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Erinnyen
von Eva Markert

Crossvalley Smith Crossvalley Smith
© http://www.crossvalley-design.de
Ich erwachte. Bis auf das grünlich fluoreszierende Licht des Weckers war es stockdunkel. Zwei Uhr. Dennoch fühlte ich mich frisch und ausgeruht und stand auf. Geräuschlos bewegte ich mich zur Tür. Ich war so ... so leicht! Fast kam es mir vor, als schwebte ich über dem Fußboden.
Ich konnte es nicht erklären, aber ich hatte das deutliche Gefühl, dass etwas anders war als sonst. Diese Ahnung ließ mich innehalten und zurückblicken. Und da wusste ich, dass tatsächlich etwas nicht stimmte.
In meinem Bett lag jemand.
Irgendwo in meinem Hinterkopf spukte die Frage herum, warum ich nicht erschrak, schrie oder weglief, warum noch nicht einmal mein Herz anfing zu klopfen.
Stattdessen glitt ich zurück zum Bett. Ich hörte keine Atemzüge. Zögernd streckte ich die Hand aus und versuchte, die dunkle Gestalt zu berühren.
Ich griff ins Leere.
Wie Schlangen ringelten sich Locken über das Kopfkissen. Der Mond trat zwischen den Wolken hervor und ließ die blonde Mähne silbrig schimmern. Die Augen in dem bleichen Gesicht waren geöffnet und in den Tiefen der Pupillen spiegelte sich die Mondsichel. Blutige Tränen hatten dunkle Spuren auf den Wangen hinterlassen. Es gab keinen Zweifel mehr: Das bläuliche Licht des Mondes schien auf ein totes Gesicht. Mein totes Gesicht.
Lange stand ich vor dem Bett und starrte auf meine Leiche. Allein. Ich spürte nichts.
Weshalb sah ich kein strahlendes Licht am Ende eines Tunnels, von dem alle berichten, die einmal über die Grenze geschaut haben?
Draußen wurde es hell. Im Garten zwitscherten Vögel. Die Strahlen der Morgensonne fielen auf das wächserne Gesicht und ließen mein rotes Seidennachthemd aufleuchten.
Der Wecker klingelte. Gewohnheitsmäßig wollte ich ihn abstellen, doch ich konnte den Knopf nicht hinunterdrücken und er schrillte weiter.
Ich trat ans Fenster. Darunter blühte ein Rosenstrauch, den Sonja und ich zusammen gepflanzt hatten. Ich wusste, dass die Blüten einen herrlichen Duft verströmten, der bis in mein Zimmer drang. Doch er wurde von etwas überdeckt: meinem eigenen Geruch. Ich stank.
Irgendwann verstummte der Wecker. Ich wartete noch immer und nichts geschah. Erst nach und nach wurde mir klar, warum ich nicht gehen konnte. Ich hatte noch etwas zu erledigen. Erst dann würde ich sie wiedersehen. Sonja, meine Kleine. Meine über alles geliebte Tochter.

Ein Gedanke, und ich stand an seinem Bett. Grelle Sonnenstrahlen bohrten sich durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Er schlief fest, atmete tief und gleichmäßig. Ekel schüttelte mich. „Selbst im Schlaf“, dachte ich, „sieht er selbstzufrieden aus.“
Er verzog sein feistes Gesicht, grunzte leise und rollte sich auf die Seite.
Meine Augen verengten sich zu Schlitzen und meine Lippen formten wie von selbst die Worte: „Verflucht sollst du sein, Erwin Müllejan! Verfolgen werde ich dich bis ans Ende deiner Zeit und darüber hinaus.“
Als ob er mich gehört hätte, fuhr er hoch. Ein Knopf seiner Schlafanzugsjacke war abgerissen und ich sah seine weiße, behaarte Brust.
„Ich werde der böse Geist deines Lebens sein“, schwor ich, „und der böse Geist deines Todes.“
Er wälzte sich aus dem Bett. Mit Abscheu beobachtete ich, wie er sich ankleidete: blütenreines Hemd, ein perfekt sitzender Anzug auf dem schweißfeuchten Leib, farblich darauf abgestimmte, ungewaschene Socken mit dünnen Stellen an den Zehen. Das war Erwin Müllejan: nach außen hin schöner Schein, doch hinter der Fassade nichts als Schande.
Er verließ das Schlafzimmer. Wie eine tückische Bö wirbelte ich hinter ihm her. Als würde er es fühlen, blickte er sich um, bevor er die erste Stufe der steilen Holztreppe nahm.
Ich konnte mich nicht mehr bezähmen, brüllte und nahm Anlauf, um ihm meine Fäuste in den Rücken zu rammen. Doch ich spürte ihn nicht. Unbeschadet erreichte er das Erdgeschoss und trat in die Küche.
Mein hasserfülltes Knurren erfüllte den Raum. Ein kalter Luftzug bauschte die Gardine.
Ich ließ Müllejan nicht aus den Augen, während er sein Frühstück zubereitete. Er gab einen Schuss Whiskey in seine Kaffeetasse und seufzte zufrieden, nachdem er einen Schluck von dem Gebräu genommen hatte.
„Du bist Ungeziefer“, zischte ich, „du verunreinigst das Angesicht der Erde.“
Genussvoll biss er in sein Marmeladenbrötchen. Von ganzem Herzen wünschte ich, dass ihm der Bissen im Hals stecken bleiben würde. Hoffnung durchzuckte mich, als er sich tatsächlich verschluckte. Ich fixierte ihn, während er nach Luft rang, doch nach kurzer Zeit räusperte er sich und atmete ruhig weiter. Es war vorbei.
In ohnmächtiger Wut sah ich mich um. Mein Blick fiel auf ein langes Fleischermesser. In einem heißen Luftstrom schoss ich darauf zu. Ich wollte es ihm in den Leib rammen, wollte sehen, wie sich das weiße Hemd scharlachrot färbte, ich wollte ihn in Stücke hacken, seine Organe auf den Küchenfliesen zertreten. Doch meine Finger fanden keinen Halt an dem Schaft.
Entmutigt kauerte ich mich in eine Ecke. Mit aller Kraft sehnte ich ein Beil herbei - und da schwebte es plötzlich vor mir. Ich riss es an mich, es war wirklich da! Deutlich spürte ich den Holzgriff in meiner Hand, sah das Metall des Blattes in der Morgensonne aufblitzen.
Mit einem Satz war ich bei Müllejan und hieb auf ihn ein. Ich kreischte, während das Beil wieder und wieder auf seinen Schädel niedersauste. Doch er zuckte nicht einmal.
Ich ließ das Beil fallen. Noch ehe es den Boden berührte, verflüchtigte es sich. Aber nun wusste ich, dass meine Gedanken schöpferische Kraft hatten. Irgendwann würde ich es schaffen, mir dies zunutze zu machen.
Müllejan warf einen Blick auf die Uhr und stand auf. Ich heftete mich an seine Fersen, folgte ihm wie ein böser Schatten.
Das gelbe dreistöckige Gebäude, auf das er zusteuerte, kannte ich nur allzu gut. Ich hatte es einige Male betreten, damals, als sie meine Sonja ... bis sie ...
Wie ein Pfau stolzierte Müllejan den Gang entlang, der zu seinem Büro führte, grüßte huldvoll nach allen Seiten, ein erbärmlicher Herrscher in seinem armseligen Reich.
Der Hass in mir blähte sich auf, strömte aus mir heraus und umfloss ihn.
Er nahm an seinem imposanten Schreibtisch Platz. Ich hockte mich direkt vor ihn auf die Tischplatte und sammelte mich. Meine Gedanken schufen ein Feuer, das in einer Ecke des Raumes aufloderte. Ich sah die züngelnden Flammen, den schwarzen Rauch, roch den Brandgeruch, hörte das Knistern und Krackeln. Rasend schnell fraßen sich die Flammen auf Müllejan zu. Doch mein Freudenschrei erstickte, als er mitten in das Feuer hineingriff und ein Dokument zur Hand nahm, das lichterloh brannte. Die züngelnden Flammen – sie existierten nicht für ihn! Mit einem Schlag verloschen sie und ich begriff: Mein Gedankenfeuer konnte Müllejan nichts anhaben. In hilflosem Zorn jaulte ich auf und ballte die Fäuste. Doch nein! Ich würde nicht aufgeben. Nie, niemals, nie und nimmer! Erwin Müllejan sollte büßen. Ich musste es nur stark genug wollen.
Ich beobachtete ihn. Seine Auftritte waren widerwärtig perfekt. Er mimte den engagierten Schulleiter, den Pädagogen aus Leidenschaft, dem das Wohl seiner Schüler über alles ging. Aber mich konnte er nicht täuschen, mich nicht! Ich wusste genau, wen ich vor mir hatte: einen Selbstdarsteller und Blender, eine durch und durch jämmerliche Kreatur. Es war so ungerecht! Er lebte weiter, als wäre nichts geschehen, und meine Tochter war tot. Ja, auch durch seine Schuld. Durch seine Schuld. Durch seine große, große Schuld. In diesem hässlichen Schulgebäude hatte man sie verhöhnt, beschimpft, verspottet, hier war sie gejagt worden, verfolgt, gequält, und alle, alle ließen es geschehen. Vor allem Müllejan. Er half ihr nicht, ließ mein kleines Mädchen allein in seiner Not. Und hinterher, da log er und leugnete, dieser Feigling, nur um über sein Versagen hinwegzutäuschen. Behauptete sogar, es wäre ihre eigene Schuld gewesen. Er ging über Leichen, im wahrsten Sinne des Wortes, um seinen verdammten Ruf und den dieses elenden Schlangenlochs zu schützen.
Als Müllejan das Schulgebäude verließ, stellte ich ihm wieder nach. Mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, wünschte ich ihn unter einen heranrasenden Bus, stellte mir vor, dass nichts von ihm übrig blieb als eine breiige, blassrosa Masse auf dem Asphalt. Wie das, was von meiner Sonja übrig geblieben war. Ein Unfall, hatte die Polizei gesagt. Aber ich weiß es besser. Vierzehn war sie, als sie sich vor den Bus warf, um ihren Verfolgern zu entkommen. Weil sie die Verachtung, die Fausthiebe und Fußtritte, diese tägliche Angst nicht länger ertragen konnte.
Vom Friedhof habe ich Müllejan gejagt, wie einen räudigen Köter, als er es wagte, zur Beerdigung zu erscheinen. Die geheuchelte Betroffenheit in seinem Gesicht war mehr, als ich ertragen konnte.
Drei Jahre ist das nun her. Schon lange spricht niemand mehr von Sonja. Als ob es sie nie gegeben hätte. Auch ich bin nun tot. Aber mich gibt es noch. Und ich habe nichts vergessen. Gar nichts!

In der Nacht stand ich wieder an seinem Bett. Er schlief. Mein Hass zerriss mich fast. „Sonja!“, keuchte ich, „Sonja!“
Mit einem gewaltigen Satz sprang ich auf Müllejans Brust und begann, auf ihn einzudreschen. „Hilf mir, mein Kind“, hechelte ich, „hilf mir!“
Unmenschliche Kräfte wuchsen in mir. Ich steigerte mich in einen rasenden Trommelwirbel, meine Fäuste prasselten auf ihn nieder. „Stirb! Stirb! Stirb! ...“
Zunächst nahm ich das dumpfe Stöhnen nur am Rande war. Erst als er die Nachttischlampe einschaltete, hielt ich für einen Moment inne. Schweiß perlte auf seiner Stirn, er griff sich an die Brust, rang nach Luft. Mit hervorquellenden Augen starrte er mich an.
Konnte er mich sehen? Ich blickte an mir herunter. Feuer loderte in meinem Innern und erfüllte die nebelhaften Umrisse meiner Gestalt mit einem roten Flackern.
Ein heiseres Bellen entrang sich meiner Kehle. Wieder ballte ich die Fäuste, hämmerte auf ihn ein.
Er röchelte.
Ich lachte. Flammen leckten aus meinem Mund.
Noch einmal bäumte er sich auf, dann brach er unter mir zusammen.
Mit einem wilden Triumphschrei riss ich die Arme hoch.
Und plötzlich war sie da, meine Sonja, ganz dicht an meiner Seite. Sie glühte von innen, genauso wie ich.
Wir nahmen uns bei der Hand. Gemeinsam sahen wir zu, wie Erwin Müllejan starb und sich aus seinem Körper erhob: eine leere Hülle, durchsichtig wie eine Wasserblase.
Wir stellten uns ihm in den Weg - zwei Wesen, aus Feuer gemacht -, blickten uns kurz in die blutunterlaufenen Augen.
Und dann, dann hetzten wir ihn.

20. Sep. 2008 - Eva Markert

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