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Countdown für Nautilus
von Jörg Isenberg

Crossvalley Smith Crossvalley Smith
© http://www.crossvalley-design.de
"Beruhigen Sie sich, Maynard."
Dr. Hahn legte dem Sträfling eine Hand auf die Stirn. Die Finger des Nanotechnikers fühlten sich an wie gebrühte Fleischwürste in Latexpellen. Die Geste beruhigte Maynard Kipling nicht im Geringsten; die Augen des Wissenschaftlers in dem schmalen Schlitz zwischen Mundschutz und Kopfhaube flackerten so kalt wie Sterne an einem klaren Winterabend, enttarnten das vermeintliche Mitgefühl als Lüge. Sie fixierten Maynard, als sei er ein besonders interessantes Insekt auf einem Objektträger.
"Denken Sie an etwas Erfreuliches", fügte die Molekularbiologin Dr. Sandra in einem an Dutzenden von Probanden abgeschliffenen Tonfall hinzu. Sie saß auf der anderen Seite des OP-Tisches und hantierte mit einem Satz sterilisierter Laser-Instrumente. "Denken Sie an den Straferlass."
Dann fing sie an, leise die Titelmelodie einer beliebten Vorabendserie zu pfeifen. Maynard Kipling hätte auch gepfiffen, und zwar auf die vorzeitige Beendigung seiner Haftzeit. Aber mit einem Beatmungsschlauch im Mund und vollständiger Kiefer-Anästhesie - zwecks störungsfreier Analyse der chemoelektrischen Reaktionen der Augenmuskulatur – verkam jede Lautäußerung zu einem Stöhnen.
Dr. Sandra war eine zierliche Person mit atemberaubender Figur, wie Maynard bei anderen Gelegenheiten hatte feststellen können. Jetzt waren nur ihre jadegrünen Augen unter den sanft geschwungenen Brauen zu sehen. Maynard hätte ihr gern zugeblinzelt, aber sie hatten ihm die Augenlider geklammert, was einen erheblichen Einfluss auf seine Gemütslage hatte.
"Wir kommen zu Schritt eins", sagte die Leiterin des Nautilus-Teams. Maynard versuchte zu nicken. Sein verzurrter Schädel rührte sich keinen Mikrometer. Sein Blick wurde unscharf, als Dr. Hahn ihm eine Flüssigkeit auf die freiliegenden Augäpfel sprühte. Der Proband schnappte erschrocken nach Luft.
"Ruhig!", brummte der Nanotechniker. Wir müssen die Netzhäute betäuben, die Chip Layer schwimmen nicht einfach darauf wie gewöhnliche Kontaktlinsen."
Maynards optische Wahrnehmung reduzierte sich auf vielfach gebrochenes Licht und verschwommene Schatten.
"Schritt zwei", ordnete die Molekularbiologin an.
"NC-gesteuertes Kopplungsmodul aktiviert", erwiderte der Nanotechniker. "Run Parameter bei Toleranz plusminus null Komma null null drei, Simulation einwandfrei. Freigabe – jetzt!"
Ein klobiges, auf einen Robotarm montiertes OP-Modul bewegte sich mit mechanischer Gleichmütigkeit auf Maynards Augenpartie zu.
"Befeuchtungsgrad der Chiplinsen bei acht acht", sagte Dr. Sandra, jetzt deutlich erregt. "Vorderer Augenkammerdruck normal, Hornhautspannung normal. Ziliarmuskelkontraktionen lassen nach. Sehr gut! Achtung, Retinalkontakt bei drei, zwei, eins ... Andockmanöver beginnt!"
Maynard Kipling spürte die Linsen als Fremdkörper auf seinen Augen. Er ballte stöhnend die festgeschnallten Hände zu Fäusten.
"Verödung der Hornhaut bei Durchmesser null Komma null null vier." Die zierliche Frau beugte sich so weit vor, dass Maynard der Duft ihres Parfums in die Nase stieg.
"Eintritt der Teleskop-Tentakel – jetzt!"
Es war, als hielte man ihm die Flammen von Schneidbrennern in die Augen. Maynard Kipling zeigte der Welt die Zähne und quetschte ein langgezogenes Wolfsgeheul am Beatmungsschlauch vorbei, während sich die stählernen Tentakel millimeterweise durch seine Sehmechanismen tasteten.
"Eintritt in den Sehnervenkopf der Netzhaut!", schrie Dr. Sandra, um ihn zu übertönen. "Sonden passieren Netzhautzentrum, erreichen Nervenkanal, Ankopplung an Sehnerv links erfolgreich."
"Ankopplung Sehnerv rechts erfolgreich!", schrie Dr. Hahn zurück.
Der Schmerz verkam zu einem atemlosen Knistern, als setzte man Maynard unentwegt schwachen Stromstößen aus. Die Welt verschwamm darüber in einem Kaleidoskop psychedelischer Farben, die sich im Trommelfeuer seines Herzschlags undefinierbaren Strömungen ergaben.
"NC-Programm ausgeführt. Lasern Sie jetzt die Linsenränder, Angela", sagte der Nanotechniker. Er klang erleichtert. Maynards getrübtes Bewusstsein registrierte das Reinigen der Wundränder. Die Molekularbiologin verschloss die letzten Hohlräume zwischen Hornhaut und Linse. Die hierbei entstehenden Schmerzen waren Kinderkram, ein schwaches Nachbeben.
"Die elektrochemischen Fixierungsreize werden vom Programm erfasst und ausgewertet", sagte der Nanotechniker. "Die Impulse passieren die links- und rechtseitigen Nervenknotenpunkte. Da! Sehen Sie auf das Schema – Rückmeldungen aus der Kernregion der biomotorischen Sehsteuerung. Wir haben es geschafft!"
"Schalten Sie das Testbild", sagte Dr. Sandra triumphierend. "Maynard, sagen Sie mir jetzt bitte, ob sie das Zielobjekt sehen können."
Maynard Kipling konzentrierte sich halbherzig auf das bunte Durcheinander des künstlichen Sichtfeldes. Er musste sich nicht sonderlich anstrengen, denn im Zentrum der fiktiven Pupille erschien das animierte, um die Längsachse rotierende Fadenkreuz. Mit einem beinahe lässigen Gedanken stoppte er das rhythmische Flackern. Irgendwo draußen, hinter den Sichtscheiben der Beobachtungsstationen, brandete Jubel auf. Maynard Kipling vernahm das Klatschen vieler Hände und aufgeregtes Stimmengewirr.
"Bravo, Maynard, Sie sind ein tapferer Junge!", sagte die Wissenschaftlerin, riss sich den Mundschutz herunter, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und löste die Lid-Klammern.
Das, dachte Maynard, war eindeutig der Höhepunkt des Tages. Er war nicht sicher, ob er das Lächeln meinte oder das unbeschreibliche Gefühl der sanft über die Augäpfel rutschenden Lider. Jemand hantierte an der Kanüle in seinem Handrücken. Das Sedativum wirkte schnell. Er entspannte sich und schlief ein.

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Auf dem Informatik-Deck der GRATIOLET-Operationszentrale bewegte man sich ausschließlich im Dämmerlicht der laufenden Monitore. Teppiche dämpften die Trittgeräusche des Schichtpersonals. Vereinzelt aufkommende Gespräche vermengten sich zu einem leisen, statischen Murmeln. Dr. Angela Sandra brauchte einige Sekunden, um sich zu akklimatisieren, nachdem sie den Biometrie-Scan absolviert hatte, der ihre Zugangsberechtigung zum Kernbereich der Forschungseinrichtung bestätigte. Sie spürte einen Luftzug im Rücken, als sich das Schleusenschott mit einem Fauchen schloss, und warf einen Blick auf die Armbanduhr. Maynard Kipling befand sich der Planung entsprechend seit vier Stunden in einem narkotischen Tiefschlaf. Bisher hatte das Nautilus-Team hervorragende Arbeit geleistet, jetzt aber schienen Komplikationen aufgetreten zu sein, die ihr persönliches Erscheinen erforderlich machten. Dr. Carlo Hahn nahm sie wortlos und mit griesgrämigem Gesicht in Empfang. Er nickte knapp und stapfte vor ihr her, die Hände tief in den Taschen seines Kittels vergraben. Er führte sie zum Haupt-Terminal, wo alle relevanten, die Interaktion zwischen Maynards Gehirn und Nautilus betreffenden Datenströme hochgerechnet wurden. Er ließ sich schnaufend am Arbeitsplatz des Operators nieder. Dr. Angela Sandra kniff die Augen zusammen, musterte die verschiedenen Diagramme und Tabellen der Bildschirm-Batterie. Ihr Blick verfinsterte sich. Nautilus hatte seine Arbeit aufgenommen, aber die Hochleistungsmaschine agierte geradezu im Schneckentempo. "Das ist nicht die Verzahnungsgeschwindigkeit, die wir errechnet haben", stellte sie fest. "Haben Sie die Störfaktoren bereits isoliert?"
Der Nanotechniker trommelte nervös mit seinen Wurstfingern auf der Abdeckplatte der Konsole herum. Dann deutete er auf einen Monitor, der einen schematischen Aufriss von Maynards Schädel zeigte. Zwischen den beiden Gehirnhälften wirkte der münzgroße Quantenrechner deplatziert.
"Die transmittierenden Molekülketten, die Nautilus planmäßig ausgeschickt hat, haben das Sehzentrum vollständig erschlossen. Außerhalb der Nucleus-Region aber stoßen sie auf erheblichen Widerstand chemischer Natur, soviel haben wir feststellen können. Eine mögliche Erklärung wäre ein natürlicher, bioelektrischer Abwehrmechanismus."
"Die Auswirkungen?"
Der Nanotechniker zuckte mit den Schultern. "Das Elektroenzephalogramm zeigt stabile Werte. Der einzige Effekt, den wir feststellen, ist eine zeitliche Verzögerung. Der Verzahnungsprozess ist in keiner Phase der Planung gefährdet, wird jedoch noch nicht abgeschlossen sein, wenn Maynard aus der Narkose erwacht."
"Können wir die Narkose nicht künstlich verlängern?"
"Dafür müssten wir Nautilus umprogrammieren, und das ist eine sehr komplexe Angelegenheit. Nein, der Quantenrechner wird den Jungen pünktlich um acht Uhr dreißig wecken. Die molekulare Transkription verläuft dreidimensional linear. Die zusätzlich benötigte Zeit hat der UniComp-Verbund mit exakt dreiundzwanzig Minuten errechnet. Machen wir daraus einen Countdown ab dem Moment, in dem Maynard die Augen aufschlägt. Was dann geschehen wird, kann ich nicht sagen."
Dr. Angela Sandra erblasste. "Das Risiko ist unkalkulierbar. Wenn Nautilus nur mit einem Bruchteil der erforderlichen Kapazität hochfährt, ist das gesamte Projekt gefährdet. Maynard wird Nautilus unbewusst unter seine Kontrolle bringen und hat dann unter Umständen Zugriff auf alle Server - er könnte an Informationen gelangen, die ihn auf keinen Fall etwas angehen.“ Sie dämpfte die Stimme und sah sich unauffällig um. "Eine Atombombe ist ein Katzenfurz gegen das, was dieser Knabe anrichten könnte, wenn er, und sei es nur durch einen Zufall, Internet-Zugang bekäme."
"Glauben Sie, das weiß ich nicht?", knurrte der Nanotechniker. "Wir können den Rest der Nacht versuchen, alle LAN-Verbindungen des UniComp-Intranet stillzulegen. Aber das wird nicht genügen."
"Was schlagen Sie vor?"
"Wir müssen Theater spielen", sagte der Nanotechniker nach einer Weile. "Wenigstens so lange, bis wir alle Server gesichert haben. Wir werden ihm ein paar Häppchen der Wahrheit unterjubeln, damit er nicht auf dumme Gedanken kommt."
"Theater spielen?", Die Molekularbiologin legte die Stirn in Falten. "Woran haben Sie gedacht?"
Dr. Hahn grinste unglücklich. "Maynard ist ein junger Mann, mit einer gesunden sexuellen Libido, nehme ich an."
Die Wissenschaftlerin öffnete die vollen Lippen, legte den Kopf schief und bedachte ihren Kollegen mit einem fragenden Blick. Die Pupillen ihrer mandelförmigen Augen verengten sich. "Sie haben meine ungeteilte Aufmerksamkeit, Carlo." Sie setzte sich in einen freien Sessel neben den Nanotechniker, zupfte ihren knielangen Rock zurecht, schlug die Beine übereinander und lehnte sich entspannt zurück. Wie immer bei solchen Gelegenheiten der unverhofften Nähe genoss Dr. Hahn die Aura ihres Parfums, das auf unnachahmliche Weise einen Hauch von Körperwärme transportierte, inklusive jener Pheromone, die bei Männern ein charakteristisches Kribbeln in der Lendengegend verursachten.
"Was spräche dagegen, dem Probanden durch Nautilus genau das zu zeigen, was sich ein junger Mann sonst nur in seinen Träumen vorstellen kann? Wir sagen ihm einfach, der Quantenrechner habe eine Fehlfunktion."
Dr. Sandra nahm einen Schreibstift von der Arbeitsfläche und tippte an einen Monitor, der den schlafenden Sträfling zeigte. Sie überlegte kurz, dann stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht, und sie sagte: "Einverstanden. Wie lange, glauben Sie, kann ich Maynard beziehungsweise Nautilus ablenken, ehe sich beide ihrer Möglichkeiten bewusst werden?" Sie zog ein Zigarillo aus der Brusttasche und schob es sich betont langsam zwischen die Lippen. Der Nanotechniker beugte sich vor und gab ihr Feuer.
"Gehen Sie die Sache von der sportlich-kreativen Seite an", antwortete er. "Wir müssen dreiundzwanzig Minuten überbrücken. Schinden Sie Zeit, aber achten Sie darauf, dass er nicht zu früh misstrauisch wird."
"Keine Sorge." Sie spitzte die Lippen und blies ihm mit verspielt lasziver Miene den Tabakrauch ins Gesicht. "Ich werde Maynard einen Anblick bieten, den er so schnell nicht vergessen wird. Wie sieht es mit der technischen Seite aus? Wie setzen wir den Plan um?"
"Wir machen eine Leitung frei und speisen Ihr Personal-Dossier ein. Die erste Nautilus-Aktion nach dem Weckimpuls wird den Zugriff auf diese Akte beinhalten. Der Köder ist groß und überaus verlockend. Nautilus wird danach schnappen und hoffentlich eine ganze Weile darauf herumkauen."
Dr. Angela Sandra klopfte achtlos Asche auf den Teppich. "Die Vorstellung, den Köder für einen Quantenrechner abzugeben, gefällt mir nicht. Bleiben wir doch bei der Formulierung, Maynard durch meine Schauspielerei bei der Stange zu halten." Sie verzog das Gesicht, als sie sich des Wortspiels bewusst wurde.

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Die Erinnerung war sofort wieder da. Er hatte das Gefühl, nur Minuten geschlafen zu haben. Er befand sich wie erwartet in einem Aufwachzimmer des Uni-Klinikums (von dem er immer noch nicht wusste, wo genau sich dieses eigentlich befand), aber inmitten des kalten Interieurs machte er eine Entdeckung, die ihm den Atem stocken ließ. Der Proband blinzelte, aber der erstaunliche Anblick blieb: Die Wissenschaftlerin war vollkommen nackt.
"Guten Morgen, Maynard", sagte Dr. Sandra. Sie lächelte ihr obligatorisches Arztlächeln. "Warum sehen Sie mich so an? Machen Ihnen die Linsen oder Nautilus Probleme?"
Maynard schüttelte langsam den Kopf, konnte seinen Blick aber nicht von den vollen, elfenbeinfarbenen Brüsten nehmen. Nein – der münzgroße Nautilus-Minicomputer, den man ihm vor einigen Wochen in die Peripherie des Sehzentrums implantiert hatte, arbeitete laut- und schmerzlos.
"Mir geht`s gut, ich habe nur einen sehr trockenen Mund", krächzte er wahrheitsgemäß.
Sie ging mit federnden Schritten auf die gegenüberliegende Seite des geräumigen Zimmers. Maynard Kipling sah wie gebannt auf das Muskelspiel ihres sportgestählten Körpers. Sie kehrte mit einem Wasserglas zurück.
"Die Belegschaft der GRATIOLET und die Forschungsträger der Universität sind immer noch ganz aus dem Häuschen. Die Techniker können es kaum abwarten, mit den Tests fortzufahren."
"Das kann ich mir denken", murmelte der Proband und trank einen Schluck. Er peilte über den Glasrand die Wissenschaftlerin an. Sie ging zu einem Sideboard, wo sie einen Satz medizinischer Instrumente präparierte. Er kämpfte gegen seine Verwirrung an. In den Wochen, seit er die Gefängniszelle gegen ein zwar ebenfalls vergittertes aber im Vergleich geradezu luxuriöses Apartment im Hochsicherheitstrakt der GRATIOLET-Forschungsanstalt getauscht hatte, war neben dem medizinischen Personal immer auch Angehörige der firmeneigenen Security bei den Untersuchungen zugegen gewesen. Die Abwesenheit kahlgeschorener, Pfefferspray tragender Aufseher irritierte ihn fast noch mehr als die Nacktheit der sonst so unnahbaren Dr. Sandra. Die Erkenntnis, dass etwas nicht stimmte, schnitt wie ein Messer durch sein Gefühls- und Gedankenchaos.
Nautilus!
Er faltete seine zitternden Hände auf der Bettdecke und versuchte, sich auf den Quantenrechner zu konzentrieren. Sofort erschien im oberen linken Blickfeld seines rechten Auges ein blinkendes Fadenkreuz, das wie von Geisterhand bewegt ins Pupillenzentrum wanderte. Ein durch ein Blinzeln unterstützter Gedankenbefehl aktivierte die Zoomfunktion der Chiplinsen.
Der Sträfling begann seine visuelle Exkursion zwischen Dr. Sandras Schulterblättern, tastete sich zentimeterweise an der sanft geschwungenen Wirbelsäule entlang, verweilte einen Augenblick auf den mit einer feinen Gänsehaut überzogenen Konturen ihrer Hüften, tauchte in das Halbdunkel zwischen ihren Schenkeln, sah rotgoldenes, gekräuseltes Haar, das im Gegenlicht schimmerte ...
"Maynard?"
Der Sträfling zuckte zusammen. Die Zoomfunktion desaktivierte sich übergangslos. Für einen Augenblick hatte er das Gefühl, durch den Raum geschleudert zu werden. Dr. Sandra sah ihn über die Schulter hinweg an. Wie lange schon? Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg.
"Seien Sie bitte so nett und setzen Sie die Staubschutzbrille ab. Ich möchte das Ergebnis begutachten."
Maynard Kipling tat, wie ihm geheißen. Dr. Sandra wandte sich von ihm ab, stützte die Ellbogen auf das Sideboard und machte einige Eintragungen in eine Kladde, wobei sie sich zwischendurch mit dem Kugelschreiber gegen die leicht geöffneten Lippen klopfte.
Der Sträfling betrachtete die aufreizende Stellung ihrer Beine, und mit einem Mal wurde ihm klar, dass sie es wusste. Natürlich wusste sie, was er sah, aber sie machte ihm etwas vor. Sie amüsierte sich über ihn. Aber sie war eine miese Schauspielerin. Körperhaltung und Mienenspiel hätten aus einem drittklassigen italienischen Softporno stammen können. Einzig der perfekte Körper lenkte vom mäßigen Talent ab. Maynard stellte das Glas auf den Rolltisch, legte die Brille daneben und sah zu, wie sie nacheinander die Instrumente auf einem Tablett ausrichtete, Skalpelle, Klammern, Tupfer - Dinge, die sie keinesfalls benötigte, die aber mit absurder Ernsthaftigkeit begutachtet wurden.
"Sie sind nackt, Doktor. Warum?"
Die Molekularbiologin richtete sich auf und sah ihn an. Ihre Reaktion beschränkte sich auf ein Heben der Augenbrauen. Sie verschränkte die Arme unter der Brust und kreuzte die Beine.
"Nackt? Das ist ja interessant."
"Interessant, ja", krächzte der Sträfling. "Verstehen Sie mich nicht falsch, mir gefällt, was ich sehe. Aber ich, nun ja." Er setzte sich aufrecht ins Bett und stellte die Füße auf den Fliesenboden. "Ich habe mich mit dem postoperativen Zeitplan vertraut gemacht. Demnach sollte ich direkt nach dem Erwachen auf das Technik-Deck gebracht werden. Ich bin ziemlich verwirrt, wissen Sie."
Die Wissenschaftlerin schenkte ihm ein sanftes Lächeln. Sie nahm das Tablett, durchquerte den Raum und setzte sich zwanglos neben ihn. Sie runzelte kurz die Stirn, als Maynard automatisch von ihr abrückte. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht.
"Ich bin selbstverständlich nicht nackt, Maynard. Was Sie in mir sehen, ist nichts weiter als eine minimale Fehlfunktion des Quantenrechners."
"Minimale Fehlfunktion."
"Genau. Wir haben die Fehlerquelle lokalisiert, und jetzt wissen wir auch, wie sich die Störung auswirkt." Sie kicherte. Maynard sah sie befremdet an. Er begann, sich unbehaglich zu fühlen.
"Warum sollte Nautilus mir die visuelle Hochrechnung eines nackten Körpers liefern? Ich sehe darin keinen Sinn. Und wenn sich um eine Fehlfunktion handelt – warum kümmert sich das Technik-Team nicht um die sofortige Behebung?"
Sie korrigierte ihren Gesichtsausdruck, sah aber nicht wirklich besorgt aus. "Ich habe in Absprache mit Doktor Hahn den Fahrplan geändert. Sehen Sie, diese Fehlfunktion beruht auf einem Problem an der Schnittstelle der Verzahnungsregulierung. Zuviele Sinneseindrücke könnten Nautilus verwirren, um es mal vereinfacht zu sagen."
Maynards Mundwinkel zuckten. Er sah sie ernst, fast feindselig an. "Sie glauben, Nautilus könnte durchbrennen."
Sie befeuchtete die Lippen und nickte. "So könnte man es auch ausdrücken, ja. Schließlich ..." Sie beugte sich vor und stellte das Tablett auf den Rolltisch. Dabei fiel ihr kupferfarbenes Haar auf seine bloßen Oberschenkel. So nahe waren sie sich noch nie gekommen. Maynard Kipling lehnte sich zurück, soweit er konnte.
"Schließlich", wiederholte sie leise und bedachte ihn mit einem Blick unter halb gesenkten Lidern, "wollen wir alle doch nur das eine – den mit harten Fakten gestützten, nachhaltigen Erfolg des Unternehmens, nicht wahr?" Sie nahm eine Stablampe vom Tablett. Wie zufällig streifte das kalte Metall über die Füllung seiner Shorts, ehe sie den Schwarzlicht-Pointer auf seine Augen richtete. Maynard fühlte plötzlich Schweiß an seinem Haaransatz. Sie war nun so nahe an ihn heran gerückt, dass er der Aura ihrer Körperwärme nicht mehr entkommen konnte. In dem Moment, als ihre erstaunlich kühlen Finger das Muskelgewebe seiner Augenpartie abtasteten und das kalte blaue Licht Muster in seine Netzhaut stanzte, klinkte sich Nautilus in den Server-Verbund der UniComps ein. Der Sträfling versteifte sich, als es um ihn herum übergangslos dunkel wurde, und schnappte hörbar nach Luft.
"Bleiben Sie locker Maynard, Sie wissen doch, ich beiße nicht", missverstand die Wissenschaftlerin die Situation.
Der Sträfling dachte nicht daran, die Dinge klarzustellen, denn das Sichtfeld hellte sich wieder auf. Es zeigte einen Korridor aus der Position einer Decken-Kamera. Es überraschte ihn nicht, Dr. Hahn vor der Tür zu jenem Raum stehen zu sehen, in dem er und Dr. Sandra sich gerade befanden. Neben dem Nanotechniker ragte ein Mann auf, den Maynard nicht kannte, kompakt, mit kantigem Gesicht. Nautilus blendete einen Datensatz ein, der aber nicht viel hergab. Demnach handelte es sich um Igor Baresch, den lokalen GRATIOLET-Sicherheitschef. Einige Meter weiter stand ein halbes Dutzend gelangweilt wirkender Aufseher. Während die stellvertretende Nautilus-Projektleiterin ihren nach Tabakrauch und Pfefferminzbonbons riechenden Atem in eindeutig verführerischer Absicht über seine Wangen und die Halsgrube streichen ließ, schrillten bei ihm sämtliche Alarmglocken. Er packte ihre Handgelenke und schleuderte sie von sich. Im Fallen griff sie wahllos um sich, erwischte das Tablett und landete inmitten der umherfliegenden Instrumente auf dem Boden. Der Schwung war stark genug, dass sie sich wie eine Katze abrollen konnte und gleich darauf wieder auf den Beinen stand, während die Instrumente noch einen scheppernden Tanz aufführten.
Dr. Sandra wirkte keinesfalls erschrocken. Geduckt stand sie da und wartete auf einen weitere Attacke, die aber nicht kam. Maynard saß ruhig auf dem Bett. Seine Hände umklammerten den Stahlrahmen so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Die Wissenschaftlerin fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. Als ihn ein unergründlicher, sezierender Blick traf, wusste Maynard, die Vorführung war beendet. Vor ihm stand wieder die altvertraut unterkühlte Molekularbiologin, für die er nur ein weiteres Versuchskaninchen zum Zweck der beruflichen Selbstverwirklichung war.
"In Ordnung, Maynard", sagte sie leise. "Ich weiß nicht, worüber Sie sich derart aufregen, aber ich gehe jetzt wohl besser."
Maynard Kipling nickte. "Und ich weiß nicht, was hier gespielt wird, aber ich bekomme den Eindruck, dass Nautilus nicht nach ihrer Pfeife tanzen will."
Die Wissenschaftlerin ging zur Tür ohne zu antworten.
"So ist es doch, nicht wahr? Was auch immer Sie mit dem Theater bezweckten, Sie hätten es sich ersparen können. Ein genauer Blick in meine Strafakte hätte genügt."
Sie hatte die Hand bereits auf der Türklinke, als sie sich umdrehte und ihn immer noch wortlos musterte. Sie sah hinreißend aus, gar keine Frage.
"Ich stehe nicht auf Frauen, okay? Es sei denn, sie sehen aus wie Brad Pitt." Er lächelte matt, als er das sagte. Die Wissenschaftlerin hob in altbekannter Manier die Augenbrauen und stieß einen kehligen Laut aus. Sie riss die Tür auf und schlug sie vehement hinter sich zu.
Maynard Kipling nahm das Glas und trank einen Schluck. Irgendwie hatte er das Gefühl, einen billigen Sieg davon getragen zu haben. Er sah nicht auf, als sich die Tür wieder öffnete und Dr. Hahn lautlos das Zimmer betrat. Als ihre Blicke sich schließlich trafen, wartete eine neue Überraschung auf den Sträfling. Der Nanotechniker zeigte offen seine Angst vor ihm.

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Igor Baresch rangierte im Nautilus-Team auf einem Level mit den Chefwissenschaftlern. Seine Aufgabe war die Gewährleistung der äußeren und inneren Sicherheit. Er erledigte seinen Job unter Ausschluss jeglicher Emotionen, aber das störte Dr. Sandra nicht wirklich.
"Die Geschwindigkeit, mit der Maynard auf die Datenbänke und elektronischen Überwachungseinrichtungen zurückgreift, ist Besorgnis erregend", stellte der Sicherheitschef nüchtern fest, nachdem Dr. Hahn im Aufwachraum verschwunden war. Er verschränkte die Arme vor der Brust. Wie zufällig verschwand seine rechte Hand unter dem Sakko, öffnete die Sicherungsschlaufe des Schulterhalfters und legte sich auf den Griff der Walther-Automatik. Die Wissenschaftlerin war viel zu aufgewühlt, um auf solche Dinge zu achten. Sie lehnte sich an die Korridorwand, schloss die Augen und massierte ihre Nasenwurzel zwischen Daumen und Zeigefinger.
"Dieser Mistkerl steht auf Männer ...", murmelte sie.
"Die Aktion führte zum erwünschten Ergebnis", fuhr Baresch fort, ohne auf ihre Worte einzugehen. "Maynard hat den noch schwachen Nautilus wie erwartet für seine Zwecke einspannen können, ohne um diese Fähigkeit zu wissen. Der Proband war für kostbare Minuten bestens abgelenkt. Und bedenken Sie den Wert der gewonnenen Daten für die zukünftige Forschung." Er warf einen Blick auf eine Digitalanzeige am Hauptterminal. "Noch zweiundzwanzig Minuten, dann erreicht Nautilus seine volle Leistungskapazität – wenn die Rechnung aufgeht. Ihre Prognose, Angela?"
Die grünen Augen der Wissenschaftlerin funkelten. "Die Rechnung wird aufgehen, darauf können Sie Gift nehmen! In diesem Projekt stecken fünf Jahre harter Arbeit und mehr als sechzig Millionen Euro Forschungsgelder. Für diese Summe kann man doch einiges erwarten, oder? Proband Maynard ist der erste am Leben gebliebene Nautilus-Träger, allein das macht ihn zu etwas Besonderem. Wenn die Sache schiefgeht, müssen wir den Minirechner per operativen Eingriff ausschalten. Mir geht es hier aber nicht um das armselige Leben des Sträflings, sondern um die erneute Verzögerung. Sie wissen, wie lange es dauern kann, ehe ein neuer geeigneter Proband gefunden wird."
Baresch nickte mechanisch. "Trotzdem werde ich Kipling eliminieren, wenn er sich als eine Bedrohung für das Nautilus-Projekt erweisen sollte." Er zog die Waffe und hebelte eine Patrone in den Lauf. "Immerhin, er ist ein verurteilter Raubmörder mit einem erheblichen Maß an krimineller Energie, und Nautilus ist, wenn man ihn zu nutzen weiß, eine gefährliche Waffe. Ich werde kein Risiko eingehen."
Sein Blick wanderte von ihren Brustwarzen, die sich unter dem dünnen Morgenmantel, den sie nun trug, deutlich abzeichneten, hin zu ihrem Gesicht.
Die Wissenschaftlerin sah ihn verächtlich an. "Für Leute Ihres Schlages scheint es immer nur eine Lösung zu geben."
"Warten wir es ab", erwiderte er sanft. "Warten wir es einfach ab." Er deutete auf ein neben der Tür stehendes, mit High-Tech-Gerät vollgepacktes Rack. Dr. Sandra stieß sich von der Wand ab und klemmte sich eines der Headsets hinter das rechte Ohr. Die Stimmen des Nanotechnikers und des Sträflings waren klar und deutlich zu hören. Natürlich war der Raum verwanzt. Baresch und Hahn hatte jedes Wort der Unterhaltung zwischen Kipling und Sandra mitgehört. Der Sicherheitschef hob den Arm und winkte die Aufseher mit der Pistole heran. Die Männer drückten eilig ihre Zigarettenkippen aus. Ihre Schritte dröhnten durch den Korridor, aber Baresch war es ziemlich gleichgültig, ob Kipling das mitbekam. Er war fest davon überzeugt, dass der Proband in wenigen Minuten nicht mehr leben würde, sechzig Millionen Euro hin oder her.
Er sollte sich täuschen.

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"Sie waren nicht auf alle Eventualitäten vorbereitet, was?", unterbrach Maynard das peinliche Schweigen.
Dr. Hahn ergriff einen Stuhl und ließ sich darauf nieder, wobei er darauf achtete, möglichst viel Platz zwischen sich und den Sträfling zu bringen. "In der Theorie - ja. Die Feinjustierung zwischen Nautilus, den Chiplinsen und den UniComps hat jedoch einen Grad an Komplexität erreicht, den wir nicht für möglich gehalten haben. Das Projekt bezeichnet ein Verfahren, bei dem die mikrotechnisierte Flüssigkristallfolie mit dem Auge und Nautilus als koordinierende Schnittstelle eine kybernetische Einheit bilden soll. Das Auge als Monitor - eine beispiellose technische Revolution." Er stockte und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
"Erklären Sie es so, dass ich es verstehe", sagte der Sträfling.
"Natürlich. Der Nautilus hat Ihr brachliegendes Gehirnpotential aktiviert, mein Lieber, und das war nicht vorgesehen. Er nutzt im Augenblick geschätzte dreißig Prozent ihres Denkapparates als eine Art Zwischenspeicher, das haben unsere Analysen und Hochrechnungen ergeben, Tendenz steigend. Man könnte auch sagen, Nautilus fühlt sich in der Kernregion ihres Gehirns äußerst wohl, er hat sich sozusagen häuslich eingerichtet."
"Sie glauben, dass die Aktivierung der Chiplinsen eine Art Lernprozess in Gang gesetzt hat, dass Nautilus einem Intelligenzwerdungsprozess unterliegt, der nicht vorhersehbar war?" Maynard schluckte. "Welche Konsequenzen ergeben sich für mich aus dieser Situation, Doktor?" Diesmal konnte der Sträfling ein Zittern seiner Stimme nicht mehr unterdrücken.
"Wir werden einige Nachbesserungen vornehmen. Wir werden eine zweite OP durchführen, heute, spätestens morgen."
Der Sträfling stieß ein Keuchen aus, als urplötzlich ein wilder Adrenalin-Kick seinen Herzschlag beschleunigte. Der Quantenrechner ließ die Fadenkreuze auf den Chiplinsen rot pulsieren.
"Nautilus gibt mir zu verstehen, dass ich Ihnen nicht trauen kann, Doktor", presste Maynard hervor. "Er ist nicht damit einverstanden, dass Sie ihm seinen gerade gewonnenen Ausblick in die Welt nehmen wollen."
"Natürlich glaubt er – glauben Sie das", erwiderte der Nanotechniker. "Sehen Sie, das sind die ersten Auswirkungen der Fehlfunktion. Nautilus ist bereits in der Lage, Ihnen verfälschte Sachverhalte vorzugaukeln." Der Unterkiefer des Wissenschaftlers sackte nach unten. Dr. Hahn stieß eine Reihe von Tönen aus, die der Sträfling als eine Art trauriges Gelächter klassifizierte.
Maynard Kipling lauschte in sich hinein. Seine Erregung paarte sich mit der maschinellen Logik des Nautilus, erzeugte einen unbeschreiblichen Gleichklang der visuellen Wahrnehmung und zeigte Problemlösungen mit einer Geschwindigkeit auf, gegen die selbst eine leistungsstarke Internet-Suchmaschine veraltet wirkte. Und Nautilus, der sich in seiner Existenz bedroht sah, offerierte dem Sträfling eine Menge interessanter Möglichkeiten. Maynard-Nautilus-Kipling beschloss, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

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"Carlo redet sich um Kopf und Kragen!" Die Molekularbiologin machte Anstalten, das Zimmer zu stürmen. Igor Baresch hielt sie mit eisernem Griff zurück.
"Lassen Sie mich los, Sie tun mir weh!", fauchte sie. Der Sicherheitschef zog sie unerbittlich einige Meter zurück. Sein Gesicht zeigte keine Regung als er sagte: "Hahn versucht nur Zeit zu schinden, und er macht seine Sache gut, besser als Sie, würde ich sagen." Er nickte mit dem Kinn auf das Sicherheitspersonal. "Wir können jederzeit reingehen, aber den Zeitpunkt bestimme ich, ist das klar?"
Die Wissenschaftlerin atmete tief durch und sah ihn hasserfüllt an. "Okay." Und leiser, damit es die Aufseher nicht hören konnten: "Damit tragen Sie die Verantwortung, das ist Ihnen klar, oder? Egal, wie die Sache ausgeht, die Firmenleitung wird sich dafür interessieren, warum wir ohne Rücksprache mit dem Senat gehandelt haben. Wenn es herauskommt, dass wir eine Nautilus-Fehlfunktion behoben haben, ohne ihn zu informieren, kostet uns das den Job."
"Noch haben wir gar nichts behoben", gab Baresch ebenso leise zurück. "Und wenn es uns nur den Job kosten sollte, haben wir noch Glück gehabt." Er gab sie frei und sah auf die Uhr. "Noch acht Minuten bis zur vollständigen Aktivierung des Quantenrechners. Reißen Sie sich zusammen, Angela."
Sie ließ die Schultern hängen und schüttelte den Kopf. "Wir haben die Sache falsch angefasst. Wir hätten Maynard noch während der Narkose fixieren sollen. Wir hätten einfach den Ablauf des Countdowns abgewartet. Viel schlimmer hätte das auch nicht werden können."
"Sie irren sich", widersprach der Sicherheitschef. "Nautilus hat durch die biomotorische Verzahnung einen gesunden Selbsterhaltungstrieb entwickelt. Eine Fesselung des Trägerkörpers hat keinerlei Einfluss auf seinen potenziellen Aktionsradius. Er ist dem konventionellen UniComp-Verbund haushoch überlegen, kann, wenn er sich bedroht fühlt, ein heilloses Chaos anrichten, wenn er einen Weg findet, das Intranet zu verlassen, um ins Internet vorzudringen. Er wird Kipling an seinem Wissen teilhaben lassen. Kein Computer auf dieser Welt wird vor diesem Gespann sicher sein. Und die Zugriffszeiten bewegen sich im Nanosekundenbereich. Die Vielfalt seiner Möglichkeiten bis zum Ende des Countdowns, und wenn es sich nur um Minuten handelt, brauche ich Ihnen im Einzelnen nicht zu erläutern."
Aus den Headsets drang ein Lachen. Sie führten synchron ihre Hände an die Ohrmuscheln.
"Sie sind ja verrückt!", wisperte die Stimme des Nanotechnikers in den Empfängern. "Angela ... Doktor Sandra ist über jeden Zweifel erhaben. Ich weise den Vorwurf der Industriespionage entschieden zurück!"
Igor Baresch sah die Wissenschaftlerin an. Dr. Sandras Augen weiteten sich. Sie hob abwehrend beide Hände.
"Sie unterschätzen ihre eigene Schöpfung, Doktor", antwortete Maynard. "Nautilus hat uneingeschränkten Zugang zum Intranet. Ich kann harte Fakten aufzeigen. Es existieren keine schriftlichen Beweise. Auch hat sie sich nicht dazu hinreißen lassen, Top-Secret-Daten über das Netzwerk nach draußen zu schleusen. Aber sie hat Komplizen, zwei Laboranten des Technik-Decks, und ich verfüge über eindeutige Kameraaufzeichnungen der entsprechenden Operationszentrale."
Es folgte ein kurzes, empörtes Schweigen. Der Sicherheitschef hob die Waffe und richtete sie auf die Wissenschaftlerin.
"Das ist ja lächerlich! Ich!" Sie verstummte, als er den Schlagbolzen zurückzog.
"Festnehmen!"
Die Aufseher zögerten unmerklich, kamen dem Befehl aber nach. Sekunden später hockte die Molekularbiologin mit auf den Rücken gefesselten Händen auf dem Boden. Baresch zückte ein Handy und tippte eine Zahlenkombination ein.
"Baresch hier. Geben Sie stillen Vollalarm für die beiden Zehnerschaften der Operationszentrale. Riegeln Sie das Technik-Deck ab. Alle anwesenden Personen sind vorläufig festzunehmen. Legen Sie Hochspannung auf alle Zäune im inneren Trakt und schließen Sie die Außengatter. Ja, wir haben einen Code zwei. Baresch, Ende."
"... mich raus! Lassen Sie mich auf der Stelle gehen! Dieser Raum ist verwanzt, Mann. Die da draußen hören jedes Wort mit. Wenn Sie nicht augenblicklich den Weg frei machen, reiten Sie sich immer weiter in die Sch... "
Baresch taumelte, als er einen heftigen Stoß in die Magengrube erhielt. Die Wissenschaftlerin war aufgesprungen, traktierte ihn mit Kopf und Füßen, bis er mit einem dumpfen Poltern gegen die Tür prallte. Der Sicherheitschef bekam mit der linken Hand den Hals der Frau zu fassen und zog sie an seine Brust. Sie röchelte und hielt still.
"Gehen Sie rein!", quetschte sie undeutlich hervor. "Um Gottes Willen, bringen Sie den Kerl zum Schweigen."
Baresch hob abwehrend die Waffe, als die Aufseher mit Schlagstöcken und Pfefferspray bewaffnet das Zimmer stürmen wollten. Sie hielten inne, stumm und ratlos, als ein gellender Schrei durch die Tür drang und ein schwaches Echo auf den Korridorwänden erzeugte.
Baresch hieb mit dem Pistolenlauf auf die Türklinke und stand mit einem Satz im Raum. Die Aufseher blieben im Türrahmen stehen, bereit einzugreifen.
Maynard Kipling lächelte sie freundlich an. Sein linker Arm umklammerte den Hals des Nanotechnikers. In seiner rechten Hand lag ein Skalpell.
Die Klinge glitt in das linke Auge des Wissenschaftlers wie in Butter. Dr. Hahn stieß Laute aus, die nahe der Hörgrenze angesiedelt waren und den Anwesenden Schauer über den Rücken jagten.
"Kommen Sie einen Schritt näher, und Hahn ist tot", sagte der Sträfling freundlich. "Und nehmen Sie die Hände von Angela, Baresch. Ich darf Sie doch so nennen – Angela?"
Der Sicherheitschef gab die Wissenschaftlerin frei. Die Mündung der Waffe zeigte auf Maynards Stirn. Abdrücken konnte er nicht, denn der Nanotechniker befand sich im Schussfeld, wand sich im Klammergriff des Sträflings, der Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben.
"Halten Sie still, Carlo, sonst rammen Sie sich aus Versehen die Klinge in den Kehlkopf", sagte Baresch in neutralem Tonfall. Der Wissenschaftler erstarrte, aber er musste sich schwer gegen seinen Peiniger lehnen, um nicht zusammenzusacken. Blut und andere Flüssigkeiten liefen über sein Gesicht, tropften auf Maynards Unterarm und sprenkelten den weißen Laborkittel.
"Ich habe den Zoom auf den Zeigefinger Ihrer rechten Hand ausgerichtet, Baresch", sagte der Sträfling scharf. "Beim kleinsten Zucken des Abzugs schneide ich dem Fettsack die Kehle durch."
Der Sicherheitschef nickte und senkte die Waffe. "Aus Ihrer so eindrucksvoll in Szene gesetzten Flucht wird nichts, Kipling." Er sah auf die Uhr. "Ihre Zeit ist abgelaufen."

Szenentrenner


Das Lächeln des Sträflings gefror. Sie alle sahen, wie sich seine Nasenflügel blähten. Dann ging ein Zittern durch seinen Körper, gefolgt von einem gequälten Stöhnen. Er entspannte sich zusehends.
Igor Baresch fand es an der Zeit herauszufinden, woran er war. "Der Countdown ist ausgezählt, bestätige die Aktivierung", sagte er laut und deutlich.
Ihre Blicke trafen sich. Der Proband nickte. "Aktivierung erfolgreich. Objekt Maynard wurde erfolgreich integriert. Ihre Anweisungen?"

Szenentrenner


Nautilus ließ das Skalpell fallen und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Der Nanotechniker fiel schwer zu Boden und rührte sich nicht mehr. Auf dem Korridor wurde Stimmen laut. Jemand schrie nach einem Notfall-Team. Zwei Aufseher betraten das Zimmer und schleiften Dr. Hahn an den Armen hinaus. Irgendwo in den Tiefen der Operationszentrale heulte eine Sirene auf.
"Meldung!", sagte Baresch.
"Nautilus, militärisches Grundmodell", sagte der Quantenrechner liebenswürdig. "Ich nehme an, Sie haben einige Fragen, die ich gerne bereit bin zu beantworten."
"Den Ablauf der letzten Minuten aus deiner Sicht, in einfachen Worten", befahl der Sicherheitschef.
Nautilus lächelte. "Wie Sie wünschen. Der Verzahnungsprozess wurde exakt zu dem von Doktor Hahn errechneten Zeitpunkt abgeschlossen. Jedoch war ich schon vor Ablauf des Countdowns in der Lage, einen Großteil der Bio-Einheit unter meinen Willen zu zwingen."
"Du meinst", keuchte Dr. Sandra, "du hättest die Geiselnahme verhindern können?" Sie starrte ihre Kreation mit einer eigentümlichen Mischung aus Angst und Faszination an.
"Was bin ich, Doktor?", stellte Nautilus überraschend eine Gegenfrage.
Die Wissenschaftlerin zerrte an ihren Fesseln und stieß einen nicht gerade damenhaften Fluch aus.
Nautilus bedachte sie mit einem unergründlichen Blick. "Bin ich immer noch eine Maschine, jetzt, wo mir das Potenzial eines menschlichen Gehirns zur Verfügung steht? Oder bin ich immer noch Maynard Kipling, der seine Persönlichkeit zugunsten der maschinellen Vollkommenheit eines Quantenrechners in den Hintergrund gestellt hat?"
"Beantworten Sie die Frage des Doktors", sagte Igor Baresch.
"Natürlich, entschuldigen Sie. Um Affekthandlungen der Bio-Einheit vorzubeugen – zu denen sie durchaus noch in der Lage gewesen wäre - suggerierte ich ihr einen sicheren Erfolg der Geiselnahme. Ich bedauere, dass Dr. Hahn hierbei zu Schaden gekommen ist, aber um den Ablauf des Countdowns nicht zu gefährden, sah ich mich zu dieser taktischen Maßnahme gezwungen."
"Wie verhält es sich mit den Anschuldigungen der Industriespionage die Person Angela Sandra betreffend?" Igor Baresch warf der Molekularbiologin einen raschen Blick zu.
"Die Anschuldigungen entsprechen den Tatsachen. Trotzdem muss ich Sie darum bitten, Angela nicht zu eliminieren."
Dem Sicherheitschef verschlug es die Sprache.
"Bitte", wiederholte Nautilus. "Ich bestehe darauf."
"Was um alles in der Welt ..." Dr. Angela Sandra wich langsam zurück.
Igor Baresch kniff die Augen zusammen. Sein Blick pendelte zwischen Nautilus und der Wissenschaftlerin. "Was hast du vor, Nautilus?"
Der Negativ-Cyborg lächelte puppenhaft und antwortete: "Es mag Sie überraschen, aber mit fortschreitender Verzahnung gegen Ende des Countdowns bin ich auf die faszinierende Möglichkeit der biologischen Reproduktion gestoßen. Wenn Angela sich dazu bereit erklärt, mein Genmaterial in die nächste Nautilus-Generation zu transportieren, verzichte ich im Gegenzug auf die Ausschöpfung der mir innewohnenden kriminellen Energie des Maynard-Trägerkörpers."
Dr. Angela Sandra versuchte zu fliehen. Sie prallte gegen Baresch, der sie mit einem beiläufigen Griff daran hinderte.
"Nein!", kreischte sie. "Jagen Sie dem Monster eine Kugel in den Kopf! Ich tue alles, was Sie wollen, alles!"
"Ich werde in allen Belangen mit Ihnen zusammenarbeiten", fuhr Nautilus an Baresch gewandt fort. "Beseitigen Sie die beiden anderen Spione. Auch Angela wird das Firmengelände nicht mehr verlassen können, sie weiß zuviel." Er wandte sich direkt an die Wissenschaftlerin. "Wie viele Probanden sind unter deinen Händen gestorben, Angela? Ein Dutzend? Mehr?"
Er setzte sich in Bewegung, ging auf sie zu. Sie sah ihm in purem Entsetzen entgegen, konnte sich nicht von der Stelle rühren. Igor Baresch trat stumm zur Seite und ließ ihn passieren. Als er die Waffe zurück ins Halfter steckte, wusste die Wissenschaftlerin, was die Stunde geschlagen hatte.
"Nein", hauchte sie. "Das können Sie mir nicht antun, bitte!"
"Du hast phantastisch ausgesehen, vorhin, als du nackt warst", sagte Nautilus. "Im Gegensatz zur Bio-Einheit Maynard Kipling hat mich das durchaus erregt – so sagt man doch?" Er trat vor sie hin und nahm sie ungelenk in die Arme. "Wir beide werden sehr viel Spaß miteinander haben."
Dr. Sandras Schreie verhallten unbeachtet in den weitläufigen Korridoren.

11. Feb. 2008 - Jörg Isenberg

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