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Leseprobe 2
An einer Leine, die quer über den Platz gespannt war, hingen Hefebrezeln mit Hagelzucker drauf. Ein Mann mit einem dicken schwarzen Pullover mit Lederflicken darauf stand vor einem Ofen, auf dessen Platte er Maronen backte. Neben sich hatte er eine Holzkarre abgestellt vermutlich der Transporter des Ofens. Ich blieb stehen, nahm das Aroma aus Feuer und Maronen in mich auf und wusste nicht so recht, was ich anfangen sollte. Da kam ein Junge auf mich zu. Er war mindestens einen Kopf größer als ich und mindestens genauso dünn. Ich erschrak, weil er mich ansah, und wollte mich gerade umdrehen und einfach zurück in das Haus des Schusters gehen. Da stand er plötzlich vor mir.
Du bist wohl nicht von hier? Er schaute mich immer noch an und ich blieb verdattert stehen. Meinte er wirklich mich? Seine dunklen Haare fielen ihm in die Stirn. Er fuhr mit der Hand hindurch, sodass sein Gesicht wieder frei war.
Komm mit und probier doch die leckeren Sachen. Heute ist Nikolaus. Ist für alle genug da.
Es brauchte einige Zeit, bis ich begriff, dass er wirklich nur mich meinen konnte. Ich fühlte, dass ich erstens rot wurde zum Glück war es dunkel! und zweitens, dass jetzt ich mit Sprechen an der Reihe war. Ehe ich etwas herausbrachte griff der Junge meinen Arm und zog mich hinter sich her.
Womit fangen wir an? Maroni? Brezel? Oder lieber Honigkuchenpferd? Er sah mich an. Zu empfehlen sind auch die Lebkuchenmännchen. Lebkuchenherzen gibt es natürlich auch. Er lächelte und zeigte auf einen Stand am anderen Ende des Platzes.
Ich weiß nicht, sagte ich dämlich und ärgerte mich sofort über diesen doofen Satz. Warum sagte ich so ein peinliches Zeug? Typisch! Ich drückte meinen Rücken gerade, das hatte ich im Ballettunterricht gelernt, und nahm neuen Anlauf: Ich hätte gerne ein paar Maronen.
Dann komm mal mit. Ich möchte nämlich auch welche, sagte der Junge. Wir steuerten den Ofen an, auf dem die Maronen lagen.
Wie viele möchtet ihr?, fragte der Maronimann und blickte uns so freundlich an, dass ich für einen Moment meine Beklemmungen vergaß. Er war ein groß gewachsener junger Mann, der den Eindruck machte, als wäre Maronen Verkaufen seine große Leidenschaft. Nicht nur sein Pullover sah aus wie eine Patchworkarbeit, auch seine zu weite Hose war an allen Ecken und Enden geflickt. Ich schob die Ärmel bis zu den Handgelenken hoch und hielt meine eiskalten Hände nahe an den Ofen.
Ich denke, wir fangen erst einmal mit zehn Stück an. Für jeden, bitte, antwortete der Junge. Wir erhielten jeder eine Tüte mit den abgezählten Maronen.
Guten Appetit, wünschte der nette Verkäufer noch, und dann wandte er sich anderen Kunden zu. Jetzt konnte man auch einen Blick auf seine abgetragenen Stiefel werfen. Meine angewärmten Finger waren wenigstens nicht mehr ganz so steif und zumindest in der Lage, die Tüte festzuhalten.
Während wir über den Platz schlenderten, schälten wir eine Marone nach der anderen. Fragen zu stellen traute ich mich nicht, obwohl ich davon reichlich hatte. Zum Beispiel die, warum wir nichts bezahlen mussten.
Ich heiße Kai und du?, fragte der Junge kauend, was ihn weder am Sprechen noch am Lächeln hinderte. Sein Pullover mit den ledernen Ärmelschonern war eine Art Troyer, wie ihn die Seeleute tragen. Zusammen mit der schwarzen abgetragenen Hose und den hohen Boots, die ebenfalls einen abgenutzten Eindruck machten, sah er
Ich dachte nach und mir fiel das Wort verwegen ein. Ja, er sah verwegen aus. Eigentlich ähnlich wie der Maronimann. Hatten sie hier keine neuen Sachen anzuziehen?
Ich fühlte mich dabei ertappt, wie ich ihn von oben bis unten und wieder zurück musterte. Er tat in dem Moment dasselbe mit mir. Rasch sah ich zur Seite.
Ich heiße Lu.
Lu? Den Namen habe ich noch nie gehört.
Darauf fiel mir nichts Passendes ein.
Klingt aber gut, sagte er, als wolle er sich für den vorigen Satz entschuldigen.
Bald waren die Esskastanien alle.
Gehen wir zu Lebkuchenmännchen über? Oder was meinst du?
Nichts dagegen, brachte ich hervor.
Sehr gut. Ich auch nicht. Und was ist mit Holunderapfelglühpunsch? Der Junge blickte mich forschend an. Wird einem superwarm von.
Warm das kann ich echt brauchen. Wegen der Kälte hatte ich meine Arme um meine Brust geschlungen.
Na dann komm!Er nahm mich an der Schulter.
Nach einem Glas Punsch wurde mir nicht nur warm, sondern mein Schockzustand begann sich zu lockern. Als ich nach oben blickte, sah ich in einen grandiosen Sternenhimmel. Nach dem zweiten Glas traute ich mich endlich, zu fragen, was es mit dem Dorf auf sich hatte. Ich erzählte Kai, dass ich krank gewesen sei und ein Winterdorf gebastelt hätte, das mir meine Patentante geschickt habe.
Nun bin ich die zweite Nacht hier und eigentlich begreife ich nicht, wie
. also, wie
Weiter kam ich nicht. Ich war schon wieder völlig durcheinander.
Der Junge sah mir ins Gesicht und lächelte. Dabei entstanden rechts und links Grübchen auf seinen Wangen.
Da setzte ich doch noch mal an: Aber es ist wunderschön hier.
Sagt jeder!
Nur weiß ich nicht, ob ich spinne oder vielleicht krank bin. Reif für die Anstalt.
Welche Anstalt? Er sah mich groß an. Begriff er etwa nicht, was ich meinte?
Ich habe Angst, dass ich verrückt bin.
Ach so. Er lachte auf, wurde aber gleich wieder ernst. Wenn du noch gar nicht informiert bist, musst du ja völlig durcheinander sein.
Das bin ich, gab ich leise zu.
Also: Du bist nicht verrückt. So viel ist schon mal sicher.
Ich wagte ein Beruhigend!
Das gebastelte Dorf dient nur als Medium, damit du herkommen kannst.
Wahnsinn!, hauchte ich.
Erzähl, wie du es gebastelt hast, forderte Kai mich auf.
Ich berichtete, dass Andrea, meine Patentante, es mir als Überraschung geschickt habe. Sie wollte mich trösten, weil ich so eine heftige Mandelentzündung hatte. Ich schilderte, wie sorgfältig ich alles angemalt und ausgeschnitten und hinterher das Kunstwerk noch mit Tannengrün, getrocknetem Gras und Moos geschmückt hatte.
Ob meine Tante nicht weiß, dass
. Ich wusste nicht, wie ich mein Erlebnis in Worte fassen konnte. Die Bastelei hat auf jeden Fall Spaß gemacht. Und das Dorf auf meiner Fensterbank ist einfach wunderschön.
Dann ist es also so geworden, wie du dir ein Winterdorf vorstellst?
Ich sah ihn fragend an.
Er lächelte. Also wie du dir einen Ort auf der Welt wünschen würdest?
Genau so! So richtig gemütlich und schnuckelig.
So, dass du am liebsten dort wohnen würdest?
Verlegen deutete ich ein Nicken an. Ja, du hast recht.
Er blickte mich von der Seite an.
Für Sekunden wagte ich es, ihm in die Augen zu sehn. Dann sagte ich: Ich war angezogen von meinem eigenen Werk.
Er lachte kurz auf. Das ist die Voraussetzung für ein Medium. Sonst wärst du jetzt nicht hier. Er blieb stehen, durchbohrte mich mit seinem Blick. Es gibt nicht viele Leute, die unsere Welt dermaßen anzieht, dass sie hierherfinden, musst du wissen.
Ich sah ihm ins Gesicht, konnte seinem Blick aber nicht lange standhalten. Warum gerade ich?
Du findest in unserem Dorf, was du dir in deinem Inneren wünschst.
Ich bekam Gänsehaut. Aber nicht, weil mir kalt war.
Eine Pause entstand.
Das meinst du jetzt nicht ernst, sagte ich endlich.
Und ob! Dazu kommt natürlich, dass man erst einmal an das kleine Modelldorf gelangen muss. Er lächelte. Das hat deine Tante wirklich gut eingefädelt.
Neue Pause.
Dein gebasteltes Dorf ist nämlich die Eintrittskarte für das wirkliche Dorf, was natürlich nicht auf deine Fensterbank passt, sagte der Junge mit ruhiger Stimme und schaute mich weiter aus graublauen, mandelförmigen Augen an.
Was ist?, fragte er unvermittelt.
Wieso fragst du?, brachte ich stockend heraus.
Er trat nah an mich heran, beugte sich vor und sah mir ins Gesicht. Du bist blass wie Elfenbein. Sieht man sogar bei dieser Beleuchtung.
Unsere Augen trafen sich nur kurz, denn ich konnte seinem Blick nicht standhalten. Das Atmen hatte ich eingestellt.
Plötzlich sah ich auf die Kirchturmuhr und bekam einen Wahnsinnsschreck. Die Uhr zeigte null Uhr fünfundfünfzig.
Ich muss sofort weg!
In Panik rannte ich über den Marktplatz zur Nummer eins, öffnete die Tür, zog die Stiefel aus, hastete durch die Werkstatt, durch den Flur zu der anderen Tür. Sofort drehte ich mich mit dem Rücken zum Ausgang, spürte, wie mein Kopf magnetisch nach hinten gezogen wurde, die Beine vom Boden abhoben und ich mit rückwärtigem Salto in die Tiefe gewirbelt wurde. Wieder war der Aufprall schmerzhaft und vor allem zu laut. Ich stürzte mich direkt ins Bett, riss den Pullover über den Kopf, warf ihn auf den Boden, deckte mich zu. Jeans und Socken hatte ich noch an, aber falls meine Mutter wieder hereinkäme, läge ich auf den ersten Blick völlig normal im Bett. Alles wie immer.
Da rief meine Mutter auch schon von nebenan: Lu? Ist was passiert?
Nein, alles okay.
Und dann war Ruhe.
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