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Schöpfer
von Lucas Edel

Gaby Hylla Gaby Hylla
© http://www.gabyhylla3d.de/
Schnee bremst das Bündel Mensch. Quält es, beißt es, frisst es.
Firn kriecht die Beine hinauf, zerreißt die Haut und nagt an den Knochen.
Seine Arme, verkreuzt, verkrampft.
Das freie Auge fest in den grünen Horizont gebohrt, zieht ihn sein Instinkt der Sicherheit entgegen.
Eine Hütte hockt am Waldesrand.
Der zerfrorene Soldat bricht die Tür auf und sticht mit diszipliniertem Schritt in den Flur.
„Heil Hitler!“, brüllt er, um die Machtverhältnisse zu klären.
Keine Antwort. Er öffnet alle Türen und stellt erleichtert fest, dass die Fenster schon zerschossen sind.
Drei Beinpaare hängen durch die Dachbodenluke. Alles schon vorbei.
Niemand geht auf einen leeren Friedhof.
Hier ist nur er.
Im Raum hinter der Küche gähnt das stinkende Maul eines Kamins.
Die Wände sind mit Büchern verschalt und ein Samtsessel zwingt ihn zur Rast. Der Schmerz lässt ihn aufheulen, als er in das Sitzkissen fällt.
„Herr Major! Herr Major!“, kreischt eine Stimme durch seinen Kopf, bevor er in Ohnmacht fällt.

Szenentrenner


Finsternis. Kälte. Krämpfe.

Szenentrenner


Ein tierischer Schrei schreckt den Krieger aus dem Dämmerzustand.
Gedankenfetzen zerrauchen.
Er greift nach seinem Bajonett und schneidet das Leder von den Füßen. „Was für ein Glück!“, denkt er und klopft mit der Stahlspitze auf schwarzes Fleisch.
„Wenn es nicht mehr schmerzt, fallen sie von selber ab!“, treiben die Worte weiße Wolken vor ihm her.
Auf seinen Fersen stelzt er in das Badezimmer vis á vis der Küche.
Jod, Verbandsmaterial, eine Schere.
Vorsichtig zieht er die klebrigen Gazestreifen von seiner linken Gesichtshälfte. Die Verbrennungen scheinen gut zu verheilen, denn es stinkt noch nicht nach Wundbrand.
Er säubert sich erleichtert mit Wasser aus einem Eimer neben der Toilette. Der Sturm heult vor dem Haus.
Mit Leinenwindeln versorgt er die Kerben des Kampfes.
Vom Flur aus führt eine Tür in den Keller.
Die breiten Hausschuhe aus der Küche torkeln mit ihm die Stiege hinunter. „Was haben wir denn da?“, brummt er durch den heilen Mundwinkel.
Ein Regal mit Weinflaschen modert vor ihm an der Wand, daneben eine Kiste eingemachtes Gemüse.
Sie haben Plünderung und Mord überlebt.
Der Schmerz ist beim Lächeln am Größten. Daher begnügt sich der Verwundete mit stiller Freude.
Im Kaminzimmer stapelt er die Bücher neben der Feuerstelle und schaufelt ein paar Bände Brockhaus hinein, um sich mit ihnen aufzuwärmen.
Langsam lässt er den Wein aus der enthaupteten Flasche in den Magen rinnen.
Marinierter Paprika tanzt auf roten Wellen.
Er wälzt sich in den Sessel und lagert die Füße auf einem Hocker. Entspannung. Die Schultern versacken im Polster.
Erinnerungen an Feuer, Geschrei und einen Gewehrkolben fluten seinen Geist. Er will sich nicht fortspülen lassen.
Nach Tagen tritt nun wieder die große Frage an ihn heran:
„Wer bin ich?“
Befehlston, ein Meter neunzig und Überlebenstrieb haben ihn gerettet.
Sein Gedächtnis aber wurde am Feld der Ehre zu Grabe getragen.

Szenentrenner


Aus seiner rechten Manteltasche zieht er ein zerknülltes Zeitungsstück.
Sein Tabaklager. „Der Mann ohne Vergangenheit erfreut sich an einem brennenden Taucher!“, schmunzelt er, als Schillers Gedicht zur Zigarette wird. Ein tiefer Lungenzug lässt ihn fast ersticken. Blutiger Schleim trieft von der Hand, mit der er sich das Wasser aus dem Auge wischt.
Gelangweilt überantwortet der Soldat ein paar Bücher dem Feuer.
Ein fahler Blick mustert das Zimmer. Vitrinen, zerschlagenes Kristall, weiße Schatten alter Bilder.
„Hier wohnten keine armen Leute!“, sagt er und trinkt.
Stechender Schmerz in den Füßen. Eine Flasche später ist ihm verziehen. Sein Bewusstsein dämmert.
Bilder von Feuersbrünsten, weiten Feldern, vom Tod bestellt und lautloses Morden halten vor seinem geistigen Auge Heerschau.
„Täter oder Opfer?“, repetiert etwas in ihm.
Da ihm die passenden Gefühle zu den Szenen fehlen, geht er von einem guten Kern seines Ichs aus.
Trostloser Schlaf.
Er sitzt zu Hause unter dem Weihnachtsbaum und ist sechs Jahre alt.
Zimt, Braten, Zuckergebäck treiben aus seinem Unterbewusstsein herauf. Er hört das Geschenkspapier rascheln und das Soßenrühren seiner Mutter. Seine kleinen Finger greifen nach den Kerzen. Ein Brennen. Er schrickt hoch.
Die Zigarette hat ihm ein großes Loch zwischen die Finger gebrannt.
Schlagartig kommen die Bilder des Todes zurück.
Ein weiterer Schluck. Neben ihm liegt eine Zeitung. „Vorwärts Männer, es geht zurück!“ Verlorene Propaganda. Lügen.
Ihm wird schlecht. Mit letzter Kraft beugt er sich nach links und übergibt sich. Zu lange hat sein Magen nichts zu tun gehabt.
Die Rechung, bitte.
„Ich wusste doch, dass einem das Lesen Schmerzen verursacht!“, schießt ihm die Stimme seines Ausbilders durch den Kopf.
Er legt ein paar Bände Brockhaus nach.

Szenentrenner


Hitze, Wärme, Schlaf.

Szenentrenner


Ein Frösteln zieht durch seinen Körper und endet mit einem Schüttelfrost.
Er öffnet das Auge. Die Schmerzen kommen nun aus der Magengegend.
Müde wälzt er sich aus dem Sessel und erkundet das Haus.
Im Hof liegen zwei tote Hunde. Der Wind bläst durch ihr Fell.
Einen nach dem anderen schleppt er vor den Kamin. Frühstück.
Mehr aus Langeweile als aus Neugier blättert er in einer Erstausgabe der Buddenbrocks. Die langatmigen Aufzählungen ihres Abendessens lassen ihm die Keule an den Zähnen gefrieren.
Seinem marschgeschulten Ohr fällt es zu schwer, die lukullischen Genüsse der Großfamilie in sich aufzunehmen.
„Kunst! Bäh!“ Er wickelt den Knochen in das Buch und verfeuert es.

Szenentrenner


Der Verletzte lehnt sich wieder zurück und starrt in eine Ecke. Da, das Gesicht seines Vaters. Vielleicht auch die Fratze seines Onkels. „Du hättest gut daran getan dem Führer zu folgen und deine Brandreden an den Wirtshaustischen sein zu lassen!“, schreit er in die Schemen des Kaminrauchs. Langsam steigt in ihm ein Gedanke hoch. Deutsche Literatur? Hier in Polen? „Ausgesiedelt!“, schnäuzt er zwischen die Finger und dreht sich zur Wärme. Glasiges Auge. Besorgt sieht er zu, wie die letzten Seiten um den Knochen herum versengen.
Ein Reichsatlas wird von Berlin her aufgezehrt.

Szenentrenner


Mittag. Die Schmerzen haben nachgelassen, die Kälte ist stärker geworden. Schlagartig wird ihm klar, dass er nicht mehr einschlafen darf, bis er genug Kräfte gesammelt hat, um Holz zu holen.
Er greift nach einem weiteren Buch. Dostojewski. Der Idiot.
Als er fertig ist, weint er.
Wie er versuchen die Figuren nur ihr unabwendbares Ende hinauszuzögern.

Szenentrenner


Nacht. Er fühlt sich etwas kräftiger und geht in den Wald um Holz zu suchen. Zwischen faulem Moos und dickem Schnee kramt er etwas Reisig zusammen. Keine Vögel, kein Rascheln der Blätter. Eisige Stille. Einsamkeit.
Vor dem Kamin pflanzt er zwei Fleischstücke auf einen Spieß und durchsucht den Bücherstapel. Deutsche Rechtschreibung, mein Kampf. Der Verwesende nimmt einen Band Willhelm Busch.
Das durchweichte Papier lässt ihn vorsichtig werden. Jugendtage am Wannsee. Seine Freunde, seine Brüder. Alle tot, aber zwischen den Buchdeckeln lebendig. Ein Anflug von Heimweh überkommt ihn, als er mit Max und Moritz Streiche ausheckt, über Malermeister Klecksel lacht und mit Plisch und Plum fühlt. Die warme Hand seiner Mutter streichelt über seinen Kopf. Der Schlaf hat ihn wieder.

Szenentrenner


Schwarze Stiefel, schwarze Uniformen, schwarze Helme.
Klare, reine Schwärze, träumt er. Ein weiteres Mal schrickt er hoch.
War da ein Schrei? Krakau! Ein Gespinst? Der Soldat sieht sich um.
Nichts.
Nur er.
Seine Einheit hatte direkten Befehl vom Führer. Landkarten, ein Stadttor, ein riesiges Feuer. Menschen strömen aus den Gassen und wollen ihn fressen. Frösteln. Dann wieder Dunkelheit.

Szenentrenner


Ein tiefer Zug aus der Flasche schwemmt die Gedanken fort. „Trink nicht, wenn du vergessen willst! Trink, um dich zu erinnern!“, sagt sein Kamerad. „Mumpitz!“, brüllt er zurück.
Die Schmerzen kommen zurück. Diesmal so heftig, dass er fast das Bewusstsein verliert. „Täter? Opfer?“, rattert es in seinem Gehirn. „Mitläufer!“, stellen seine Wunden fest.
Seine Gedanken beginnen wieder zu rosten. Die Patina der Lüge beginnt abzublättern. Er trinkt den Moselwein bis zum letzten Tropfen. Seine Wirkung versichert ihm, dass das Bewusstwerden der Lüge keinem mordlustigen Tier innewohnen kann.

Szenentrenner


Angst. Er greift nach einem Buch. Ein Liebesroman. Polnisch.
Seine Kenntnisse reichen gerade aus, um dem Inhalt zu folgen.
„Unarisch!“, kriecht es aus seiner Kehle. Sein Wissen um das verbotene Tun erregt ihn. Er findet sich selbst wieder. Laue Sommerabende mit Gertraud. Die dekadenten Ausschweifungen im Bootshaus. Libellen. Alles ist plötzlich wieder da. Er wandelt mit ihr Hand in Hand durch die Heiden. Glückseligkeit.
Stunden verstreichen, in denen er ab und zu ein weiteres Buch nachlegt, isst und trinkt. Aber der sichere Tod des Helden lässt ihn zurückfallen in die graue Realität.
Treu bis in den Tod, das war das Holz, aus dem er sich erschaffen hatte. Doch zu welchem Zweck.
Verstört wirft er das Drama ins Feuer, schlingt die Arme um seinen ausgezehrten Körper und wartet auf das Unvermeidliche.

Szenentrenner


Aus der Finsternis des Raumes greift eine Hand nach ihm.
Er zittert und dreht sich um.
Nichts.
Schemen der Nacht. Dämonen des jüngsten Gerichts.
Ist das das Ende?

Szenentrenner


Nackte Angst. Überleben. Erwachen.

Szenentrenner


Mit gelben Nägeln kneift er sich in die Wange um aufzuwachen. „Zusammenreißen, Mann!“, brüllt seine Erinnerung.
Brehms Tierleben lodert und unsicher greift er zur Bibel.
Der Glaube an den Führer hatte ihn stark gemacht, doch nun, in der Stunde des Todes bröckelt seine Seele.
In Agonie frisst er sich durch die Psalmen. Versucht mit den Fingern Wort für Wort aufzusaugen. Ins Blut zu bringen.
Das Leben strömt aus seinen Wunden.
Bergpredigt. Keine Linderung.
Der Kreuzweg. Erlösung.
Er ist beruhigt.
Sieht sich auf die Rückseite des heiligen Kreuzes genagelt.
Er betet bis ihn eine gnädige Ohnmacht ereilt.

Szenentrenner


Am nächsten Morgen holt ihn das Schlagen der Äste ans Dach aus dem Schlaf. Wie Schuppen fällt es ihm von den Augen. Gott klopft.
Der Schöpfer hat ihm das Leben gelassen. Er hat ihn reich beschenkt.
Der Allmächtige nahm ihm die Vergangenheit, damit er sich eine Zukunft aufbauen kann. Mit einem Stück Holz kratzt er die letzten lesbaren Reste aus dem Glimmen, löst Asche von den Seiten und sortiert sie.
Vier Bücher kann er retten. Lesen um zu überleben.
Er portioniert die Kapitel wie sein Essen.
Stunde für Stunde, Tag für Tag füllt er den leeren Kopf mit Wissen.
Ersatz für ungewolltes Erinnern. Ein Sargdeckel.

Szenentrenner


Arithmetik. Nie verstanden. Formel für Formel, Skizze für Skizze, Übung für Übung häuft er über immer klarer werdende Erinnerungen.
Das zweite Buch ist der Liebesroman. Nach und nach erschließen sich ihm die Sätze. Er liest, lernt auswendig, wiederholt.
Die Schmerzen verschwinden. Er ist kraftlos, aber hat ein Ziel.
Beim dritten Buch fallen ihm die Zehen ab. „Ab ins Feuer damit!“, hustet er und lernt weiter.
Nur um sein Schicksal ein paar Stunden weiter hinauszuzögern.
Nur um in den Todesstunden keine Vergangenheit haben zu müssen.
Als letztes Buch bleibt ihm die Bibel. Zu groß, zu viel für sein schwindendes Leben.
Ein letztes Gebet, dann endgültige Nacht. Kein Licht am Ende des Tunnels, keine Seraphine und Cherubine die ihn ins heilige Reich tragen.
Nur Formeln, Sonnenuntergänge und griechische Grammatik.

Szenentrenner


Als er erwacht, starrt er an eine weiße Decke. Seine Wunden sind frisch verbunden und das Morphium wirkt.
„Ist er das?“, hört er einen russischen Arzt brummen.
„Wie heißt er?“, kommt es hinter einem Diwan hervor.
„Ist er Deutscher? Holt mir diesen Sanitäter, den wir in Krakau aufgegabelt haben!“, sagt der Arzt.
Ein blonder Schopf drängt sich in sein Blickfeld.
„Ich kenne diesen Mann!“ Siedend heiß steigt dem Kranken das Blut in den Kopf.
„Major Jörgen Wächter!“, sagt der Sanitäter. Gemurmel.
„Der Jörgen Wächter? Der Feuerteufel von Krakau? Der Bücherverbrenner?“, fragt der Arzt.
„Auch das! Er wurde bei einem Aufstand niedergeschlagen und ins Feuer geworfen. Keine Ahnung, wie er überlebt hat. Er wurde im Landsitz eines polnischen Pfarrers gefunden“, antwortete der Deutsche.
Major Wächter hört. Major Wächter sagt nichts. Major Wächter verschwindet in einer Welt aus blutenden Konsonanten, amputierten Dreiecken und wärmenden Sonnenstrahlen.

Wachkoma, sein tausendjähriges Reich.

Szenentrenner


15. Jan. 2008 - Lucas Edel

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