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Der große Rock'n'Roll Schwindel
von Thomas Sabottka

Butow Maler Butow Maler
© http://butowmaler.com/
»Das muss man sich mal vorstellen!« Harry wedelte wie ein Bekloppter vor meinen Augen herum, dass ich Angst hatte er würde die Biergläser zwischen uns vom Tresen fegen. Vorsichtshalber schob ich sie ein wenig aus seiner Reichweite und überlegte, ob es wirklich Sinn machte, ihm, in dem Zustand, in dem er sich gerade befand, noch ein weiteres Bier zu bestellen. Ich lehnte mich etwas zurück, da sein Atem Tropfen versprühte und schnappte mir mein eigenes Glas. Sozusagen als Deckung. Eine Katze, die aufgeregt mit dem Schwanz peitscht, kann auch schon mal ungewollt eine Vase vom Tisch wischen. Oder erst ein Alligator... ein ziemlich dicker Alligator wenn man es genau nimmt. Einer, der drei ausgewachsene Männer mit seinem Schwanz umhaut. Da war es schon sinnvoll, sich in Deckung zu bringen, wenn Harry Reinsberg erstmal in Fahrt war, wenn er sich aufregte, dann war er nicht mehr zu bremsen, Sie haben das ja bestimmt schon mal erlebt... Was? Sie kennen Harry nicht? Harry Reinsberg. Groß, dick, lange Haare, oben drauf schon recht kahl, da schimmert ein glänzender Mond durch. Trägt immer Jeans mit breiten Gürteln und schweren Schnallen. So Silberdinger mit Türkis oder Totenköpfen verziert. Oben rum Shirts, darüber ein Jackett aber unten, an den Füßen, immer Cowboystiefel. Und was für welche. Da würden sich etliche von den Schmalspurzuhältern aus dem Rotlichtviertel alle zehn Finger nach lecken. Die Teile lässt Harry sich aus den USA direkt liefern. Handgefertigt.
Sie wissen immer noch nicht, wen ich meine?
Dann kennen Sie sich mit Rockmusik nicht so aus, oder? Harry war in den Achtzigern eine ganz große Nummer, wenn es um guten Musikjournalismus ging. Er war mit Iron Maiden auf Tour und hat darüber exklusiv im ME geschrieben. Hat Kiss als erster ohne Schminke gesehen, Metallica haben ihm ihr „Master of Puppets“ zuerst vorgespielt... aber dafür sind Sie wahrscheinlich noch zu jung, oder? Um Harrys Artikel haben sich alle gerissen. Der NME, der Rolling Stone... nein, nicht diese deutsche Schmalspurausgabe, der echte... und dann sein Buch. Harry Reinsberg „Der große Rock’n’Roll Schwindel“... nie gehört? Die Bibel schlechthin. Ja, der Titel ist von den Sex Pistols, klar, soviel wissen Sie... aber was Harry da über das Business geschrieben hat, wie es so abläuft, die großen Bosse, die Labels, die Magazine, die Anfänge von MTV... das ist ein Leitfaden für jeden, der auch nur ansatzweise darüber nachdenkt, ob er sich mal mit einer E-Gitarre auf die Bühne stellen soll.
Jedenfalls ist Harry dann Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger verschwunden. Keiner wusste wohin. Es gibt bis heute einen Haufen Idioten, die behaupten ihn gut gekannt zu haben und wie schade es doch sei, dass er nicht mehr dabei sei... Ich sage Ihnen: Alles leeres Geschwätz. Keiner von denen hat ihn gekannt. Ich! Ich kenne ihn, weil ich ihn vor einem halben Jahr entdeckt habe. In einem kleinen Tabakladen, so einen, wo man auch Zeitungen und Bier kauft. Ich war ja erst vor einigen Tagen in die Stadt gezogen und nur schnell auf’n Sprung noch runter, Zigaretten holen. Er war gerade mit einem Lieferanten beschäftigt, der ihn mit „Herrn Reinsberg“ ansprach, darum sah ich mich unter den Musikzeitungen um. Plötzlich stand er hinter mir, fing an, sich über die Zeitung auszulassen, die ich in der Hand hielt, nahm sie mir weg, gab mir ein anderes Magazin und stellte sich als „Harry“ vor. Ich kapierte es aber erst, als ich mit Zigaretten, einem SPEX und einem Sixpack Bier wieder in meiner Wohnung stand, wo sich noch die Umzugskartons stapelten. Harry? Lange Haare, Motörhead-T-Shirt? Harry Reinsberg? Ich schlug mir mit der Hand gegen die Stirn. Von da an, war ich fast jeden Tag bei ihm. Wir wurden Freunde.
»Und das war ja dann noch nicht mal DIE Brille. Ich verstehe die Welt nicht mehr.« Er schüttelte den Kopf und trank sein Bier leer. Und die Welt verstand Harry nicht mehr. Schon lange nicht. Soviel war mal klar. Für alle, die ihn jetzt so sehen würden, wie er mit mir hier in der Kneipe saß, die, die ihn ja so gut gekannt hatten, wäre er nur noch ein abgehalfterter Exjournalist, der sich mit Anekdoten aus den Backstagebereichen des Rock’n’Roll wichtig tat. Für mich war er eine lebende Legende. Seit ich angefangen hatte zu schreiben und meine ersten Artikel sogar für ein paar Mark in kleineren Magazinen unterbringen konnte.
Im Laden hatte Harry Bilder von Leuten wie Janis Joplin, Marc Bolan, Brian Jones, Jim Morrison, Jimi Hendrix, Elvis Presley, Bon Scott, Kurt Cobain und anderen an den Wänden. Als ich ihn darauf ansprach, dass es sich dabei doch um eine ziemlich wirre Mischung handelte, meinte er, dass es bei den Bildern nicht um die Musik ginge.
»Alles Leute die irgendwie an Autounfall, Drogen, Alkohol, Tabletten, Suizid... gestorben sind. Das ist nämlich das Rock’n’Roll Gesetz, Junge. Du musst einfach so abtreten. An deiner Kotze ersticken oder so was... oder noch besser: John Lennon!«
Ja, das war es! Am 08. Dezember 1980 wurde in New York John Lennon erschossen. Die Titelseite des TIME, mit der blutbefleckten und gesprungenen Nickelbrille hing ebenfalls eingerahmt über der Theke.
»Das ist es, Mann! Das ist es! Rock’n’Roll ist, wenn du umgebracht wirst.«
Eine weitere Version dieser Rock’n’Roll Philosophie war, dass im Grunde die Täter, die also, die einen Musiker oder Sänger erschossen, die Helden seien.
»Ohne die Attentäter hätte sich die Welt für die meisten von den Pfeifen doch gar nicht interessiert«, meinte er. »Wer kannte denn schon Theo Van Gogh, hä? Oder war Tupac Shacur wirklich ein guter Musiker?«
Harry war der Meinung, dass man von den meisten sogenannten Promis und Stars erst nachdem sie von einem Attentäter ermordet wurden überhaupt etwas hörte. Oder eben wieder etwas hörte, weil ihr Stern eigentlich schon längst gesunken war, sie aber durch ihren frühen, gewaltsamen, von fremder Hand herbeigeführten Tod, sie noch einmal Stars sein konnten. Für fünfzehn Minuten. Die berühmten fünfzehn Minuten, die Andy Warhol gemeint hat. Heutzutage, in den ganzen Castingsshows, käme man unterm Strich eigentlich nur auf dreieinhalb Minuten, meinte Harry. Die durchschnittliche Zeit eines One-Hit-Single-Titels. Das war‘s. Alles drum herum... vergiss es!
»Vielleicht, wenn jemand einen von diesen Teenagern mal erschießen würde? «
Sie sehen, was ich meine? Der Gedanke faszinierte ihn. Ich sah auf die Uhr. Es war spät. Morgen musste ich ziemlich früh in der Redaktion einer Zeitung sein. Nicht nur ziemlich früh, auch ziemlich fit. Ein Bewerbungsgespräch. Auch wenn ich mich nicht bei der Sparkasse auf die Stelle als Kreditvermittler bewarb, kann ich mir gut vorstellen, dass die Typen da keinen verkaterten Möchtegernschreiberling wollen. Ich trank mein Bier aus und gab Harry ein Zeichen. Der nickte nur flüchtig, da er mit seiner Rede noch nicht am Ende angelangt war.
Denn nun wurde John Lennons Brille versteigert. Für einen absolut utopischen Preis.
»Es war aber nicht DIE Brille von damals. Nein. Irgendeine seiner Kackbrillen, die er sonst noch so hatte.« Harry redete sich gerade richtig in Rage. »Und wenn er damals nicht erschossen worden wäre, dann könnte man diese Nickelbrille nicht jetzt für ein paar Millionen verkaufen. Seine Nickelbrille, Mann. Verstehst Du? Im Grunde müssen sich die Penner bei seinem Attentäter bedanken, dass er ihnen so eine wunderbare finanzielle Entwicklung verschafft hat. Apropros, Finanzen... «
Er unterbrach seinen Gedankengang und sah mich an.
Ich kannte diesen Blick.
»Lass man, kein Problem«, winkte ich ab, dann gab ich dem Kellner ein Zeichen.
»Danke Mann«, nuschelte Harry, der sich etwas beruhigt hatte.
Als ich die Rechnung bezahlte, warf der Kellner Harry so einen komischen Blick zu.
»Na, Reinsberger? Wann bezahlst du eigentlich mal wieder selbst deine Zeche?«
»Kann Dir doch egal sein, wer das Bier bezahlt«, knurrte Harry ihm entgegen. Er war schon wieder ziemlich geladen. Ich versuchte, ihn daran zu hindern, sich jetzt auch noch an der Sache hochzuspielen und sich mit dem Kellner anzulegen und zerrte ihn aus der Kneipe. Den Weg in Richtung meiner Wohnung und seines kleinen Tabakladens, in dessen Hinterräumen er illegalerweise auch immer öfter die Nacht verbrachte, schaffte ich nur unter ziemlicher Anstrengung. Ich hatte das mit dem Alligator wirklich genauso gemeint. Harry war groß und schwer, momentan ziemlich angetrunken und vor allem auf Einhundertachtzig. Abwechselnd regte er sich über die Geschichte mit Lennons Brille und über den blöden Kommentar des Kellners auf.
»So viel Knete bräuchte ich. Ganz im Ernst. Wenn einer den ich kenne, so abtreten würde und ich hätte vorher von ihm etwas bekommen... «
Das waren Ideen, über die ich lieber nicht länger mit ihm diskutieren wollte.
An seinem Laden angekommen fiel mein Blick auf ein ziemlich amtlich aussehendes Schreiben, dass an die Glasscheibe der Tür geklebt worden war. Ich kann mich aber auch getäuscht haben. Bevor ich es genauer unter die Lupe nehmen konnte, hatte Harry es abgerissen und in die Tasche seines Jacketts geknüllt, dann schloss er die Tür umständlich auf und knipste das Licht an.
»Noch’n Absacker?« nuschelte Harry.
Eigentlich wollte ich ja ins Bett. Aber irgendwie fiel mir gerade in dem Moment auf, dass der Kellner ja eigentlich recht hatte und die Chance, dass Harry wenigstens ein Bier aus seinem Ladenbestand spendierte, wollte ich mir dann doch nicht entgehen lassen. Ich nickte und trat hinter ihm ein.
»Nimm dir schon mal eins«, wies er mich an, warf sein Jackett achtlos über die Theke und stapfte nach hinten. »Mann, muss ich pissen«, brüllte er.
Ich schnappte mir ein Bier, trödelte damit, nur kleine Schlückchen trinkend eine Weile im Laden herum, dann, ich weiß nicht was mich geritten hatte, griff ich in die Tasche seines Jacketts und sah mir das Schreiben genauer an. Vorsichtig knüllte ich es, mit einem Ohr immer nach der Klospülung lauschend, auseinander.
„Amtlicher Versteigerungstermin am... „
Verdammte Scheiße, dachte ich. Das war jetzt am Wochenende. Die wollten seinen Laden versteigern. Aber sowas brauchte er doch vor mir nicht geheimzuhalten. Da würde man doch sicher eine Lösung finden. Ich steckte das Schreiben wieder zurück und trank einen ausgiebigen Schluck. Die Absicht, früh ins Bett zu gehen, war verflogen. Ich wartete und lauschte. Es war seltsam still am anderen Ende, hinter der angelehnten Tür, die nach hinten aus dem Laden in die Büroräume und zum Klo führte. Ohne weiter drüber nachzudenken, griff ich mir aus reiner Langeweile die aktuelle Ausgabe des ME, die erst heute erschienen war. Auf der Titelseite prangte eine Schlagzeile mit einem Foto, die sich mir erst nach und nach ins Hirn brannte. Richtig bewusst darüber, was da stand und welche Auswirkungen das nicht nur auf den Rock’n’Roll, sondern auch auf mein ganz persönliches Leben hatte, wurde es mir erst, als das Geräusch der Klospülung schon beinahe wieder verklungen war und Harry vor mir in der Tür stand.
Harry?
Wie hatte der Kellner gesagt?
Reinsberger.
Und auf dem amtlichen Bescheid hatte auch gestanden:
Harald Reinsberger.
Sechs Monate lang war ich dem größten Irrtum meines Lebens aufgesessen. Oder sollte ich ironischerweise sogar sagen: Schwindel?
Ich sah ihn an und das Magazin glitt mir aus den Händen...
»Was glaubst du eigentlich, was man für deine Brille kriegt, oder für deinen letzten Artikel?«, fragte er mit unschuldigem Gesichtsausdruck, über den Lauf einer, im milchigen Neonlicht des Ladens, sanft glänzenden Pistole.
... und landete mit der Titelseite nach oben auf dem Boden.
Harry Reinsberg ist tot! Die Musikjournalismusikone der Achtziger, Autor des Buches „Der große Rock’n’Roll Schwindel“, der Anfang der Neunziger spurlos verschwand, ist nach Angaben seiner Familie schon vor zehn Tagen an den Folgen seiner jahrelangen Alkoholsucht in einer Klinik gestorben...
Butow Maler
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09. Apr. 2008 - Thomas Sabottka

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