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Meine liebe Stella,
von Stephan Peters

Wolfgang Sigl Wolfgang Sigl
© http://www.wolfgangsigl-grafiken.de/
Meine liebe Stella,

Du wirst es kaum glauben, aber man nennt unser Ferienhaus Das Haus der Schatten. Merkwürdig. Der Wirt des einzigen Lokals hier am See hat es mir flüsternd erzählt. Obwohl wir bereits vier Mal hier gewesen sind, ist uns diese Kneipe noch nie aufgefallen. Sie heisst OK und gehört Olaf Kröger. Er wurde beinahe hysterisch, als ich ihm ganz nebenbei mitteilte, dass wir dieses Haus gemietet haben. Nimmt der Albtraum denn nie ein Ende?, oder so ähnlich hat er sich ausgedrückt. Dann goss er sich einen Schnaps ein. Er hatte ihn bitter nötig, denn Olafs Gesicht war Weisser, als der Schnee, der am Ufer liegt. Wir haben November, aber der Winter zögert noch. Nur ab und zu trifft das Haus am See die volle Wucht der Kälte, und ich lege Holz auf das knisternde Feuer im Kamin. Sein roter Schein fällt gegen die schweren Vorhänge in Burgunderfarbe. Krähen watscheln wie fette Enten über den Schnee. Ein paar von ihnen hocken wie gegossenes Blei in den kahlen Zweigen der Bäume, die im Halbkreis den Bootsteg bewachen. Das Gekrächze der Vögel holt mich jeden Morgen um sechs aus dem Schlaf. Ich geniesse die Einsamkeit, sieht man von der Tatsache ab, dass ich Deine Lippen vermisse, die sich morgens wie pelzige Raupen um mein Ohr schliessen. Ich war guter Dinge und streitlustig. »Hören Sie, Herr Kröger. Ich muss Ihnen leider alle Illusionen nehmen!« Verblüfft goss er sich einen weiteren Schnaps ein. »Sie haben von diesem merkwürdigen Keller erzählt, in dem sich recht blutige Dinge ereignet haben sollen. Meiner Frau und mir ist er nicht aufgefallen, weil ein alter Schrank davor steht. Ich habe die Probe aufs Exempel gemacht und ihn mir angesehen.« Das Gesicht von Olaf wurde noch bleicher, falls das überhaupt geht. »Ich neige dazu, theatralisch zu werden«, fuhr ich fort, »und ging Punkt Mitternacht hinein. Passend dazu legte ich die berühmte Toccata von Bach auf und ging mit einem Grablicht nach unten.« Der alte Kröger hielt sich an der Theke fest, als seien wir auf einem Schiff in Seenot geraten.
»Gütiger Gott«, stammelte er.
»Mein lieber Olaf, wenn ich Sie so nennen darf. Ich habe in meinem Leben noch nie einen so uninteressanten Ort gesehen, wie diesen Keller. Etwas Langweiligeres gibt es nicht. Ich mache Kunstexpertisen und male mehr schlecht als recht. Aber ich müsste schon ein Genie sein, um mich von so etwas inspirieren zu lassen. Jeden Fleck habe ich mir dort angesehen – nichts. Einfach nichts.«
»Sind Sie sicher, dass wir von ein und demselben Haus sprechen?» meinte er.
»Sie wissen besser als ich, dass es nur dieses Haus hier an diesem See gibt.«
Endlich entspannte er sich. Ja, er schien beinahe glücklich zu sein.
»Dann hat der Schrecken sein Ende genommen«, meinte er schwülstig. »Die nächste Runde geht auf mich. Ja, natürlich dürfen Sie Olaf zu mir sagen. Und wie Sie das dürfen ...« Ich war betrunken, als ich zum Haus der Schatten ging. Wo das Bild des unbekannten Malers auf mich wartete. Das Bild mit dem merkwürdigen Namen Nyarlathothep, das ich hier in Ruhe analysieren will. Den Namen des Künstlers kann ich nicht entziffern. Es stand, wie Du weisst, auf unserem Speicher vor einer Kiste mit uralten Küchenlampen und starrte mich an. Dieses Abbild von Baphomet, dem gehörten Ziegengott. Die dunklen Pupillen in bösartigen, schrägen Augen scheinen zu leben und verfolgen mich. Das kommt davon, wenn man saubermachen will. Eine schmierige Decke hat das Bild bis zu jenem Tage verdeckt. Das Rauchen, mit dem ich vor sechs Jahren aufhörte, kam zurück wie ein längst vergessener Freund. Fassungslos hast Du mit ansehen müssen, wie ich eine nach der anderen qualmte. Das Bild wirkt auf mich wie eine üble Droge, von der ich nicht lassen kann. Du hast es ja einmal gesehen und konntest zwei Wochen danach nicht schlafen. Jede Nacht fuhrst Du schreiend aus dem Schlaf, weil Du schwarze, einsame Städte auf Planeten gesehen hast. Auf Planeten, die älter als das Universum sind. So hast Du Dich zumindest ausgedrückt. Pechschwarze Häuser aus Teer, die jeder Geometrie zu spotten scheinen. Du hast von einem Tor gestammelt, das in diese Stadt führt. Ein Tor von solchen Ausmaßen, dass, dass ... Ich wischte Dir den Schweiß von der Stirn. Und dann begannen die Streitereien mit uns.
Wegen allem und nichts gerieten wir uns in die Haare. So hatte ich beschlossen, zu schweigen, was die beste Therapie ist. Worte sind zwischen Ehepaare wie kleine Flüsse, denen man zufrieden zusieht. Doch sie können bedrohlich anschwellen und beide verschlingen. Psychologen raten dazu, sich auszusprechen, einander zuzuhören. Aber die sind entweder schwul oder selbst geschieden. Und so schwieg ich. Ich beschloss, ins Lengener Moor zu fahren. Von allem Abstand zu nehmen und das Teufelsbild zu analysieren. Als ich es in den Kofferraum legte, glaubte ich, ein zufriedenes Geräusch darin zu hören. Vielleicht schreibe ich einen Essay darüber und werde ihn in Modern Art oder sogar im veröffentlichen. Das heisst, wenn sie ihn nehmen. Zudem bin ich froh, dem ewigen Einkaufsstress in Oldenburg zu entkommen! Manchmal glaube ich, dass Shoppen eine neue Kunstform ist, und die Auswahl der Artikel ist das Handwerk. Einfach und absolut genial. Du sagtest, ich hätte mich verändert. Von dem Zeitpunkt an, als ich das Bild vom Speicher erlöst habe. Ich sei verschlossener und unterschwellig aggressiv. Ja, es stimmt. Unsere Freunde nerven mich inzwischen mit ihrem hohlen Geplapper. Vor allem Renate, die ständig grinsend um sich blickt und den Leuten die Seelen aus den Augen guckt. Sie hat einen eingebauten Lachkrampf; das heisst, sie lacht sich über jedes, auch noch so dümmliche Wort, halb tot. An jenem verhängnisvollen Abend hatte sie mich als Opfer im Visier. Die meisten unserer Freunde waren ja anwesend. Ich sei so schweigsam, meinte sie. Worüber ich nachdächte. Manchmal glaube ich, Stella, dass die Menschen verunsichert sind, wenn man nicht ununterbrochen Schwachsinn von sich gibt. Worte sind für sie wie Angelhaken, die ihr jämmerliches Ich vor dem Untergang bewahren. Ich antwortete Renate:
»Ich bin der Axtmann. Und der Axtmann ist immer sauer.«
»Was ist ein Axtmann? Ha, ha, ha.«
»Der Axtmann denkt darüber nach, wie es wäre, dir mit der Axt den Schädel einzuschlagen – aber nicht ganz. Es ist sehr fraglich, ob ich auf eine Hirnmasse stoßen werde. Anschliessend wird er dir ein Rohr in den Rachen schieben, damit das Rattengift besser hineinfliessen kann.« Alle waren entsetzt, und diesmal lachte ich mich halb tot.
Die Augen von Renate hingen wie Ping-Pong-Bälle aus den Höhlen. Sie sah wie ein Goldhamster aus, dem man ein Starkstromkabel in den Arsch geschoben hat.
Sie schwieg zwanzig Sekunden lang; ihre persönliche Bestleistung. Zum Schluss sagte ich noch: »Was habe ich von deinem Mann gehört? Dir kommt es am besten, wenn er dich mit Gummi-Schläuchen ans Bett fesselt? Das habe ich schon immer vermutet.«
Hast wenigstens Du noch Kontakt zu Renate? Ich nicht mehr. Wenn sie nach mir fragt, sage ihr, sie könne mich am ... Aber Du nicht, liebe Stella. Du nicht. Warum schreibst Du nicht?
In Liebe,
Dein Frank

Dienstag, 23. November
Noch immer kein Zeichen von Dir. Habe ich mich denn so daneben benommen?
Ich kann in der Abgeschiedenheit mit meiner Expertise beginnen. Das Bild stellt den Teufel dar. Einen Teufel mit einem Gesicht, das dem eines Wolfes gleicht. Er hat schwarze Flügel und Hörner, die bis ins Universum reichen. Er hockt da wie ein satanischer Buddha, mit seinem dicken Bauch und verkrümmten Beinen. Aus dem Kopf wächst ein riesiges Horn, auf dem eine Frau aufgespiesst ist. An welcher Stelle die Spitze in sie hineinfährt, weisst Du ja leider inzwischen. Die Technik ist modern. Airbrush, aber auch gleichzeitig älter als jede mir bekannte Form, die allen Interpretationen zu spotten scheint. Aber was soll ich mich aufregen? Ich habe Professor van der Weerth in Den Haag angeschrieben; eine Kapazität auf diesem Gebiet. In das Päckchen hinein legte ich etwas Farbe als Probe. Ich habe sie vorsichtig mit dem Messer abgekratzt. Merkwürdig. In diesem Moment schien das Bild zu vibrieren, und ich stiess einen Schrei aus. Aber es war wohl der Brandy, mit dem ich mich beschäftigt hatte. Eines habe ich zumindest herausgefunden: bei der Farbe handelt es sich um eine Ähnliche wie von Michel Angelo. Und zwar genau dieselbe, mit der er das Paradies gemalt hatte. Sein Paradies war zum Entsetzen der Kirche nicht Sonne und Gärten, sondern eine einzige, bösartige Wüste. Darüber rätselt man bis heute. Hoffentlich meldet sich van der Weerth bald. Der Wind schleudert Wolkenfetzen aus Schnee hoch in den dunkler werdenden Himmel. Ich werde noch mal ins ”OK” gehen.
Später.
Verdammt. Noch immer keine Post von Dir. Das Telefon, das ich habe legen lassen, ist tot. Wütend rief ich aus einer Telefonzelle in Eggeloge die Telekom an, um mich zu beschweren. Schliesslich haben wir ja auch zehn Aktien von denen gekauft. »Da werden Sie kein Glück haben«, meinte der Typ. »Wir können dort keinen Anschluss legen. Wir wissen selbst nicht, woran es liegt – vielleicht ist ein Wetterloch daran schuld. Auch Ihre Vorgänger haben sich darüber beschwert. Doch ich fürchte, das wird Sie nicht trösten.« Wütend knallte ich den Hörer auf. In der Zelle habe ich mir beinahe eine Lungenentzündung geholt. Eisiger Wind fegte dagegen, und ich musste mit Gewalt die Tür öffnen, denn der rasch fallende Schnee hatte eine Barrikade davor gelegt. Ein geparkter Wagen glich einem vereisten Dinosaurier. Ich bekam einen gehörigen Schreck. Was ist, dachte ich, wenn die Post auch nicht funktioniert? Vielleicht bekommst Du keinen meiner Briefe, und ich warte auf die Deinen wie ein verliebter Jüngling. Niedergeschlagen ging ich zurück. Die laublosen Bäume waren starr vor Reif. Der Himmel hart und klar. Kalt, wie ein Eispickel. Ich ging zum See, der leer und unheimlich war. Am so genannten Haus der Schatten hingen gefährliche Eiszapfen wie die Spitzen von Speeren. Der fallende Schnee legte einen Schleier um die Fenster und verstärkte die Einsamkeit. Der billige Schneemann aus Plastik auf der Veranda glotzt mich blöde an. Irgend jemand hat ihm den Kopf zertrümmert. Die Glasaugen, die an Lampendraht hängen, ragen wie die Fühler einer Schnecke aus den Höhlen. Sein Gewand ist verschmutzt, und grünliches Moos bedeckt den Hut. Ein paar verirrte Ahornblätter kleben noch an seinem Bauch. Der See selbst war leer und unheimlich; weiss und reglos. Plötzlich zuckte ich zusammen. So einsam war es gar nicht. Ein Pärchen stand auf einem zerbrochenen Bootsteg und blickte rauchend aufs Eis, durch das sich das starr gewordene Schilf wie Antennen zwängte. Ich ging auf die Zwei zu und grüßte kurz. Sie lächelten mich an und sagten Hallo. Wie gut das tat! Ein Wort genügt, um mich auf andere Gedanken zu bringen. Und nicht dreissigtausend, wie bei Renate. Sie waren um die vierzig, so wie wir in ein paar Jahren. Ich zögerte, doch dann gesellte ich mich zu ihnen. Wir plauderten dies und das, und sie schwärmten von der wunderbaren Natur und der absoluten Einsamkeit, die ihnen nach längerer Krankheit (um welche es sich handelte, sagten sie natürlich nicht) gut tun würde. Es sei nervlich, bekam ich dann doch heraus, was immer das auch sein mag. Die Zwei sahen tatsächlich recht angegriffen aus. Wir rauchten zu dritt und schwiegen dann endgültig. Die Kälte machte mir zu schaffen, ich verabschiedete mich dankbar und ging nach Hause. Es war nicht nur die Kälte, die mich dorthin zwang; es waren Entzugserscheinungen, die ich wegen Nyarlathothep hatte. Eine gefährliche Stimme in mir sagte: Je tiefer du hineindringst, desto mehr erfährst du über dich. Ich bin mir gar nicht so sicher, ob ich das wissen will. Das Bild musste ich unbedingt wiedersehen. Müde setzte ich mich bei Kerzenschein davor, als wolle ich wie ein Mönch über einer Ikone meditieren. Das Kaminfeuer flackerte unruhig, und ich bekam eine Gänsehaut. Dieser gehörnte Teufel mit den riesigen schwarzen Schwingen schien in einem irren Augenblick näher zu kommen. Dann starrte ich auf diesen gefräßigen Bauch, der auf einmal dreidimensional war. Das heisst, in ihm war eine Höhle, eine seltsame Leere, durch die man in die tiefsten Schlünde der Hölle gelangen konnte. Das Tor zu einer anderen Welt. Es war kurz vor dreiundzwanzig Uhr, als ich zum ”OK” rannte, um dort mit einem Menschen zu reden, und wenn es nur Olaf Kröger war. Ob er noch aufhatte um diese Zeit? Er hatte geöffnet und saß etwas betrunken auf seinem Hocker. »Ich ahne schon, warum Sie kommen«, begrüßte er mich. »Wie Sie schon aussehen? Es geht also wieder los.«
»Ach was«, antworte ich gereizt. »Nichts geht los; ich habe nur Schwierigkeiten mit einem Bild, das ich beurteilen soll. Ein Glühwein würde mir jetzt auf die Sprünge helfen.« Olaf werkelte hinter der Theke herum uns räumte den Tresen leer. Als er sich mit dem Tablett in Richtung Küche begab, rief ich ihm hinterher:
»Ach ja. In einem anderen Punkt muss ich Sie auch noch enttäuschen. Sorry. Das mit dem Keller stimmte schon nicht. Er ist weder unheimlich noch todbringend. Und vor allem ist es hier nicht so einsam, wie Sie behaupten. Ich habe heute Nachmittag mit einem Pärchen gesprochen, was sagen Sie nun?« Kopfschüttelnd verschwand Kröger in Richtung Küche. »Die Zwei waren sehr nett, obwohl sie recht krank aussahen. Er heisst übrigens Rene und sie Victoria.« In der Küche hörte ich einen unterdrückten Schrei, und das Tablett fiel zu Boden. Der Gute hat wieder mal zu viel getrunken, dachte ich. Es raschelte vor der Tür, und sogar auf dem Dach. Ratten?, dachte ich. Olaf blieb lange weg. Zu lange. Ich stand auf und ging in die Küche. Der Wirt hatte sich scheinbar in Luft aufgelöst. Nur eine matte Glühbirne versuchte vergeblich, gegen die Schatten und den Schmutz anzukommen. Das Fenster war verschlossen. Ein Hocker, der umgestürzt war, machte mich stutzig. Ich blickte nach oben und schrie durch das gesamte Lokal. An der hohen Decke hing Olaf Kröger, mit einem Strick um den Hals. Seine Augen waren genauso herausgequollen, wie seine dicke Zunge, die ihm aus dem Mund hing. Seine sterbenden Augen starrten mich voller Grauen an. Olafs Kinn zuckte leicht, aber die Dunkelheit spielte mir einen Streich. Um seinen Hals hatte er sich ein Pappschild gehängt. Darauf standen die Worte:
Sie haben mit zwei Leichen gesprochen! Fliehen Sie! Für mich ist es zu spät ...
Eine gelbliche Lache hatte sich unter ihm ausgebreitet und wurde immer größer. Der Haken, an dem Kröger hing, quietschte in der Stille. Obwohl der alte Bollerofen auf Hochtouren lief, war es eiskalt; ich konnte meinen Atem gefrieren sehen. Langsam wuchsen Eisblumen an den Butzenscheiben empor. Ein Reiher schrie jämmerlich durch die Nacht. Benommen starrte ich auf Olafs Gesicht. Plötzlich hoben sich seine Mundwinkel zu einem kaputten Grinsen. Dann fielen sie wie ein dickes Tau wieder nach unten.
Voller Entsetzen, hysterisch schreiend, rannte ich aus dem Lokal. Ich rannte, bis meine Lungen brannten. Als ich keuchend die Haustür öffnete, kam mir ein übler Gestank entgegen. Die Geometrie des Hauses schien sich zu verzerren und Risse zu bekommen. Aber es war nur der trübe Schein des verlöschenden Kamins, der über dem verdammten Teufelsbild flackerte. Baphomet glotzte mich bösartig an, und ich bin mir nicht sicher, ob sein Fleisch nicht doch echt war. Merkwürdige Gestalten huschten aus den schweren Vorhängen, die wie in Blut getaucht sind. Und dann verließen mich die Sinne.

Freitag, 26. November 19 – oder welches Jahr haben wir eigentlich? Ich stelle fest, dass meine Gedächtnislücken immer größer werden. Verflucht. Verflucht.

Meine liebe Stella.
Noch immer schweigst Du. Ich würde auf nackten Füßen bei zwanzig Grad Minus nach Eggeloge gehen, nur um mit Dir zu telefonieren, aber das verdammte Bild lässt mich nicht los. Alles ist unter null. Meine Kräfte haben mich verlassen, sie reichen gerade mal, um zum Briefkasten zu gehen. Du sollst nun alles erfahren. Gestern Nacht rief mich Professor van der Weerth an. Ja, Du hast richtig gelesen. Auf einmal funktionierte das verdammte Telefon. Nach dem Gespräch wählte ich mit zitternden Fingern Deine Nummer – tot. Alles tot, alles unter null. Der Schnee fällt als schwerer Vorhang gegen die Fenster, und der Erdboden unter meinen Füßen erzittert. Was will nur aus diesem verdammten Keller heraus? Da ist ja nichts.
»Hier ist van der Weerth! Mein lieber Herr Kollege, das mit den Farben, also, ich weiss gar nicht, wie ich Ihnen das erklären soll.« Die Stimme des Professors klang merkwürdig verzerrt, leise, beinahe ängstlich. Ich blickte in den Spiegel, und mein Gesicht war blass wie das von einem Vampir. Meine Augen. Sind das meine Augen?, dachte ich entsetzt. Oder sind es die von diesem Ding da an der Wand. Es schien, als würde mich der Teufel während des Telefonats höhnisch angrinsen. »Mein lieber Professor«, sagte ich stammelnd. »Eine gute Nachricht hätte mich in diesem Hause erschreckt.« Ich verzog mein Gesicht zu einem gequälten Lächeln. Schweigen. Nur der Schnee schlug schwer gegen das Glas.
»Um so besser, mein lieber Frank. Dann wird Sie eine etwas merkwürdige Mitteilung auch nicht aus der Bahn werfen. Die Farbe, oder das, was Sie dafür halten, äh –, also ich stehe vor einem Rätsel. In meiner gesamten Laufbahn ist mir so etwas noch nicht untergekommen. Mein Freund Henry Conolly von der Universität in Philadelphia überraschte mich mit seinem Besuch, als ich wie eine Marionette ins Mikroskop glotzte, um wenigstens die Strukturen der Farbe zu analysieren. Sein Ruf als Chemiker ist Legende. Er erkannte meine Hilflosigkeit, und meinte, lass mich mal machen ... Sein Gesicht wurde zusehends blasser.
Woher hast du das, um Gottes willen? Ich erzählte ihm von Ihrem Auftrag, aber da war er schon verschwunden. Die Farbe hatte er einfach mitgenommen, und ich war heilfroh.« Bei den Ausführungen van der Weerths rannen Schweissperlen über meine Hände.
»Um es kurz zu machen, Frank: Henry rief mich tags drauf an und sagte, er habe die Probe dem Bundeskriminalamt zugeschickt. Es gäbe Dinge, von denen man besser die Finger lassen sollte. Er will unbedingt das Bild sehen. Was soll ich ihm antworten?« Mir fiel keine Antwort ein, Stella. So legte ich den Hörer auf und versuchte, mich zu beruhigen. Die sind doch total verrückt, dachte ich. Ich muss nur ganz, ganz ruhig bleiben. Aber das Grauen hatte mich bereits ergriffen. Um drei Uhr morgens begab ich mich selbst an die Arbeit. Wäre doch gelacht, dachte ich. Warum machst du dich auch von anderen Menschen abhängig? Ich brauchte frische Luft. Der Geruch nach verbrannter Kohle und Dingen, über die ich lieber nicht nachdenken wollte, hingen im Zimmer wie alter Schleim. Da zerreisst das Klingeln des Telefons die Stille. Stella – bist Du es? Ich nehme ab.
»Hier ist Kröger, Olaf Kröger«, sagte mir eine wohlvertraute Stimme. Die Stimme des Mannes, dessen Leiche ich noch vor dreissig Minuten am Strick baumeln gesehen hatte. Meine Knie wanken bei Olafs Worten. Ich fange an zu lachen und zu weinen. Dann setzte ich mich auf den Boden und blickte starr in den Hörer.
»Frank – gehen Sie nicht in den Keller. Wir sind Figuren in einem bösen Drama geworden. Und ich bin nicht der Erste, der darin gestorben ist!«
Mit einem wortlosen Schrei warf ich das Telefon gegen die Wand. Ich bin mein eigener Herr, dachte ich, ohne daran zu glauben. Ich stellte mich vor das Bild und machte endlich meinen Job. Mit einem kleinen Messer kratzte ich über die Oberfläche.
Ich wagte nicht nach unten zu schauen, denn der Bauch des Wesens scheint zu glühen und mich in die Tiefe hinab zu ziehen. Das alles ereignete sich noch vor wenigen Stunden.
Und nun ist es vier Uhr morgens.
Meine Finger sind von dem sinnlosen Herumgekratze blutig, aber es hat sich gelohnt. Doch was ist das? Etwas lugt am hinteren Bilderrahmen heraus. Ich reisse die Verkleidung ab und nun halte ich einen Brief, eine Art Dokument in den Händen. Vergilbt und mit Rattenkot besudelt. Eine furchtbare Eingebung sagt mir, dass ich den Inhalt bereits erahne. Ich brauche ihn nicht zu öffnen. Und doch öffne ich ihn. Der Himmel stehe mir bei ... Hoffentlich gelingt es mir, das Altdeutsch zu übersetzen.
Im Jahre des Herrn, 23. November 1789.
Das Haus der Schatten ist ein guter Ort, besser sollte ich schreiben – ein böser Ort, um den Gehörnten zu beschwören. Den Bocksbeinigen, der am Rande des Universums heult und schnattert. Und Hastur ist sein Name. Die Eingeweihten nennen ihn auch Nyarlathothep.
Von einem Pakt ist dann die Rede. Einem Pakt mit dem Teufel, denn der Verfasser des Briefes ist davon überzeugt, dass ihm nur eine nicht menschliche Intelligenz aus dem öden Dasein befreien kann. Es geht natürlich um ewiges Leben und ewigen Ruhm als Künstler. Mein Gott, Stella. Was früher der Teufel war, sind heute die Medien. Aber ich lese weiter. Und was ist der Preis dafür?, fragt der Maler. Und das Manuskript endet mit:»Töte deine Frau.« Der Dämon sagte es so, wie: heute ist Donnerstag. Und ich tötete meine Frau als wäre es Donnerstag.
Mit Ekel werfe ich den Brief ins Feuer. Die Blätter knistern und scheinen zu schreien. Mein flackernder Blick fällt auf das verdammte Gemälde; es ist – leer. Eine Flüssigkeit wie Quecksilber fließt in violetten Farben dort, wo der Teufel war. Meine Knie geben nach, das Zimmer um mich herum dreht sich. Dennoch schaffe ich es, zum Keller zu gehen. Meine Hand zittert, als sie die Tür öffnet, die in verrosteten Angeln quietscht. Die Traumkorridore des Deliriums werden klarer. Und allmählich kommt die Erinnerung zurück. Leider. Langsam steige ich hinunter und halte mich an den schwarz verkohlten Wänden fest. Die matte Glühbirne wirft ihr fahles Licht über ein Wesen, das auf mich wartet. Leider ist es nicht jene abartige Kreatur namens Hastur, von der Olaf stammelnd gesprochen hat. Es ist etwas viel, viel Schlimmeres. Der Schein der Lampe fällt auf das Gesicht von Stella. Dein Kopf ist um 180 Grad verdreht. Du hockst auf einem Stuhl und blickst mich aus glasigen Augen an. Warum?, lese ich auf deinen bleichen Lippen, aus denen Maden kriechen. Jede Made hat mehr Leben als Du. O Stella. Ich habe Dich so geliebt. Oben öffnet sich knarrend die Kellertür. »Ja, ja. Ich komme schon«, sage ich hohl. Viktoria und Rene nicken stumm. Und so gehen wir drei Hand in Hand feierlich mit schweren Schritten zum See. Die Zwei blicken mich ehrfürchtig an. Die Tannenbäume am Ufer sind wie aus schwarzer Tinte. Ein unterirdisches Donnern zerreisst die Einsamkeit. Das Eis bricht auf und lässt die Bäume erzittern. Es hört sich an wie zersplitternde Knochen. Die gewaltigen Hörner und Flügel von Hastur bohren sich in den Himmel. Der Gestank, der aus dem Wasser dringt, wird zum Albtraum. Möwen flattern kreischend davon. Die Flügel des Wesens verdecken den Vollmond, es ist schwärzer als die Nacht. Er blickt mich mit seinen schräg gestellten Augen beinahe liebevoll an. Eiswasser läuft in Rinnsalen zwischen seinen mächtigen Haaren hindurch. Ich weiss, dass es für mich keine Erlösung gibt. Von nun an spiele ich mit den lächelnden und freundlichen Leichenfressern im Lengener Moor. Der Grund ist nicht der Tod von Stella. Der Grund ist viel, viel grausamer. Ich weiss es von dem Augenblick an, als ich auf die Handschrift des uralten Manuskripts starrte und sie mit der Signatur des Künstlers verglich. Es ist meine eigene Handschrift.

14. Okt. 2007 - Stephan Peters

Bereits veröffentlicht in:

ASCHERMITTWOCH - KARNEVALSHASSER UND MAKABERE STORIES
S. Peters
Roman - Horror - Selbstverlegt - Okt. 2007

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