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Das Erbe der Tante
von Sören Prescher

Gaby Hylla Gaby Hylla
© http://www.gabyhylla3d.de/
Es war an einem trüben Nachmittag Mitte November, nicht lange nachdem sich der junge William Bates von uns verabschiedet hatte. Da meine Frau über das Wochenende zu einer Freundin nach Liverpool gefahren war, beschloss ich, meinem Freund Sherlock Holmes einen Besuch abzustatten. Ich fand ihn in seinem Sessel, nachdenklich und an seiner Pfeife ziehend. Seine Augen musterten mich sorgfältig.
„Sie bringen nicht zufällig einen neuen Fall mit?“, fragte er.
„Leider nein.“
„Wie schade! Ein wenig Zerstreuung wäre mir gerade recht gekommen. Aber vielleicht ändert sich das in wenigen Augenblicken.“
„Wie kommen Sie darauf? Erwarten Sie Besuch?“
„Keinen Besuch, Watson. Aber während Sie so lautstark die Treppe hinaufgepoltert sind, ist unten eine Droschke vorgefahren. Die junge Lady schien anfangs zu zögern, dürfte aber mittlerweile schon auf dem Weg zu uns sein.“
Wie zur Bestätigung seiner Worte klopfte es in diesem Augenblick an der Tür. Eine junge Frau von nicht ganz dreißig Jahren betrat den Raum und blickte schüchtern zu Boden. Holmes war mit wenigen Schritten bei ihr und begrüßte sie so herzlich, dass ihre Scheu schnell verschwand. Sie stellte sich als Lorraine Highsmith aus Luton vor und begann dann von ihrem Problem zu berichten: „Mr. Holmes, ich scheine vom Pech verfolgt zu sein. Zuerst starb meine geliebte Tante, Lady Highsmith, bei einem Reitunfall. Sie war meine letzte noch lebende Verwandte und Sie können sich gewiss vorstellen, wie sehr mich ihr Tod getroffen hat. Auch wenn sie über keinen großen Besitz mehr verfügte, so hat sie mir doch das Familiengrundstück hinterlassen und es die Jahre über ordentlich gepflegt. Doch offenbar bringt auch das Grundstück kein Glück. Die Beerdigung meiner Tante liegt noch keine Woche zurück und schon wurde bei mir eingebrochen. Der Dieb hat allerdings nur die alte Spieluhr meiner Tante gestohlen und die ist nicht besonders wertvoll. Trotzdem schmerzt der Verlust sehr. Da sonst nichts fehlt, will sich die Polizei nicht weiter mit dem Fall beschäftigen. Deshalb sind Sie meine letzte Hoffnung, Mr. Holmes.“
„Beruhigen Sie sich erst einmal, Miss Highsmith“, sagte ich und schenkte ihr heißen Tee ein. „Trinken Sie das und Sie werden sich besser fühlen.“
Die Frau tat wie geheißen und bat uns, ihr bei der Suche nach der alten Spieluhr zu helfen. Holmes freute sich so sehr über den neuen Auftrag, dass er ohne zu zögern zusagte.

Szenentrenner


Wenig später saßen wir bereits im Zug nach Luton und ließen uns von Lorraine Highsmith den Einbruch noch einmal in allen Einzelheiten schildern.
„Es war gestern Abend. Ich bin relativ früh zu Bett gegangen. Normalerweise habe ich einen festen Schlaf, aber einmal wachte ich auf, weil ich ein dumpfes Geräusch zu hören glaubte. Sie müssen wissen, dass sich mein Schlafzimmer vorn im ersten Stock befindet. Das Fenster, durch das der Dieb einstieg, befindet sich allerdings auf der Rückseite und im Erdgeschoss. Ihn kann ich also gar nicht gehört haben, falls Sie das vermuten sollten. Ich nickte wieder ein, wurde aber wenige Minuten darauf vom Hausmädchen geweckt. Sie erzählte mir von dem Einbrecher und wir haben das Haus gründlich durchsucht. Mein Diener Alberts war ebenfalls schon informiert. Mit ihm zusammen haben wir das Grundstück überprüft und den Stallburschen gefunden. Irgendjemand hatte ihn niedergeschlagen, aber zum Glück war er nicht ernsthaft verletzt. Leider hat er nicht gesehen, wer es gewesen war. Als wir feststellten, dass im Haus etwas gestohlen wurde, haben wir die Polizei benachrichtigt. Der Inspektor notierte sich zwar alles fleißig, viel Hoffnung machte er mir jedoch nicht. Der Dieb ist bestimmt schon über alle Berge, meinte er.“
„Man sollte die Flinte nicht zu früh ins Korn werfen“, sagte Holmes und strich sich nachdenklich über das Kinn.
„Das Zimmer, aus dem die Spieluhr gestohlen wurde, wo befindet sich das?“
„Im ersten Stockwerk. So wie meines. Nur am anderen Ende des Ganges.“
„Wie viele Treppen führen hinauf?“
„Nur eine. Etwa in der Mitte des Ganges.“
Das Anwesen der Highsmiths befand sich einige Kilometer außerhalb von Luton. Es war ein riesiges Grundstück mit einem alten Landhaus, Ställen, einer kleinen Scheune und einer Auslaufkoppel für die Pferde. Die Kutsche fuhr bis direkt vor das Landhaus, wo uns ein drahtiger kleiner Mann mit pechschwarzem Haar erwartete.
„Das ist Manuel, der Stallbursche“, erklärte Lorraine Highsmith. „Reden Sie sehr laut mit ihm, er ist fast taub.“
„Guten Tag“, rief ich und erkundigte mich nach seiner Kopfverletzung.
„Dank, es geht schon wieder, Sir.“
Ich begutachtete die Platzwunde an seinem Hinterkopf und folgte dann Holmes und der Hausherrin ins Gebäudeinnere. Allein die Eingangshalle größer als Holmes` Wohnung in der Baker Street. Ihn jedoch schien dieser Fakt wenig zu beeindrucken. Er inspiziert die Treppe zur ersten Etage und ließ sich dann von Miss Highsmith zuerst ihre Unterkunft und anschließend die der verstorbenen Tante zeigen.
„In diesem Zimmer stand die Spieluhr“, erklärte sie, als wir den Raum am anderen Ende des Flurs erreichten. „Dort drüben auf dem Schrank. Sehen Sie? Meine Tante hatte diese Uhr geliebt und ihr immer den Platz zwischen ihren Lieblingsbüchern reserviert. Ich glaube, sie würde durchdrehen, wenn sie wüsste, dass die Uhr fehlt. Sie hat sie gehütet wie ihren Augapfel.“
Ich versuchte, sie zu beruhigen, während sich Holmes auch weiterhin ungewöhnlich schweigsam verhielt. Er nickte lediglich kurz und widmete sich dann der klaffenden Lücke zwischen den Werken von Poe und Wilde. Einmal runzelte er die Stirn, schien jedoch zu sehr in Gedanken vertieft zu sein, um es selbst zu bemerken.
„Ich glaube, hier oben wären wir so weit fertig“, sagte er schließlich. „Wenn Sie mir nun bitte das Fenster zeigen könnten, durch das der Dieb eingestiegen ist? Sagen Sie, wo sind eigentlich der Diener und das Hausmädchen? Ich würde mich noch gern mit ihnen unterhalten.“
Die junge Frau nickte und bat uns, ihr ins Erdgeschoss zu folgen.
„Patricia müsste in der Küche sein. Ich habe sie vorhin hantieren gehört. Und Alberts dürfte sich bereits auf dem Rückweg von Luton befinden. Nachdem die Polizei weg war, habe ich ihn losgeschickt, um das zerbrochene Fenster reparieren zu lassen. Sicher bringt er bereits den Handwerker zurück.“
Links neben der Eingangshalle befand sich ein kleiner Garderobenraum, an den das Wohnzimmer angrenzte. Gleich als wir das Zimmer betraten, drang uns ein kühler Windzug entgegen. Ich vermutete, dass das kaputte Fenster noch nicht repariert war, irrte aber. Sämtliche Fenster im Raum befanden sich im makellosen Zustand, zwei davon waren lediglich einen Spalt breit geöffnet.
„Oh, das muss Patricia gewesen sein“, vermutete Lorraine Highsmith und rief nach dem Hausmädchen.
Holmes nahm derweil die einzelnen Fenster unter die Lupe und hatte schon nach wenigen Sekunden das richtige gefunden.
„Das ist unglaublich“, sagte Lorraine Highsmith. „Wie haben Sie das so schnell herausgefunden?“
„Dazu bedarf es nun wirklich nicht viel. Nur einer der Rahmen weist Spuren einer nicht lang zurückliegenden Reparatur auf. Abgesehen davon habe ich hier“ – er wies auf eine Stelle neben der Wand – „noch einen kleinen Glassplitter gefunden.“
In diesem Moment erschien das Hausmädchen und eilte sofort zur Wand, um den Splitter zu entfernen.
„Tut mir leid“, sagte sie leise. Miss Highsmith machte eine abwinkende Handbewegung und stellte den Detektiv und mich vor.
„Die beiden Herren würden sich gern mit dir unterhalten. Bitte sag ihnen alles, was du über den Einbruch weißt.“
Patricia nickte und verschwand kurz, um den Glassplitter zu entsorgen. Als sie zurückkehrte, trafen sich Holmes und ihre Blicke für eine Sekunde. Augenblicklich wurde sie noch nervöser als sie es ohnehin schon war.
„Erzählen Sie bitte“, sagte Holmes nachdem sie Platz genommen hatten. Das Hausmädchen warf Lorraine Highsmith einen kurzen Blick zu und räusperte sich dann.
„Es war so gegen zwei Uhr morgens, als ich wach wurde. Zuerst hörte ich nur, wie etwas aus Glas zerbrach. Ich dachte, dass Alberts in der Küche etwas heruntergefallen war und machte mir zunächst keine Gedanken darüber. Als ich dann jedoch Schritte auf dem Gang im ersten Stock hörte, kam mir das seltsam vor. Alberts Zimmer ist im Erdgeschoss. Als ich die Zimmertür öffnete, sah ich, wie ein dunkler Schatten die Treppe hinab in Richtung des Wohnzimmers lief. Gleich darauf hörte ich, wie jemand auf zersplittertes Glas trat. Obwohl ich Angst hatte, ging ich hinab und sah das zerbrochene Fenster. Von dem Einbrecher fehlte zwar jede Spur, aber ich wusste sofort, dass es am besten war, Miss Highsmith zu wecken.“
Die Frau nickte, um die Aussage des Hausmädchens zu bestätigen.
„Den Rest kann Ihnen Alberts gleich erzählen. Er ist gerade eben vorgefahren. Wundern Sie sich nicht über seine Miene. Heute Morgen habe ich ihn gezwungen, mit dem Pferdewagen nach Luton zu fahren, obwohl er kein Tierfreund ist. Aber ich wollte wegen des Fensters keine Zeit verlieren.“
Ich erhob mich, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen und sah, wie ein grauhaariger Mann mit grimmiger Miene zur Vordertür stapfte. Lorraine Highsmith erhob sich und kehrte gleich darauf in Begleitung des Dieners wieder. Der Mann begrüßte uns höflich und folgte der Aufforderung, sich zu uns zu setzen.
„Nun, wissen Sie, als das Fenster zu Bruch ging, habe ich noch fest geschlafen. Erst als ich Schritte auf der Treppe hörte, wurde ich wach. Irgendjemand lief zuerst nach oben und gleich darauf wieder nach unten. Das fand ich merkwürdig. Bis ich mir allerdings etwas übergezogen hatte, hatte der Dieb das Haus bereits verlassen. Ich habe noch gehört, wie er in Richtung der Ställe lief und bin zur Hintertür gegangen. Dort habe ich Miss Highsmith getroffen.“
„Das kann ich bestätigen“, sagte sie sofort. „Wir sind beide gemeinsam nach draußen gegangen und haben den armen Manuel gefunden. Er musste den Einbrecher überrascht haben und wurde deshalb von ihm niedergeschlagen. Wir können von Glück reden, dass er ihm nichts Schlimmeres angetan hat.“
Alberts nickte mit sorgenvoller Miene.
„Ich habe dann natürlich sofort die Polizei und einen Arzt geholt. Gemeinsam haben wir bis zum Morgen das Haus durchsucht, um herauszufinden, was alles fehlt. Als die Leute wieder gegangen waren, haben wir als erstes die Scherben entfernt und dann die Fenstermaße notiert. Anschließend bin ich losgefahren, um aus dem Nachbarort den Handwerker zu holen. Glauben Sie mir, seit dem Einbruch habe ich keine ruhige Minute mehr gehabt. Glücklicherweise hatte der Handwerker nur noch einen Auftrag zu erledigen und kam dann mit mir. Er hat die Scheibe eingesetzt und ich habe ihn zurückgefahren. Das ist alles, was ich darüber weiß.“
„Sie haben den Täter nicht gesehen?“, hakte mein Freund nach.
„Nein, als ich nachschauen wollte, war bereits alles zu spät.“
„Ich schätze, dann sollten wir uns mit dem Stallburschen unterhalten. Vielleicht kann er uns ja weiterhelfen.“
Holmes dankte den Bediensteten für ihre Auskünfte und erhob sich dann. Lorraine Highsmith begleitete uns bis zur Hintertür. Sie wollte gerade zu einem Wort ansetzen, als sie Holmes neugierigen Blick bemerkte. Irgendetwas auf dem Erdboden schien sein Interesse geweckt zu haben.
„Ach, das ist vermutlich nur die Erde, die wir in der Nacht mit hineingebracht haben. Ich werde nachher gleich Patricia bitten, sie aufzukehren.“
Doch es war nicht allein die Erde, die Holmes Interesse geweckt hatte, sondern auch ein gelber Grashalm, der zwischen den Erdresten klebte. Er betrachtete ihn einen Augenblick lang nachdenklich und ließ ihn dann in seine Tasche gleiten.
Manuel war zu den Ställen zurückgekehrt und striegelte die Pferde. Gedankenversunken schaute er auf und wirkte so, als hätte er uns gerade eben erst bemerkt. Erst als Holmes laut zu ihm zu sprechen begann, erinnerte ich mich wieder an seine Fasttaubheit. Während des Trubels im Haus hatte ich das völlig vergessen.
„Ich konnte nicht gut schlafen in der Nacht“, sagte Manuel. „Deshalb bin ich umhergelaufen und habe das Licht im Haus gesehen. Sonst ist dort nachts alles dunkel. Ich wollte nachschauen, ob alles in Ordnung ist. Dann sah ich, dass die Pferde unruhig waren. Normalerweise schlafen sie ebenfalls. Irgendetwas musste sie geweckt haben. Ich wollte nachschauen, als mich plötzlich etwas Hartes am Hinterkopf traf und ich ohnmächtig wurde. Bin erst wieder zu mir gekommen, als Miss Highsmith und Alberts bei mir waren.“
„Also haben Sie den Einbrecher nicht gesehen?“, fragte ich.
Manuel schüttelte entschieden den Kopf.
„Es wäre wohl auch zu schön gewesen.“
„Wer außer Ihnen kennt sich noch in den Ställen aus?“, fragte Holmes.
„Miss Highsmith reitet gelegentlich. Patricia hat im Haus zu viel zu tun. Alberts hasst Tiere und macht deshalb einen Bogen um die Ställe. Aber wenn Sie was über Pferde wissen wollen, fragen Sie mich.“
Holmes lehnte ab und bedankte sich für das Gespräch.
„Das war offenbar auch eine Fehlanzeige“, sagte ich, nachdem wir Manuel verlassen hatten. „Wollen wir jetzt zur Polizeiwache gehen und den Inspektor befragen?“
„Das wird nicht nötig sein. Ich glaube, ich weiß, wie die Sache abgelaufen ist.“
Ungläubig schaute ich ihn an und wusste einen Moment lang nicht, ob er nur einen Scherz gemacht hatte. Doch seine Miene war nach wie vor ernst.
„Und was ist mit der Spieluhr?“, fragte ich.
„Auch da glaube ich mir ziemlich sicher zu sein. Folgen Sie mir ins Haus, Watson. Dort werden wir das Rätsel lösen.“
Lorraine Highsmith beobachtete unsere Rückkehr vom Fenster aus und kam uns entgegen. „Haben Sie schon eine Spur?“
„Das werden wir gleich sehen“, erwiderte Holmes ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
„Führen Sie mich bitte zu Alberts Unterkunft.“
Überrascht hob sie die Brauen, stellte jedoch keine weiteren Fragen.

Szenentrenner


Als wir das Quartier betraten, war der Diener gerade dabei, seine Schuhe zu putzen. Was für mich wie eine ganz normale Arbeit aussah, ließ Holmes erschrocken zusammenfahren. „Keine Bewegung. Das Spiel ist aus!“
Alberts wirkte einen Moment erschrocken, erlangte seine Fassung jedoch ziemlich schnell zurück.
„Ich verstehe nicht, Sir.“
„Ich glaube, Sie verstehen mich sehr gut. Geben Sie mir Ihre Schuhe und ich werde Ihnen zeigen, was ich meine.“
Der Diener zögerte, doch als er den auffordernden Blick seiner Herrin sah, reichte er sie ihm widerwillig herüber.
Holmes nahm sie und lächelte triumphierend. „Sehen Sie diesen Strohhalm? Der hat Sie verraten. Er ist mir gleich bei Ihrer Ankunft aufgefallen. Hier auf dem Boden liegen weitere Halme. Und neben der Hintertür haben wir ebenfalls welche gefunden.“
„Die stammen aus dem Stall, na und?“
„Ich fragte mich, was Sie dort gewollt haben könnten. Ihre Abneigung Tieren gegenüber ist bekannt. Wir wissen, dass Sie deshalb sogar von den Ställen fern bleiben. Das allein macht Sie natürlich nicht verdächtig. Aber der Stallbursche hat erwähnt, dass die Pferde nach dem Einbruch unruhig gewesen sind. Diese Tiere spüren genau, wenn sie jemand nicht mag. Zusammen mit der Erde neben der Hintertür und den Strohhalmen ergibt es schon ein bemerkenswertes Bild. Ich werde Ihnen sagen, wie die ganze Sache abgelaufen ist. Korrigieren Sie mich ruhig, wenn ich falsch liegen sollte.
Sie haben sich letzte Nacht aus Ihrer Unterkunft geschlichen. Eigentlich wollten Sie unbemerkt das Haus verlassen, aber Miss Highsmith hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel. Dann haben Sie das Wohnzimmerfenster eingeschlagen und sind in das obere Stockwerk geschlichen. Das Zimmer der Tante liegt so weit abseits, dass nur jemand, der sich im Haus auskennt, es auf Anhieb finden würde. Sie haben sich die Spieluhr genommen und sind durch das Fenster geflüchtet. Patricia beobachtete Sie dabei und weckte Miss Highsmith. Deshalb brauchten Sie so schnell wie möglich ein sicheres Versteck für die Uhr. Als letzter Ausweg fiel Ihnen der Pferdestall ein, der um diese Zeit verlassen sein müsste. Doch kaum, dass Sie die Uhr dort versteckt hatten, tauchte Manuel auf und Sie mussten ihn niederschlagen, um unerkannt flüchten zu können. Als Sie jedoch zur Hintertür ins Haus zurück wollten, wurden Sie von Miss Highsmith überrascht. Auf dem Boden gibt es Fußspuren, die ins Haus führen. Außerdem war da noch das Stroh. Um nicht aufzufallen, sagten Sie, dass draußen etwas Verdächtiges bemerkt hatten und gingen zusammen mit ihr hinaus.
Ich verstehe allerdings noch nicht ganz, was für ein gesteigertes Interesse Sie an der Spieluhr haben. Gehe ich recht in der Annahme, dass es etwas mit der Erbschaft zu tun hat?“
„Von mir erfahren Sie nichts“, knurrte der Diener und warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Holmes zuckte nur mit den Schultern. „Vielleicht ist das auch gar nicht nötig. Ihre Reaktion ist schon Aussage genug. Miss Highsmith, folgen Sie mir bitte zu den Ställen. Dort werde ich Ihnen Ihre Spieluhr zurückgeben.“
Lorraine Highsmith wusste im ersten Moment gar nicht, wie sie reagieren sollte. Auf der einen Seite waren die Empörung und der Zorn darüber, dass sie ihr eigener Diener bestohlen hatte. Auf der anderen Seite war die Überraschung, dass Holmes ihr die Lösung des Falls so schnell präsentiert hatte. Fassungslos blickte sie zwischen den beiden hin und her und wies den Diener schließlich an, ihr zu folgen. Widerwillig setzte er sich in Bewegung und betrat zusammen mit uns die Ställe. Kaum. dass Alberts sich den Pferden näherte, begannen sie aufgeregt zu wiehern. Sofort wurde auch Manuel auf uns aufmerksam.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Wissen Sie noch, welche der Pferde gestern Nacht unruhig waren?“, fragte Holmes. Der Stallbursche verneinte und in Alberts Gesicht tauchte ein schadenfrohes Lächeln auf.
„Das ist überhaupt kein Problem“, sagte Holmes und das Gesicht des Dieners wurde wieder ernst. Gemeinsam begannen wir den Stall zu durchsuchen und wurden schon nach kurzer Zeit fündig. Ich entdeckte die alte Spieluhr in einer Nische zwischen zwei Strohballen. Das Ziffernglas war etwas verschmutzt, ansonsten schien die Uhr jedoch in einem gutem Zustand zu sein. Lorraine Highsmith seufzte vor Freude, Alberts hingegen brummte etwas Unverständliches vor sich hin. Der einzige, der noch nicht glücklich schien, war mein Freund Sherlock Holmes.
„Reichen Sie mir bitte mal die Uhr, Watson“, bat er mich und nahm das Diebesgut genauer unter die Lupe. Weitere Minuten verstrichen und selbst Alberts konnte sich einige neugierige Blicke nicht verkneifen.
„Es ist ein komplizierter Verschluss“, murmelte der Detektiv. „Aber nicht kompliziert genug.“
Er drückte links einige Tasten und zog gleichzeitig an einem kleinen Hebel auf der rechten Seite. Es klickte leise und auf der Rückseite der Uhr löste sich die Deckplatte. Holmes schob sie zur Seite und zog ein braunes Leinentuch hervor. Anschließend verschloss er die Spieluhr wieder und reichte sie Lorraine Highsmith. Die Freude stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Trotzdem war sie neugierig, zu erfahren, was sich im Inneren der Uhr befunden hatte.
„Das ist ja interessant“, sagte Holmes und entfaltete das Leinentuch. „Eine Karte. Und wenn wir ihr folgen, erfahren wir bestimmt auch, hinter was Alberts wirklich her war.“
Der Diener schaute ihn missmutig an. Kurzzeitig sah es so aus, als ob er flüchten wollte. Doch binnen eines Augenblicks war ich bei ihm und drehte ihm den Arm auf den Rücken.
„Sie gehen nirgendwohin.“
Holmes hatte sich inzwischen mit der Zeichnung auf dem Leinentuch beschäftigt und führte uns zur Rückseite des Hauses. Ich hörte, wie er leise bis zehn zählte und dann zwanzig Schritte lang nach rechts ging. Schließlich stoppte er zwischen einer Reihe von Brombeersträuchern und bat Manuel, ihm zwei Spaten zu bringen.
Lang mussten wir nicht graben, bis wir auf einen harten Holzboden stießen, der sich als kleine Truhe herausstellte. Hastig zogen Holmes und ich sie aus der Erde und wischten den Schmutz von der Oberseite.
„Nun bin ich aber gespannt“, meinte ich und konnte es kaum erwarten, den Inhalt der Truhe zu sehen. Lorraine Highsmith, Manuel und Alberts traten neben uns und schienen ebenso gespannt zu sein. Holmes genoss den Moment ihrer Aufregung eine Sekunde lang und öffnete dann die Truhe.
Eine Reihe erstaunter Ausrufe entfuhr unseren Kehlen, als wir den funkelnden Schmuck sahen.
„Und ich dachte, meine Tante hätte ihn bereits vor Jahren versetzt“, sagte Lorraine Highsmith. „Zumindest hat sie das immer behauptet.“
„Alberts wusste offenbar, dass es nicht so war. Da sich im Nachlass Ihrer Tante kein Hinweis auf den Schmuck befand, er aber wusste, wie sehr sie an der alten Spieluhr hing, zählte er einfach eins und eins zusammen. War es nicht so, Alberts?“
„Das alles wäre nicht passiert, wenn die alte Hexe nicht so knauserig gewesen wäre“, zischte er und versuchte, mit dem Fuß nach der Holzkiste zu treten. „Zwanzig Jahre lang habe ich für sie gearbeitet und was war der Dank dafür? Nichts habe ich bekommen!“
„Das gibt Ihnen noch lange nicht das recht, mich zu bestehlen“, sagte Lorraine Highsmith und funkelte den gescheiterten Dieb wütend an.
„Weshalb hat er die Karte nicht schon früher entnommen?“, fragte ich, während wir alle zum Haus zurückkehrten. Lorraine Highsmith ging vornweg, dicht gefolgt von Sherlock Holmes und mir, die gemeinsam die Kiste trugen. Der Stallbursche und der Diener liefen hinter uns.
„Weil er nicht wusste, was es mit der Spieluhr auf sich hatte. Aber er ahnte wohl, dass sie der Schlüssel zu allem war“, antwortete Holmes. „Vermutlich blieb ihm im Raum der Tante nie genügend Zeit, um sie genauer zu untersuchen.“
Wir betraten das Haus durch die Hintertür und stellten sowohl die Truhe, als auch die Spieluhr auf den Tisch. Es war kein schlechtes Ergebnis für die wenigen Arbeitsstunden.
„Was geschieht jetzt mit Alberts?“, fragte Manuel und schaute abwechselnd zu Lorraine Highsmith und Sherlock Holmes.
„Wir informieren selbstverständlich die Polizei“, erwiderte Miss Highsmith sofort. Holmes nickte zustimmend. „Am besten bereiten Sie gleich den Pferdewagen vor. Ich bin mir sicher, dass Alberts gern ein kleinen Ausritt mit uns unternehmen möchte.“
Holmes und der Stallbursche lachten, doch der Diener wirkte grimmiger denn je. Verdenken konnte ich es ihm nicht.

Szenentrenner


13. Mai. 2008 - Sören Prescher

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