wohl fühlen auch zwischen Möbeln und Inventar, in denen schon die Großeltern sich wohlfühlten.“ Wenn der anfangs erwähnte Erzähler für alle Geschichten verantwortlich ist, dann schlüpft er also in verschiedene Rollen und ist außer als Reisender auch als Musikkritiker, Schriftsteller, Dokumentarist, Beamter, Gärtner oder eben Freibadgänger unterwegs.
Es braucht Einlesezeit, um mit den Texten zurechtzukommen. Ihre Herausforderung, so kann man vielleicht sagen, besteht in ihrem acquired taste: Den muss sich aneignen, wer das Erzählte wertschätzen will. Die Erkundung der Post-Wende-Wirklichkeit ist bedrückend. Der Reisende hat sich in eine Randzone begeben, von wo aus er registriert, was im wiedervereinigten Deutschland passiert: „Jeder ist beschreibbar nur nach seiner Funktion im einzigen Prozess, der noch Geschichte macht: dem Kapitalfluss.“ Der Tenor ist eine Desillusionierung angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung nach 1989, in der die Menschen manipuliert sind und in (selbstverschuldeter?) Unfreiheit festgesetzt werden:
Die Erde ist flach. Darüber schließt sich eine Glocke. Wie in mittelalterlichen Domen ist ihre Wölbung innen ausgestattet mit Trost-, Erbauungs- und Andachtsbildern, Idolen und Legenden, über die der Internierte erfährt, wie er sich zu verhalten hat. Die Freiheit, mittels hochmoderner technischer Geräte sich entsprechende Zusatz-Informationen zu verschaffen, ist grenzenlos. […] Wer Geld hat, kommt zwar noch überall hin, aber nicht mehr raus. Und auch das Verlangen, rauszukommen, ist beigelegt.
Was für Aussichten! Zehn Jahre nach 1989, so Piwitts Einschätzung, ist die Möglichkeit auf die Verwirklichung einer alternativen, nicht-kapitalistischen Welt endgültig gestorben. Im Jahr 2018 hat diese Szene sicherlich Gültigkeit, womöglich mehr als zuvor. Zum Glück aber regt sich wieder beziehungsweise immer noch Widerstand gegen die Diktatur des Geldes und des Wirtschaftswachstums. Das „Verlangen, rauszukommen“, nimmt zu.
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