Kein Prophet
George Orwell sagt wenig „Über Nationalismus“
Von Arne Koltermann
„Patriotismus ist von Natur aus defensiv, militärisch wie kulturell. Der Nationalismus hingegen ist untrennbar mit dem Streben nach Macht verbunden.“ Die Aufteilung der beiden Ismen, die George Orwell 1945 vornahm, ist nach wie vor populär: Hier die unverfängliche Liebe zur eigenen Nation, dort die aggressive Unterwerfung des Fremden. Es gilt aber zu bedenken, dass Orwell sich in seinem Essay Über Nationalismus nur am Rande mit Nationen im herkömmlichen Verständnis beschäftigt. Er arbeitet sich an von ihm als verblendet ausgemachten Geisteshaltungen und Denksystemen ab. Nationalismus ist bei Orwell „die Annahme, dass sich Menschen wie Insekten klassifizieren lassen“, die Identifikation mit einer „Einheit“ und deren Verortung jenseits von Gut und Böse – „keine andere Pflicht anzuerkennen als die, deren Interessen zu befördern.“ Unter dem Klappentext der bei dtv erschienenen Übersetzung von Andreas Wirthensohn ist ein Zitat des Schriftstellers Michael Köhlmeier abgedruckt: „Die Liebe vom Menschen auf die Nation umzulenken, ist ein übler Trick. Orwell hat das früh durchschaut.“ Nur dass es im Essay um eine andere Form von Nation geht.
Heute könnte man Über Nationalismus als Ideologiekritik bezeichnen. Orwell geht auf den kaum vierzig Seiten auf unterschiedlichste Phänomene ein, zwischen denen er erstaunliche Parallelen zu erkennen meint. Politischer Katholizismus reiht sich neben Trotzkismus, Pazifismus und Anglophobie. Jene steht dem Autor für negativen Nationalismus, der sich ausschließlich aus der Gegnerschaft zu etwas anderem definiert. Charakteristisch sind für Orwell drei Merkmale: Obsession, Instabilität und Gleichgültigkeit gegenüber der Realität.
Seit Farm der Tiere und 1984 steht der Name des 1950 verstorbenen Orwell sinnbildlich für Repression und totale Überwachung. Von 1984 entlehnte Begriffe wie „Gedankenpolizei“ „Wahrheitsministerium“ und „Großer Bruder“ sind ins Vokabular der politischen Sprache eingegangen. Der meistgelesene englische Autor des 20. Jahrhunderts gilt weltanschauungsübergreifend als moralische Instanz. Wer seine Bonmots bemüht, tut dies gern – in letzter Zeit vermehrt von rechts – um vor einer Drift in die angeblich bevorstehende totalitäre Gesellschaft zu warnen. Einer Welt, in der niemand mehr sagen darf, was er möchte. Mit Orwell kann man anscheinend nichts falsch machen: Anders als die meisten anderen seiner Kollegen zeigte er gegenüber drei großen Ismen seiner Zeit (Faschismus, Stalinismus, Imperialismus) eine bis heute vorzeigbare Haltung, wie Christopher Hitchens in seinem lesenswerten Buch Why Orwell Matters festgestellt hat.
Diese anhaltende Autorität George Orwells mag den Nationalismus im Titel tragenden Essay kurz nach dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union Aktualität verleihen. Für den Soziologen Armin Nassehi im Nachwort Anlass genug für die unvermeidliche Frage: Was würde Orwell zum Brexit sagen? Der englische oder britische Nationalismus findet bei Orwell 1945 aber kaum Erwähnung. Der Mann, der die Zeit als Kolonialbeamter hasste, war auch nach konventionellen Maßstäben sicher kein Nationalist. Doch Großbritannien hatte gerade, gemeinsam mit seinen Alliierten, den Krieg gewonnen. Es stand wirtschaftlich am Boden. Es war für Orwell nicht die Zeit, sich kritisch ausgerechnet mit Großbritannien zu beschäftigen. Er trat 1947 für die europäische Einigung ein – wie er bewertet hätte, was daraus wurde, ist naturgemäß unklar.
Bei der Analyse der angeblichen Nationalismen arbeitet er viel mit dem Motiv der Übertragung. Hier ist nicht ganz klar, ob er sich am psychoanalytischen Gebrauch des Wortes im Sinne von Freud orientiert. Es fügt sich aber in die Methode des Autors, seinen Gegenstand als pathologisch zu bestimmen. Orwell erspart sich so die Mühe, inhaltliche Parallelen zwischen den Phänomenen herauszuarbeiten. Jedenfalls hilft ihm der Begriff der Übertragung, geschmeidig zwischen Denksystemen hin und her zu manövrieren. Nationalismus löst sich dadurch von politischen Haltungen und befällt denkfaule und fanatische Menschen; ein Konvolut von Charakterschwächen. Vulgär, töricht, bösartig, verlogen – unter solchen Kraftausdrücken macht es Orwell in seiner Polemik ungern. Trotzdem verwundert es dann doch, welche verbalen Salven er gegen den toten Gilbert Keith Chesterton abfeuert, in dessen G.K.s Weekly der noch unter seinem bürgerlichen Namen Eric Blair auftretende Orwell 1927 seinen ersten englischen Artikel publiziert hatte. Bei Chestertons Schlachtgedicht Lepanto handle es sich „womöglich um die geschmacklosesten Schwulstbrocken, die sich in unserer Sprache finden“. Man fragt sich, ob den Autor in seiner Rage gegen Chesterton mit dessen Faible für das katholische Frankreich nicht selbst ein wenig englischer Nationalismus übermannt hat.
Nassehi vergleicht den Text mit dem Essay Wie man einen Elefanten erschießt. Darin beschreibt Orwell, wie er als Kolonialbeamter in Burma einmal unter dem Druck einer aufgebrachten Menschenmenge einen wildgewordenen Elefanten erschießt. Alles in ihm widerstrebt sich, bis er schließlich keinen Ausweg mehr sieht, um nicht sein Gesicht zu verlieren. Orwell ist hier Teil der Geschichte, reflektiert sich und die Dynamik, der er unterliegt. In Über Nationalismus schulmeistert und maßregelt er aus einer gleichsam göttlichen Position. Das Erscheinen des Textes fügt sich in die Veröffentlichungspraxis der Verlage, schmale Aufsätze verstorbener Intellektueller des 20. Jahrhunderts als scheinbar zeitlose Kommentare aktueller Politik zu verkaufen. Das bedient die ebenso beruhigende wie ernüchternde Erwartung, es in der Geschichte mit Variationen konstanter Übel zu tun zu haben. Bekannte Beispiele vergangener Jahre sind Hannah Arendts Wir Flüchtlinge und Theodor W. Adornos Vortrag Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. In der Öffentlichkeit werden diese dann gern mit Kommentaren garniert, dieser oder jene habe etwas „schon früh durchschaut“, oder manche Diagnose sei „erschreckend aktuell“. Wenn das nur alles so einfach wäre.
Es muss nicht gegen ein Buch sprechen, wenn sein Titel nicht einlöst, was man sich von ihm verspricht. Die heutige Rezeption von Über Nationalismus führt aber unweigerlich ins Missverständnis. Die meisten der von George Orwell mehr beschimpften als untersuchten Phänomene kommen uns heute als erledigte Fälle vor. Es fragt sich auch, ob die Grenzlinien von Patriotismus und Nationalismus nicht deutlich fließender sind als vom Autor unterstellt. Der Romancier Orwell hat neben Sozialreportagen auch bemerkenswerte politische Essays geschrieben – über Gandhi, Burma oder den Spanischen Bürgerkrieg. Die Polemik Über Nationalismus gehört nicht dazu. Sie erzählt einiges über die zahlreichen politischen Strömungen, welche sich kurz nach Kriegsende befehdeten, trägt aber wenig zum Verständnis des Nationalismus bei.
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